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Contents
2.3 Nicht-positivistische wissenschaftstheoretische Ansätze in den Geistes- und Sozialwissenschaften
Nicht-positivistische wissenschaftstheoretische Ansätze in den Geistes- und Sozialwissenschaften speisen sich aus unterschiedlichen philosophischen Überlegungen und Traditionen. Dazu zählen Wilhelm Dilthey’s lebensphilosophische Überlegungen zur Konzeption der Geisteswissenschaften als eigenen Zuständigkeitsbereich und deren historisch hermeneutische methodische Ausrichtung in Abgrenzung zu den Naturwissenschaften. Im Gegensatz zu nomothetisch ausgerichteten erklärenden Naturwissenschaft konzipiert er die Geisteswissenschaften als idiographisch beschreibend und verstehend.
Innerhalb der US-amerikanischen Philosophie entwickelte der Pragmatismus ein nicht-positivistisches Realitätsverständnis.
Während innerhalb der deutschsprachigen Wissenschaftslandschaft Edmund Husserl eine phänomenologische Erkenntnistheorie begründete.
Während der Positivismus aber auch der Kritische Rationalismus die Existenz einer realen Welt unterstellt, welche unabhängig vom erkennenden Subjekt besteht, geht der Pragmatismus, aber auch andere Ansätze wie z.B. die Phänomenologie von einem multiplen Realitätsverständnis aus. Die erfahrbare Welt stellt sich abhängig vom Kontext und vom Beobachter dar. Im Unterschied zum methodischen Monismus des Positivismus geht der methodische Dualismus davon aus, dass mehrere unterschiedliche Realitäten bzw. Interpretationsweisen der Welt existieren.
Innerhalb der Kultur- und Sozialanthropologie führten diese wissenschaftstheoretischen Ansätze zu einem Fokus auf Verstehen (Max Weber für die Soziologie) und Bedeutung im Sinne der symbolischen und interpretativen Anthropologie (Clifford Geertz) aber auch der Ethnoscience (Brent Berlin) und der postmodernen Ansätze. Die Vertreter dieser Ansätze, in all ihrer Verschiedenheit, werden oft als Humanists im Gegensatz zu den Scientists bezeichnet, oder aber auch aufgrund ihres Fokus auf Verstehen und Bedeutung, als Mentalisten.
Im Gegensatz zur Entwicklung allgemeiner Gesetzmäßigkeiten stellen Vertreter dieser Grundorientierung eher partikuläre Detailuntersuchungen an, mit dem Ziel, wie es bereits Malinowski formulierte „to grasp the native´s point of view, his relation to life, to realise his vision of his world” (Malinowski 1922: 25). Eine zentrale Schwierigkeit dabei besteht darin, dass wissenschaftlich keine völlig emische Darstellung[1] des "native points of view" möglich ist, denn eine solche Darstellung beruht immer auf notwendiger Weise unvollständiger und selektiver Übersetzung. Ethnographien beruhen somit auf Beobachtungen zweiter oder höherer Ordnung (Beobachtungen von Beobachtungen) bzw. wie Clifford Geertz[2] formuliert, auf Interpretationen von Interpretationen.
Verweise in diesem Kapitel:
[1] Siehe Kapitel 2.4
[2] Siehe Kapitel 5.3
2.3.1 Die Hermeneutik
Die Hermeneutik ist die "Kunst" des Verstehens und Deutens von Texten, Verhaltensweisen und Kulturmustern. Sie ist nach dem griechischen Gott Hermes benannt, der das Verstehen zwischen Göttern und Menschen und damit auch zwischen Menschen und Menschen gefördert hat.
Im Gegensatz zum Positivismus, der von einer äußerlichen Realität ausgeht, die objektiv beschreibbar ist, existiert aus der Sicht der Hermeneutik keine objektive Realität, sondern nur verschiedene Interpretationen bzw. Auslegungen von Phänomenen, Texten und Handlungen.
Zu den zentralen philosophischen Grundlagen der Hermeneutik gehören die Arbeiten von Autoren, wie Friedrich Schleiermacher, Wilhelm Dilthey, Martin Heidegger und Hans-Georg Gadamer. Aber auch Jürgen Habermas als Vertreter der kritischen Theorie baut in seiner Theorie des kommunikativen Handelns auf Strategien der Texthermeneutik. Er setzt neben dem Sinnverstehen jedoch insbesondere auf die Sinnkritik.
