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Vorheriges Kapitel: 4. Neuere Entwicklungen

5. Deskriptive Darstellung genealogischer Beziehungen

Verfasst von Wolfgang Kraus

Die Verfahrensweisen zur Erhebung, Beschreibung und Notation genealogischer Beziehungen – d.h. der Verbindungen durch Filiation, Ehe und Geschwisterschaft [> 2.2] sowie ihrer Kombinationen – werden in der Kultur- und Sozialanthropologie seit W. H. R. Rivers als „genealogische Methode“ bezeichnet. Diese Verfahren sind primär empirisch und deskriptiv orientiert; wie jede Form anthropologischer Datenaufnahme und Beschreibung sind sie aber nicht theoretisch neutral, sondern transportieren über ihre Anwendung gewisse theoretische Annahmen und Positionen.

Den Gegenstand der Darstellung bilden dabei nicht genetische Beziehungen, sondern das jeweilige Wissen der handelnden Personen über solche Beziehungen. Eine Genealogie im Sinne der Kultur- und Sozialanthropologie zeichnet auf, wer mit wem als auf welche Weise verbunden gilt. Die Frage nach den objektivierbaren Fakten ist dabei weitestgehend irrelevant. Relevant ist dagegen die Unterscheidung von sozialer und physischer Verwandtschaft [> 2.1], falls im jeweiligen emischen Kontext eine solche Unterscheidung vorgenommen wird. Wenn dies der Fall ist (so wie etwa in unserer Gesellschaft), dann muss es auch bei der Aufnahme genealogischer Daten beachtet werden. Anerkannte Konventionen zur unterschiedlichen Notation sozialer und physischer Bindungen gibt es allerdings nicht [> 5.3.3] – mit Ausnahme des Sonderfalls der Adoption, die eine rechtlich anerkannte Form nichtphysischer Verwandtschaft darstellt.

An der impliziten Bevorzugung rechtlich relevanter Beziehungen zeigt sich ein bias der genealogischen Methode, der sich gut aus einer in den Kinship Studies lange vorherrschenden Orientierung auf die rechtliche Rolle von Verwandtschaft erklären läßt. Insofern wird die klassische genealogische Methode den heutigen Perspektiven auf Verwandtschaft nur teilweise gerecht. Im Zuge des kritischen Hinterfragens konventioneller anthropologischer Ansätze ist auch die genealogische Methode einer grundlegenden Kritik [> 5.6] unterzogen worden. Ihre Anwendung auf aktuelle Forschungsprobleme sollte daher im Bewusstsein dieser Kritik erfolgen.

Inhalt


5.1 Rivers und die genealogische Methode



Die Beschäftigung mit genealogischen Zusammenhängen und ihre Aufzeichnung, z.B. in bildhafter Form als Stammbaum, hat in Europa eine lange Tradition, die bis in die Spätantike zurückreicht (vgl. Kraus 2004: 26). Mit genealogischen Daten beschäftigen sich diverse wissenschaftliche Disziplinen auf unterschiedliche Weise. Das, was wir im Bereich der Kultur- und Sozialanthropologie als genealogische Methode bezeichnen, wurde begründet durch W. H. R. Rivers während seiner Teilnahme an der berühmten Torres Straits-Expedition, die sich 1898–99 unter Leitung von A. C. Haddon der Erforschung der Torresstraßen-Inseln zwischen Australien und Neuguinea widmete.

Anfangs mehr Naturwissenschaftler als Anthropologe, begann Rivers die Verwandtschaftbeziehungen zwischen verschiedenen Personen zu dokumentieren und entdeckte dabei die überraschende Reichhaltigkeit und Präzision lokalen genealogischen Wissens:

„I soon found that the knowledge possessed by the natives of their families was so extensive, and apparently so accurate, that a complete collection of the genealogies as far back as they could be traced would be interesting and might enable one to study many sociological problems more exactly than would be otherwise possible (...) I collected in Murray Island and Mabuiag genealogies which included the families of almost, if not quite, every individual now living on those islands. It is only, however, since leaving the islands, and while getting the data into order, that I have realised the many possibilities which I believe this method opens to the anthropologist“ (Rivers 1900: 74).

Als Arzt und Psychologe war Rivers zunächst an genetischen und nicht an sozialen Zusammenhängen interessiert. Im Zusammenhang mit seinen Untersuchungen zur Farbwahrnehmung bei den Bewohnern der Torresstraßen-Inseln begann er, Genealogien zu sammeln, um die Vererbung physiologischer Eigenschaften zu untersuchen. Er entdeckte jedoch rasch die Möglichkeiten, die das Sammeln weitreichender genealogischer Daten für eine anthropologische Beschäftigung etwa mit Verwandtschaftssystemen und Heiratsformen bot (Rivers 1900: 78). Eine seiner Schussfolgerungen lautet:
„The great value of the genealogical method is that it enables one to study abstract problems, on which the savage’s ideas are vague, by means of concrete facts, of which he is a master“ (Rivers 1900: 82).


