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Vorheriges Kapitel: 1. Kinship als Forschungsfeld
Contents
2. Was ist Verwandtschaft?
Verfasst von Wolfgang Kraus
Wenn wir an Verwandtschaft denken, dann stehen für die meisten von uns emotionale Aspekte im Vordergrund. Verwandte liegen uns am Herzen; Verwandtschaft und Familie bieten emotionalen Rückhalt, werden aber manchmal auch als einengend empfunden. In den kultur- und sozialanthropologischen Kinship Studies haben – im Einklang mit den jeweils dominierenden Paradigmen – andere Aspekte als diese emotionalen mehr Beachtung gefunden. In der britischen funktionalistischen Tradition spielten die sozialen und rechtlichen Dimensionen von Verwandtschaftsverhältnissen und deren Bedeutung in der gesellschaftlichen Gesamtstruktur eine zentrale Rolle, während in der stärker kulturell orientierten USamerikanischen Anthropologie z.B. die begriffliche Klassifikation von Verwandten in terminologischen Systemen ein Thema war, auf das man immer wieder zurückkam.
Generell haben sich die AnthropologInnen vor allem mit den räumlich und zeitlich sehr variablen kulturellen Auffassungen und sozialen Erscheinungsformen von Verwandtschaft beschäftigt. Im Mittelpunkt der Kinship Studies standen meist die Unterschiede, sei es in der eingehenden Auseinandersetzung mit dem spezifischen ethnographischen Einzelfall oder in der Formulierung von Typologien, in die sich verschiedene Fälle einordnen ließen. In der klassischen Sichtweise des Faches, die einen Großteil des 20. Jh. dominierte, bestand Verwandtschaft in den sozialen Beziehungen, die sich aus der kulturspezifischen Ausdeutung der Zusammenhänge menschlicher Reproduktion und institutionalisierter Sexualpartnerschaft ergaben. Daher ging es nicht um genetische oder biologische Zusammenhänge, die ja universell dieselben sind, sondern um ein Verständnis der unterschiedlichen kulturellen Konzeptionen und Praktiken konkreter Gesellschaften.
Das Verhältnis von Biologie und Kultur [> 2.1], das für das Fach einst klar erschien, ist allerdings neu problematisiert worden, seit ab den 1970er Jahren kritische Stimmen einwendeten, dass die scheinbar kulturell neutrale genealogische Perspektive der Kultur- und Sozialanthropologie einen eurozentrischen biologistischen bias aufweise. Sie beruhe auf kulturellen Annahmen über die biologische Grundlage von Verwandtschaft, die in manchen anderen Gesellschaften keine Entsprechung hätten [> 4.1]. Ob ein Verständnis verwandtschaftlicher Konzeptionen und Praktiken nur in der internen Logik des jeweiligen kulturellen Kontextes möglich ist oder ob es auf der Basis universell anwendbarer komparativer Konzepte erlangt werden kann, das ist die große Frage, der sich die Kinship Studies heute nicht mehr entziehen können.
Inhalt
2.1 Biologie und Kultur
Nahezu seit den Anfängen der Kinship Studies stimmen die allermeisten AnthropologInnen darin überein, dass die Anthropologie der Verwandtschaft sich mit den sozialen und kulturellen Aspekten von Verwandtschaftsverhältnissen zu beschäftigen habe und nicht mit den objektiven biologischen Zusammenhängen. Für Morgan und seine Zeitgenossen [> 3.1] waren die familiären Beziehungen, deren gesellschaftliche Rolle sie entdeckten, noch unmittelbar durch die biologische Reproduktion bestimmt (dies ist zumindest Schneiders Lesart [1984: 97–99], aber vgl. van der Grijp 1997: 103).
Aber schon 1898 kam Durkheim zu dem Schluss, dass Verwandtschaft (parenté) und biologische Abstammung (consanguinité) zwei sehr verschiedene Dinge seien (1898: 316). Verwandtschaft bestehe aus rechtlichen und moralischen Verpflichtungen – sei also sozialer Natur und habe nur einen losen Zusammenhang mit den Tatsachen der biologischen Abstammung (Durkheim 1898: 316 f.; vgl. Schneider 1984: 99–101). Auf ähnliche Weise argumentierte Van Gennep 1906. Er etablierte die Unterscheidung zwischen parenté physique und parenté sociale, die sich weithin durchsetzte (vgl. Holy 1996: 14; Schneider 1984: 101, 104 f.).