Innerhalb der Kultur- und Sozialanthropologie haben hermeneutische und interpretative Verfahren vor allem durch Clifford Geertz eine weit über die Grenzen der Disziplin hinausgehende Popularität erfahren. In der deutschsprachigen Soziologie wurden hermeneutische Interpretationsverfahren insbesondere im Rahmen der so genannten "objektiven Hermeneutik" weiter entwickelt und systematisiert.
Da aus der Sicht der Hermeneutik keine objektive Realität existiert, kann ihr Wahrheitskriterium nicht in einer Korrespondenz von wissenschaftlichen Aussagen und externer Realität begründet liegen. Im Sinne der unterschiedlichen Auslegungs- und Interpretationsmöglichkeiten geht es nicht um eine objektive Wahrheit, sondern um eine Horizonterweiterung durch diese Auslegungen. Clifford Geertz spricht in diesem Sinn von einer Erweiterung des menschlichen Diskursuniversums als Ziel der interpretativen Anthropologie. An diese Auffassung von Wahrheit schließt auch die "Konsenstheorie" an, die davon ausgeht, dass wahr sei, worüber in einem freien, offenen Diskurs ein Konsens gefunden werden kann. Einer der wichtigsten Vertreter dieser Auffassung ist der deutsche Sozialphilosoph und Vertreter der Kritischen Theorie Jürgen Habermas.
Weiterführende Literatur:
Hermeneutik I[1]
Hermeneutik II[2]
Verweise in diesem Kapitel:
[1] http://buecherei.philo.at/herm.htm
[2] http://evakreisky.at/onlinetexte/nachlese_hermeneutik.php
2.3.2 Der Pragmatismus
Der Pragmatismus entstand im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts als zentrale Strömung der US-amerikanischen Philosophie und war in weiterer Folge auch prägend für die Theorie- u. Methodenentwicklung insbesondere auch der so genannten Chicagoer Soziologie (Street Corner Society). Zu den zentralen Vertretern gehören Charles S. Peirce, William James, John Dewey, George Herbert Mead.
Der Pragmatismus ist Ausdruck eines anderen Realitätsverständnisses als dies im Positivismus oder dem Kritischen Rationalismus zum Ausdruck kommt. Positivismus und Kritischer Rationalismus vertreten im Prinzip einen Methodenmonismus, d.h. egal ob Naturwissenschaften oder Sozial- und Geisteswissenschaften, die methodischen Zugänge zur Wirklichkeit sind im Grunde die gleichen - die Sozialwissenschaften gehen im Prinzip nicht anders vor als Naturwissenschaften.
Im Gegensatz dazu stehen andere erkenntnistheoretische Richtungen wie der Pragmatismus, die Phänomenologie oder die kritische Theorie, die einen Methodendualismus vertreten. D.h. sie vertreten die Auffassung, dass innerhalb der Sozial- und Geisteswissenschaften andere methodische Zugänge angewandt werden müssen, als in den Naturwissenschaften.
Der Pragmatismus bestreitet einen universalistischen Wahrheitsbegriff und geht davon aus, dass die Bedeutung einer Sache in den Konsequenzen, die sich aus dem praktischen Handeln ergeben, liegt. Diese Konsequenzen müssen erfahren werden und diese Erfahrung sei immer perspektivisch geprägt. Die handlungspraktischen Konsequenzen, d.h die Bedeutung, werden somit zum Wahrheitskriterium innerhalb des Pragmatismus.
Im Pragmatismus sind etwa Reiz und Reaktion (Ursache und Wirkung) keine getrennten Einheiten sondern Phasen einer Handlung. Der Reiz wird erst durch aktives Wahrnehmen und Interpretieren zu einem relevanten Teil der Handlung, d.h. die analytische Trennung von Ursache und Wirkung wird als problematisch angesehen, weil die Ursachen nicht aus sich selbst heraus wirken, sondern nur so, wie sie von den Akteuren im Handeln aktiv rezipiert werden. Insofern spielt der Kontext der Handlung eine zentrale Rolle, da er einerseits Handlungen beeinflusst, aber andererseits auch durch Handlungen konstituiert wird.
Als methodologische Konsequenzen ergeben sich die prozessuale Integration von Datenerhebung, Analyse und Theoriebildung[1]. Idealtypisch kann hier der Ablauf der Forschung innerhalb der Grounded Theory genannt werden, welcher auf eine strikte Trennung von Datenerhebung und -analyse verzichtet.