Abb. Eine der von Rivers gesammelten Genealogien (Rivers 1900: plate III)


Die grafische Darstellungsweise, die Rivers 1900 verwendete (Abb. 2), unterscheidet sich von den heute gebräuchlichen > Konventionen, aber sie enthält, wie Fischer anmerkt, bereits die wichtigsten Prinzipien der heute üblichen Darstellungen – ein Beleg für den anhaltenden Einfluss Rivers’ auf die genealogische Methode (Fischer 1996: 118).

Nach mehreren weiteren Publikationen legte Rivers seine Methode der Erhebung und Dokumentation genealogischer Daten auch in der 4. Auflage der Notes and Queries on Anthropology (1912), eines vom Royal Anthropological Institute herausgegebenen Methodenhandbuchs, dar. Auch in der 1951 erschienenen 6. Auflage ist der Abschnitt zur genealogischen Methode (Notes and Queries 1951: 50–55) deutlich von Rivers geprägt (vgl. Fischer 1996: 123). Noch 1967 stellte John A. Barnes – der selbst wichtige methodische Beiträge zur Weiterentwicklung der genealogischen Methode leistete (Barnes 1947; 1967) – fest, Rivers’ Methode könne kaum verbessert werden (Barnes 1967: 106; zit. nach Fischer 1996: 127).

5.2 Kurznotation von Verwandtschaftsverhältnissen



Es gibt unterschiedliche Verfahren der nichtgrafischen Notation von Verwandtschaftsverhältnissen. Ihr Zweck ist die anschauliche und eindeutige Darstellung von Verwandtschaftsverhältnissen. In der Regel gehen sie aus von den acht primary kin types (primären genealogischen Relationen) [> 2.2]. Die Zeichen in den verschiedenen Systemen sind meist Abkürzungen für diese Grundverhältnisse. Die gängigen Systeme unterscheiden sich nach der Sprache, von der sie ausgehen, sowie nach der Zahl der Buchstaben, die für die Abkürzung verwendet werden (meist 1 oder 2). Das Grundverhältnis Vater etwa läßt sich so – unter anderem – deutsch als Va, englisch als F oder Fa und französisch als Pe darstellen (vgl. Parkin 1997: 9). Ein formal-logisch statt sprachlich basiertes Notationssystem wurde von Romney entwickelt (vgl. Romney & D’Andrade 1964: 149). Es hatte in den 1960er Jahren einen gewissen Einfluss, konnte sich aber nicht dauerhaft durchsetzen.

Das übersichtlichste und in letzter Zeit auch international verbreitetste System (vgl. Barnard & Good 1984: 4; Barnes 1967: 122 f.; Parkin 1997: 9) geht von den englischen Verwandtschaftstermini aus und verwendet je einen Großbuchstaben für die acht primary kin types:

F father/Vater
M mother/Mutter
S son/Sohn
D daughter/Tochter
H husband/Ehemann
W wife/Ehefrau
B brother/Bruder
-


Weitere Zeichen fassen gewisse primäre genealogische Relationen zu Überkategorien zusammen, indem sie die Differenzierung nach dem Geschlecht von Alter [> 2.2] (der/dem jeweiligen Verwandten) vernachlässigen:

P parent/Elternteil
C child/Kind
E spouse/Ehepartner
G sibling/Geschwister


Durch die Verkettung dieser einfachen Zeichen lassen sich auch andere – komplexere oder entferntere – Verwandtschaftsverhältnisse ziemlich eindeutig darstellen. Meine väterliche Parallelcousine z.B. ist FBD; der mütterliche Onkel meiner Ehefrau ist WMB. Die Reihenfolge der verketteten Zeichen geht immer von > Ego aus: im Fall des Verhältnisses WMB lesen wir also Egos Ehefrau > deren Mutter > deren Bruder, so wie dies in der englischen Sprache (nicht aber in der deutschen) gehandhabt wird: wife’s mother’s brother.