Diese Unterscheidung wird aufgenommen in der ebenfalls gängigen Differenzierung zweier Aspekte von Vaterschaft: der soziale Vater wird Pater genannt, der physische Vater (der mit dem sozialen Vater identisch, aber auch eine andere Person sein kann) heißt Genitor. Da beim Vater der physische Zusammenhang mit Ego meist weniger evident ist als bei der Mutter – Schwangerschaft und Geburt sind gewöhnlich eher beobachtbar als Zeugung – wurde diese Unterscheidung zunächst für die Vaterschaft getroffen. Analog dazu wurden dann auch die Begriffe Mater und Genetrix etabliert, die die sozialen bzw.physischen Aspekte der Mutterschaft betreffen (vgl. Parkin 1997:14). Diese Unterscheidungen sind grundsätzlich wertvoll, man muss sich aber vor Augen halten, dass die Bedeutung der physischen Elternschaft in verschiedenen Gesellschaften sehr unterschiedlich angesetzt wird und dass im Extremfall der Zusammenhang zwischen Ego und seinem/ihrem Genitor weitgehend oder völlig irrelevant angesehen werden kann.
Die begriffliche Opposition von physischer und sozialer Verwandtschaft, die im allgemeinen Verständnis den Gegensatz von Biologie und Kultur reflektierte, wurde durch Barnes (1961) noch erweitert: Physische Verwandtschaft bezieht sich nach ihm nicht auf die objektiven biologischen Fakten, sondern das soziale und kulturelle Wissen über diese Zusammenhänge und die davon abhängigen Annahmen über die Vaterschaft. Der Genitor ist nicht der „genetische Vater“; er ist der Mann, der von anderen aufgrund ihres Wissens und ihrer kulturellen Theorien über den Prozess der Fortpflanzung für den physischen Vater gehalten wird. Sowohl soziale als auch physische Verwandtschaft sind also sozial und kulturell konstituiert; keine dieser Kategorien ist identisch mit biologischer Verwandtschaft. Da sich die kulturellen Theorien über die menschliche Fortpflanzung unterscheiden, gibt es nicht in allen Gesellschaften einen Genitor. Viele emische Fortpflanzungstheorien gehen von einem einzelnen Genitor aus. In manchen Fällen (etwa bei den Ifugao auf den Philippinen) wird angenommen, dass ein Kind auch mehrere Genitoren haben kann (Barnes 1961: 297 f.).
Die Sichtweise, dass Verwandtschaft im wesentlichen sozialer oder kultureller Art und nicht durch biologische Universalien bestimmt sei, etablierte sich also bereits in der Frühzeit der Kultur- und Sozialanthropologie, selbst wenn dieser Konsens genügend Raum für divergierende Vorstellungen und Debatten über die konkreten Zusammenhänge zwischen physischer und sozialer Verwandtschaft ließ.
Eine breite theoretische Diskussion löste Ernest Gellner (1957) mit seinem Versuch aus, das philosophische Konzept einer Idealsprache am Beispiel der Verwandtschaft und ihrer Betrachtung durch die Anthropologie zu illustrieren. Dabei nahm er auf die Zusammenhänge zwischen Biologie und sozialer Verwandtschaft und deren „admittedly incomplete ... overlap“ (Gellner 1957: 236) Bezug, was eine Reihe von Fachvertretern zu kritischen Stellungnahmen veranlasste (u.a. Barnes 1961; 1964; Needham 1960; Beattie 1964; vgl. Gellner 1960; 1963).