Verweise in diesem Kapitel:
[1] Siehe Kapitel 4.2
2.3.3 Die Phänomenologie
Die Phänomenologie (griechisch phainomenon „Sichtbares, Erscheinung“; logos „Rede, Lehre“) ist die Lehre bzw. Untersuchung der Erscheinungen, des Phänomens als Gegebenes im Gegensatz zum Logos, der Zugangsart.
Die Phänomenologie ist eine vom deutschen Philosophen Edmund Husserl (1859- 1928) begründete Erkenntnistheorie, mit der er den Gegensatz zwischen Empirismus und Rationalismus[1] zu überwinden versuchte.
Husserl formulierte den Anspruch, zu den "Dingen selbst" zurück zu kehren. Die Welt sollte so begriffen werden, wie sie von den Handelnden erfahren wird. Zuerst sollten also die Konzepte, mit denen die Menschen im Alltag Probleme, Situationen und Ereignisse erfassen und deuten, beschrieben werden. Diese dienen dann der weiteren Theoriebildung. Der Ursprung der Erkenntnisgewinnung liegt im unmittelbar Gegebenen, in der Intentionalität des Bewusstseins, in der es einen Gegenstand erfasst. Husserl versucht auf Grundlage des intentionalen Charakters des Bewusstseins die Spaltung der Welt in Subjekt und Objekt aufzuheben. Er geht von einer Komplementarität von Welt und Bewusstsein aus. Das heißt, es existiert weder ein Primat der Welt noch der Wahrnehmung, sondern Handelnde erfahren sich immer "gleichursprünglich in der Welt".
Die zentralen methodischen Verfahren, die sich aus der Husserl’schen Philosophie ergeben, werden auch unter dem Begriff der phänomenologischen Reduktion subsumiert. Bei Husserl gehören dazu die Epoché, die mit ihr in Zusammenhang stehende eidetische Reduktion und die eidetische Variation.
Ausgangspunkt ist dabei die "natürliche Einstellung zur Welt", die auf der Annahme beruht, dass die Realität objektiv gegeben ist. Diese "Generalthesis der natürlichen Einstellung zur Welt" problematisiert Husserl und seine methodischen Anweisungen zielen darauf ab, diese "fraglose Geltung in eine begründete Geltung der Realität zu überführen" (Prechtl "1991: 58). Ein erster methodischer Schritt auf diesem Weg ist das Innehalten, das Einklammern und Ausschließen unserer Annahmen und des Vorwissens über die Welt. Diesen Prozess nennt Husserl Epoché, der dazu führen soll, die Welt von einem anderen Bewusstsein aus als neutraler Zuschauer zu betrachten, "der den Glauben an die Welt zunächst einmal nicht mitvollzieht" (ebd.: 59). Durch diesen Akt kann die Welt als "Korrelat der Subjektivität des Bewusstseins" erkannt und das Wesen des betrachteten Gegenstandes wahrgenommen werden. Diese Wesensschau nennt Husserl eidetische Reduktion.
In weiterer Folge geht es aber darum, eine Wesensbestimmung bzw. eine Identifikation der Wesensallgemeinheiten vorzunehmen, also den gleich bleibenden Kern bzw. die allgemeine Struktur zu identifizieren. Dafür setzt Husserl das Verfahren der eidetischen Variation ein, welche "von den Zufälligkeiten und individuellen Besonderheiten der faktisch ablaufenden Denkakte" (ebd.: 63) in Bezug auf den Gegenstand abstrahiert.
Husserls Phänomenologie wurde innerhalb der Kultur- und Sozialanthropologie im deutschsprachigen Raum insbesondere durch die Arbeiten von Leo Frobenius und Adolf Ellegard Jensen aufgenommen und weitergeführt.
Innerhalb der französischen Kultur- und Sozialanthropologie war es Maurice Merleau Ponty[2], der aufbauend auf Husserl eine eigenständige phänomenologische Position entwickelte (Phänomenologie der Wahrnehmung 1974 [1945]). In dieser Konzeption spielt der Leib, als Summe der intentionalen Erfahrungen jenseits von Körper und Seele, eine zentrale Rolle.
Innerhalb der Soziologie wurde die Husserl’sche Phänomenologie insbesondere in den Arbeiten von Alfred Schütz[3] und Thomas Luckmann zu den Strukturen der Lebenswelt und zur Phänomenologie des Alltagswissens weiterentwickelt.
Verweise in diesem Kapitel:
[1] Siehe Kapitel 2.5
[2] http://plato.stanford.edu/entries/merleau-ponty/
[3] http://plato.stanford.edu/entries/schutz/