Verwandtschaftsverhältnisse, die von den geordneten Beziehungen in der hypothetischen Kernfamilie abweichen, sind etwa Halbgeschwister und Stiefeltern. Sie werden jeweils über die/den verbindende/n Verwandte/n geführt: MS (mother’s son) ist mein väterlicher Halbbruder; FW (father’s wife) ist meine Stiefmutter (Barnes 1967: 123). Noch höhere deskriptive Präzision lässt sich durch verschiedene Zusätze in Kleinbuchstaben erlangen:

e elder/der od. die ältere
y younger/der od. die jüngere
ms man speaking/männliches Ego
ws woman speaking/weibliches Ego
os opposite sex/gegengeschlechtlich
ss same sex/gleichgeschlechtlich


Die Zeichen e und y beziehen sich auf das relative Alter der/des jeweiligen Verwandten und sollten in der Regel nach der englischen Wortfolge gelesen werden. FyBWB bedeutet „ego’s father’s younger brother’s wife’s brother“. FBWyB dagegen heißt „ego’s father’s brother’s wife’s younger brother“. Ist das relative Alter in Bezug auf ego gemeint, dann ist das Zeichen nachzustellen: FBWBy heißt „father’s brother’s wife’s brother who is younger than ego“ (Barnard & Good 1984: 4). Barnard & Good bestehen daher auch darauf, dass „ego’s elder brother“ Be zu schreiben ist (1984: 4); das üblichere eB (z.B. Parkin 1997: 9 f.) dagegen entspricht der englischen Wortfolge (für eine andere Form der Darstellung des relativen Alters vgl. Barnes 1967: 123).

Die anderen Zeichen (ms, ws, os, ss) sind vor allem im Zusammenhang mit Verwandtschaftstermini von Bedeutung [> 7.1]; zu ihrer Verwendung s. Barnard & Good 1984: 4 f.; Parkin 1997: 9 f.

Wesentlich ist: alle diese Zeichen oder Zeichenketten beziehen sich zunächst nicht auf konkrete Personen, sondern auf das, was Fischer (1996: 156) genealogische Relationen nennt, vom Standpunkt Egos aus betrachtet [> 2.2]. Konkrete Personen füllen diese Positionen nur in einem relativen Sinn aus, eben in Bezug zu einem bestimmten Ego. Insofern betrifft jedes Verwandtschaftsverhältnis zunächst zwei Personen, Ego und Alter (die/den jeweilige Verwandte/n). Wenn Ego z.B. zwei Schwestern hat, dann stehen diese beiden Personen zu ihr/ihm in der Relation Z = Schwester. Es handelt sich also um zwei Verwandtschaftsverhältnisse in der gleichen genealogischen Relation zu Ego.

Jede Verwandtschaftsposition ist also grundsätzlich relativ [> 2.2]; dennoch können gewisse Verwandtschaftsverhältnisse auch absolute Statuspositionen vermitteln. Eine Ehefrau kann z.B. in einer konkreten Gesellschaft – unabhängig vom Blickwinkel Egos – einen anderen Status haben als eine unverheiratete Frau; ein Mann mit Kindern kann einen anderen Status haben als einer ohne Kinder.

5.3 Grafische Notation



Für die grafische Notation von genealogischen Zusammenhängen haben sich in der Kultur- und Sozialanthropologie ziemlich einheitliche Konventionen etabliert, die nur bei den weniger gebräuchlichen Symbolen etwas variieren. Auch hier wird – wie bei der nichtgrafischen Kurznotation von Verwandtschaftsverhältnissen [> 5.2] – grundsätzlich vom theoretisch fragwürdigen Modell der Kernfamilie [> 2.2] ausgegangen.

Für die gegenwärtigen Perspektiven des Faches mag das konventionelle Verfahren grafischer Notation oft zu begrenzt erscheinen und muss gegebenfalls modifiziert werden [> 5.6]. Die Fertigkeit, genealogische Diagramme zu lesen und zu zeichnen, bildet jedoch auch in der Gegenwart ein unentbehrliches Grundwissen für Studierende der Kultur- und Sozialanthropologie. Eine sehr umfassende neuere Darstellung der üblichen Notationsmethode findet sich in Fischer 1996 (vgl auch Barnard & Good 1984: 5–7; Parkin 1997: 11–13; Stone 1998: 7–11).


5.3.1 Grundlegende Zeichen


Wenn wir vom Modell der hypothetischen Kernfamilie ausgehen, so behötigen wir Zeichen für die Darstellung der drei Grundverbindungsarten Filiation, Ehe und Geschwisterschaft [> 2.2]. Dazu kommen Zeichen für Person weiblichen bzw. männlichen Geschlechts. Mit diesen fünf grundlegenden Zeichen lassen sich bereits die meisten genealogischen Zusammenhänge und Verwandtschaftsverhältnisse darstellen.

K03.png Mann
K04.png Frau


Manchmal ist die Geschlechtsidentität einer Person unbekannt oder irrelevant. Für dieses ergänzende Zeichen gibt es zwei Varianten:

K05.png Person undefinierten Geschlechts (nach Fischer 1996: 20)
K06.png Person undefinierten Geschlechts (nach Stone 1998: 7)


Die Personenzeichen können mit einem Schrägstrich modifiziert werden, um darzustellen, dass die betreffende Person verstorben ist. Im Normalfall bedeutet das: verstorben zu jenem konkreten Zeitpunkt, auf den sich das Diagramm bezieht.