Eine länger andauernde und mehr empirisch orientierte Debatte beschäftigte sich mit der Frage der angeblichen Unkenntnis der physischen Vaterschaft, die spekulativ von Bachofen (1861), Morgan (1877) und anderen Vertretern des klassischen Evolutionismus für die ersten Entwicklungsstufen der menschlichen Familie behauptet wurde. Ihre Spekulationen schienen sich in den Ethnographien bestimmter Ethnien zu bestätigen, z.B. jenen australischer Aborigines oder der Trobriander (Malinowski 1929). Die „Virgin Birth Debate“ über die richtige Interpretation entsprechender ethnographischer Berichte flackerte über Jahrzehnte hindurch immer wieder auf (z.B. Leach 1966; Delaney 1986; für einen Überblick s. Barnard & Good 1984: 170–172).
Unabhängig von solchen Debatten war man sich seit langem klar darüber, dass diverse ethnographisch belegte kulturelle Erscheinungsformen von Verwandtschaft keinerlei biologische Grundlage hatten: „In some societies a woman may so far acquire masculine status as to marry a woman, of whose children(begotten by a proxy male lover) she is the social father and thus figures in genealogies. ... There are also societies in which a man may assume feminine status and become the wife of a man, and even claim to bear children with supernatural aid“ (Needham 1960: 99). Trotzdem konnte Schneider rückblickend feststellen: „the ultimate reference [for kinship] remained biological“ (1984: 54). Dies begann sich erst ab den 1970er Jahren zu ändern.
2.2 Grundlegende anthropologische Perspektiven
Wenn wir umgangssprachlich z.B. von der „Mutter-Kind-Beziehung“ sprechen, so umfasst diese genau genommen zwei Beziehungen: aus dem Blickwinkel des Kindes jene zu „meiner Mutter“, aus dem Blickwinkel der Mutter jene zu „meinem Kind“. Daraus folgt, dass – auf den ersten Blick vielleicht irritierend – im genealogischen Sinn Mutter oder Tochter bzw. Sohn nicht Personen sind, sondern Beziehungen. Erst in zweiter Linie bezeichnet Mutter die Person, die zu einer konkreten anderen Person in dieser Beziehung steht. Der Begriff der Beziehung ist allerdings uneindeutig, wie wir eben gesehen haben. Im Interesse sprachlicher Präzision sprechen wir daher besser von einer Verbindung (etwa zwischen Mutter und Kind), wenn wir nicht den Blickwinkel einer konkreten Person einnehmen. Wenn wir dagegen von einem konkreten Bezugspunkt – etwa dem Kind – ausgehen, dann ist „meine Mutter“ ein verwandtschaftliches Verhältnis. (Dies ist auch der eigentliche Bedeutungsgehalt des englischen relation oder relationship, das oft als „Beziehung“ übersetzt wird.) Beziehung wäre dann der Überbegriff zu Verbindung und Verhältnis.
Da jedes Verwandtschaftsverhältnis den Blickpunkt einer konkreten Person voraussetzt, hat es sich in der Kultur- und Sozialanthropologie eingebürgert, von jener Person, von der ausgehend ein Verwandtschaftsverhältnis betrachtet wird, als Ego (lat. „ich“) zu sprechen. Die jeweils andere Person wird Alter genannt (lat. „der andere“). In anthropologischer Sicht ist Verwandtschaft ganz entscheidend durch diesen relativen Aspekt gekennzeichnet: Eine genealogische Position wie z.B. Vaterbruder (d.h. Bruder des Vaters) ist ein Verhältnis, das von einem konkreten Ego ausgeht. Mit einem Wechsel des Bezugspunktes ändern sich die Verwandtschaftsverhältnisse. Jedes Verwandtschaftsverhältnis betrifft also primär zwei Personen, Ego und das jeweilige Alter.
Manchmal wird durch Groß-/Kleinschreibung zwischen männlichem EGO und weiblichem ego unterschieden. Ein geschlechtsneutraler Bezugspunkt wird dann Ego geschrieben (vgl. Fischer 1996: 163).
Die konventionelle formale Sichtweise von Verwandtschaft und deren deskriptive Darstellungen gehen in der Regel davon aus, dass es zwei Grundarten „eigentlicher“, d.h. genealogisch basierter verwandtschaftlicher Verbindung gibt: die auf Abstammung beruhende Blutsverwandtschaft [> 6.1.1], sowie die auf Heirat beruhende Affinalverwandtschaft [> 6.1.2]. Dazu kommt – wenigstens im heutigen Verständnis – als dritte noch die nichtgenealogische Verwandtschaft [> 6.1.3].
Aus den genealogischen Grundarten verwandtschaftlicher Verbindung ergeben sich zwei Grundverbindungen: Filiation sowie Ehe. Beide bilden sozusagen „Verhältnisbündel“, weil sie jeweils mehrere Verwandtschaftsverhältnisse umfassen. Filiation lässt sich differenzieren in Patrifiliation und Matrifiliation. Patrifiliation bezeichnet die Verbindung zwischen Vater und Kind und umfasst die Verhältnisse Vater sowie Tochter bzw. Sohn (von einem männlichen Ego aus gesehen). Matrifiliation bezeichnet die Verbindung zwischen Mutter und Kind und umfasst die Verhältnisse Mutter sowie Tochter bzw. Sohn (von einem weiblichen Ego aus gesehen). Ehe umfasst die Verhältnisse Ehemann sowie Ehefrau.
Wenn für definitorische Zwecke [> 2.3] diese beiden Grundverbindungen ausreichen, so kommt für deskriptive Zwecke meist noch eine dritte hinzu: die Geschwisterschaft. Aus jeder dieser drei Grundverbindungen ergeben sich mindestens zwei Verhältnisse, die sich nach dem Geschlecht der beteiligten Personen sowie nach der Beziehungsrichtung unterscheiden. Es ergeben sich so insgesamt acht Verhältnisse, nämlich Vater, Mutter, Sohn, Tochter, Ehemann, Ehefrau, Bruder, Schwester. Dies sind die sogenannten primary kin types (bei Fischer 1996: 156 „primäre genealogische Relationen“ genannt). Sie sind im konventionellen Verständnis die grundlegenden genealogischen Verhältnisse, aus denen sich die Kernfamilie aufbaut. Die Kernfamilie [> 6.3] wurde vielfach als universale Institution und als kleinste soziale Einheit verstanden (so etwa bei Murdock 1949). Diese eindeutig eurozentrischen Annahmen sind heute zu Recht ad acta gelegt worden.
Der eurozentrische Charakter scheinbar neutraler formaler Sichtweisen wird auch an der Konzeption der Geschwisterschaft sichtbar. Das Verhältnis Egos zu Schwester oder Bruder lässt sich aus dem Umstand ableiten, dass sie von gemeinsamen Eltern oder zumindest – im Fall von Halbgeschwistern – von einem gemeinsamen Elternteil abstammen. Es kann also auch als Ergebnis von Filiation verstanden werden, das je nach den konkret gegebenen Verwandtschaftsbeziehungen unterschiedlich ausfällt. Wenn die Geschwisterschaft als eindeutige Grundverbindung angenommen wird, so erhebt dies das überkommene europäische Modell der dauerhaften monogamen Kernfamilie zur absoluten Referenz und erklärt damit andere Familienformen zu partikularen Einzelfällen.
2.3 Eine Definition von Verwandtschaft
Eine anthropologische Definition von Verwandtschaft sollte danach trachten, den konstruierten Charakter verwandtschaftlicher Beziehungen und die mögliche Variationsbreite der damit verbundenen kultureller Konzeptionen im Auge zu behalten. Es ist allerdings schwierig, eine umfassende Begriffsdefinition zu geben, die nicht entweder eine bestimmte Vorstellung von Verwandtschaft gegenüber anderen privilegiert oder aber tautologisch bleibt (d.h. das bereits voraussetzt, was sie zu definieren vorgibt).
Die tautologische Begriffsbestimmung lautet in ihrer logischen Minimalform: Verwandtschaft ist, was (von bestimmten Menschen in einem konkreten Kontext) als Verwandtschaft gehandhabt wird. Dies belässt zwar den handelnden Personen und ihren jeweiligen kulturellen Konzeptionen die Definitionsmacht, ist aber, so deutlich auf den Punkt gebracht, offensichtlich absurd. Tautologische Elemente sind aber in manchen definitorischen Versuchen erkennbar. So etwa, wenn Robin Fox einen kulturell variablen Begriff von Blutsverwandtschaft zu etablieren versucht: „A consanguine is someone who is defined by the society as a consanguine...“ (Fox 1967: 34). Wenn man ein kulturrelativistisches Verständnis von Verwandtschaft zu Ende denkt, kommt man letztlich zu der Position, die David Schneider (1984) am einflussreichsten vertreten hat: Verwandtschaft kann nicht definiert werden, da sie abseits partikularer kulturspezifischer Auffassungen nicht existiert [> 4.1].
Jene, die an der Möglichkeit einer komparativ handhabbaren Definition von Verwandtschaft festhalten, gründen diese oft weiterhin auf genealogische Beziehungen. Sie riskieren daher auch nach Schneiders Kritik [> 4.1] die Gefahr einer kulturell voreingenommenen Perspektive. Sie distanzieren sich von einer biologistischen Sicht der Verwandtschaft, vertreten aber nach wie vor ein an der menschlichen Reproduktion anknüpfendes Verständnis von Verwandtschaft. Dieses versteht sich als kulturübergreifend, harmoniert jedoch (wie Schneider gezeigt hat) weitgehend mit euroamerikanischen kulturellen Konzeptionen, für die die Natur der menschlichen Fortpflanzung die Basis von Verwandtschaft bildet.
Stellvertretend sei hier die Definition von Linda Stone zitiert:
„Kinship is the recognition of a relationship between persons based on descent or marriage. If the relationship between one person and another is considered by them to involve descent, the two are consanguineal (‚blood‘) relatives. If the relationship has been established through marriage, it is affinal“ (Stone 1998: 5, Hervorhebung orig.).
Diese Definition verbleibt somit im konventionellen Rahmen eines engen genealogischen Verständnisses von Verwandtschaft. Was sie von manchen älteren Definitionen unterscheidet, das ist der Hinweis auf die kulturell geprägte Auffassung der Akteure. Anzumerken ist noch, dass alle konventionellen Definitionen eine Definition der Ehe voraussetzen, die mindestens ebenso schwierig ist wie jene der Verwandtschaft [> 6.1.2].
2.4 Umfassendere Definitionen
Die Definition Linda Stones (1998: 5) [> 2.3] geht nicht nur weiterhin von einem genealogisch basierten Verständnis von Verwandtschaft aus; sie schließt auch jene nichtgenealogischen Beziehungen aus (oder zumindest nicht explizit ein), von denen man sagen könnte, dass sie einem Modell genealogischer Beziehungen folgen. Dazu zählen etwa die Adoption oder die im arabischen Raum verbreitete Milchverwandtschaft [> 6.1.3]. Eine erweiterte Formulierung könnte daher folgendermaßen lauten:
Eine Verwandtschaftsbeziehung ist eine Verbindung zwischen zwei Personen, die in der Wahrnehmung der Betroffenen in Abstammung oder Heirat (oder in einer Kombination beider) begründet ist, oder aber eine zu solchen Beziehungen analog gedachte Verbindung, die mit diesen mehr oder weniger gleichgesetzt wird.
Diese Definition hat gegenüber anderen den Vorteil, dass sie auch konkrete kulturspezifische Erscheinungsformen von Verwandtschaft wie die erwähnte Milchverwandtschaft mit einschließt. Erkauft wird dies um den Preis einer verhältnismäßig geringen Trennschärfe: Die Definition sagt uns in den Randbereichen nicht eindeutig, ob eine konkrete soziale Beziehung in den Bereich der Verwadtschaft fällt oder nicht.
Kritisch dagegen einwenden könnte man weiters, dass sie – in der Sicht Schneiders und jener, die ihm folgen – in einer konventionellen, wenn auch erweiterten, genealogischen Sichtweise verbleibt und so weiterhin das euroamerikanische kulturelle Verständnis von Verwandtschaft verabsolutiert. Dieses Verständnis wird zwar, wie manche kontra Schneider hervorgehoben haben, vielen Gesellschaften und deren kulturellen Vorstellungen gerecht (vgl. Kuper 1996: 442), aber eben keinesfalls allen [> 4.4].
Daher haben AnthropologInnen in den letzten Jahrzehnten nach anderen Definitionsmöglichkeiten gesucht, die dann freilich den Vorwurf mangelnder Trennschärfe in noch höherem Ausmaß verdienen. Barnard & Good (1984: 187–189) nehmen dies bewußt in Kauf, indem sie eine „polythetische“ Definition vorlegen, also eine Definition, die Ähnlichkeiten von Phänomenen erfasst, aber keine eindeutige Grenzziehung erlaubt. Sie halten zwölf Merkmale von Verwandtschaft fest, die nicht notwendigerweise gemeinsam auftreten müssen. Eine Beziehung ist dann verwandtschaftlicher Art, wenn sie „einige“ dieser Merkmale aufweist. Überdies wäre es, so Barnard & Good, auch möglich, weitere Merkmale aufzulisten, die Verwandtschaft ebenso gut charakterisieren.
We tend ... to describe in terms of „kinship“ any relationship which:
- is ascribed by birth and persists throughout life;
- is initiated by „marriage“ (which itself needs to be polythetically defined ...);
- is explained or justified in terms of a biological idiom;
- is invested, by its mere existence, with certain expectations regarding the conduct of both parties;
- assigns the parties to an „in“ group or category, in opposition to persons not so assigned;
- involves the use of relationship terms in a reciprocal, systematic way („relationship term“, too, requires polythetic definition ...);
- involves members of a single domestic unit or household;
- involves systematic, enduring relationships between members of different domestic units or households;
- entails the joint ownership or use, and/or the serial inheritance, of property and resources;
- serves as a medium for assigning hereditary social positions or offices;
- involves the nurture and upbringing of small children;
- involves the making of prestations without expectation of immediate or direct return (Barnard & Good 1984: 188 f.).
Diese Merkmale enthalten, wie zu erwarten, dass Beziehungen durch Geburt zugeschrieben (i) oder durch Heirat initiiert werden (ii), dass sie z.B. den systematischen reziproken Gebrauch von Verwandtschaftstermini beinhalten (vi) oder dass sie gemeinschaftlichen Besitz oder die Vererbung von Eigentum und Ressourcen nach sich ziehen (viii). Genannt werden aber auch so diffuse Merkmale wie das Bestehen gewisser Verhaltenserwartungen (iv), die Pflege und das Aufziehen kleiner Kinder (xi) und die Erbringung von Leistungen ohne die Erwartung, dass diese unmittelbar erwidert werden (xii).
Entsprechend stellt Ladislav Holy dazu fest: „However, their ‚polythetic‘ definition of kinship is so wide that virtually any relationship could be classified as kinship if one so wished“ (Holy 1996: 169). Dem Anliegen,eine komparative Kategorie „Verwandtschaft“ aufrechtzuerhalten, ist mit dieser Vorgangsweise kaum gedient.
Andere haben, von demselben Anliegen motiviert, versucht, eine neue Überkategorie für verschieden geartete kulturelle Auffassungen von verwandtschaftlichen Beziehungen zu konzeptualisieren, die nicht ein enges genealogich basiertes Verständnis privilegiert. Sie verwenden dafür den bewusst diffusen Begriff der relatedness (Carsten 1995; 2000), der sich jedoch derselben Kritik aussetzt: „... the concept of relatedness does not specify what precisely ‚relatedness‘ is meant to involve, how it is to be defined and how it should be distinguished from any other kind of social relationship“ (Holy 1996: 168). Es ist daher nicht dafür geeignet sicherzustellen, dass Gleiches mit Gleichem verglichen wird (Stone 2001).
Als eine zeitgemäße Konzeptualisierung der analytischen Kategorie Verwandtschaft schlägt Holy eine Formulierung von Raymond C. Kelly (1993) vor, die im Abschnitt 4.4 besprochen wird (Holy 1996: 170 f.). Sie leistet das, was den anderen hier genannten Definitionen nicht gelingt: Verwandtschaft als eine für komparative Zwecke identifizierbare Art sozialer Beziehungen aufrechtzuerhalten, ohne dabei auf die genealogischen Verbindungen von Abstammung und Ehe zu rekurrieren.
Nächstes Kapitel: 3. Geschichte der Kinship Studies