K07.png Frau bzw. Mann verstorben


Die Personenzeichen werden durch Verbindungszeichen miteinender in Beziehung gesetzt. Filiation wird dabei gewöhnlich als eine vertikale Verbindung gedacht, Ehe und Geschwisterschaft als horizontale Verbindungen.

K08.png Filiation
K09.png] Beispiel 1


Jan ist mit Ida durch eine Filiationsbeziehung verbunden. Dass Jan oberhalb von Ida steht, wird konventionell so gelesen: Jan steht eine Generation über Ida, d.h. Jan ist der Vater (F) von Ida; Ida ist die Tochter (D) von Jan. Generationen werden vertikal absteigend geordnet. Die Namen der dargestellten Personen werden – sofern sie für die Darstellung relevant sind – meist unter die Personenzeichen geschrieben; das kann jedoch wie hier aus Gründen der Übersichtlichkeit auch anders gehandhabt werden.

Die horizontale Linie für die Geschwisterschaft muss unbedingt über den Personenzeichen stehen, die sie verbindet. Eine Linie zwischen den Zeichen hat eine andere Bedeutung (s. > Abschnitt 5.3.3).

K10.png Geschwisternschaft
K11.png Beispiel 2


Eva ist mit Tom durch eine Geschwisterbeziehung verbunden. Dass Eva links und Tom rechts steht, wird konventionell so gelesen: Eva ist die ältere Schwester (eZ) von Tom; Tom ist der jüngere Bruder (yB) von Eva. Geschwister werden – falls nicht andere Prioritäten bei der Darstellung gesetzt werden – immer nach der Reihenfolge der Geburt von links nach rechts geordnet. Manchmal ist dies nicht möglich, etwa wenn Heiratsbeziehungen zwischen bereits verwandten Personen dargestellt werden sollen. Geschwister werden stets auf einer horizontalen Ebene stehend dargestellt; dies gilt überhaupt für alle Angehörigen derselben Generation.

Für die Ehe bzw. Heiratsbeziehung gibt es zwei alternative Zeichen:

K12.png Heiratsbeziehung
K13.png Heiratsbeziehung


Die beiden Zeichen unterscheiden sich vor allem pragmatisch. Das erste ist unmittelbar anschaulicher und hebt sich deutlicher von der Geschwisterschaft ab. Das zweite Zeichen eignet sich besser, um in komplexen Diagrammen weit entfernte Personen zu verbinden oder um mehrfache Ehen einer Person darzustellen. In einem einzelnen Diagramm sollten die beiden Zeichen nicht vermischt werden, sondern immer eines der beiden Zeichen durchgehend verwendet werden.

Die Verbindungszeichen für die Heiratsbeziehung können mit einem Schrägstrich modifiziert werden, um darzustellen, dass die betreffende Ehe zum Zeitpunkt, auf den sich das Diagramm bezieht, geschieden ist.

K14.png Ehe geschieden
K15.png Ehe geschieden
K16.png Beispiel 3


Die logische Minimalform der hypothetischen Kernfamilie umfasst die Eltern und zwei Kinder verschiedenen Geschlechts. Sie enthält somit alle acht primary kin types. Früher war es konventionell, in der Darstellung der Eheverbindung stets den Mann links zu zeichnen (vgl. Fischer 1996: 21); dies schreibt jedoch (im Zusammenhang mit der uns geläufigen Leserichtung) auf unnötige Weise eine Geschlechterhierarchie fest. Vielfach ist die Anordnung von Ehepartnern in der Darstellung bereits durch die zuvor festgelegte Anordnung anderer Verwandter vorgegeben.

K17.png Beispiel 4


Die Kernfamilie aus Beispiel 3 lässt sich auch so darstellen. Falls man sich für die horizontale Linie als Zeichen für die Ehe entscheidet, müssen die Zeichen für Ehe und Geschwisterschaft unbedingt getrennt werden, also zwei verschiedene horizontale Linien verwendet werden, da es sich um zwei verschiedene Verbindungsarten handelt.


5.3.2 Weitere Darstellungskonventionen


Wenn wir die Kernfamilie aus Abschnitt 5.3.1, Beispiel 4 um ein Kind erweitern, ergibt sich folgende
Darstellung:

K18.png Beispiel 5


In einem solchen Diagramm sollte die senkrechte Linie, die zu Tom führt, nicht durchgezogen, sondern etwas versetzt gezeichnet werden. Dies zeigt, dass die Verbindung zwischen Tom und seinen Eltern keinedirektere ist als die zu seinen Geschwistern, und hilft bei komplexen Diagrammen, Verwechslungen mit zufälligen Kreuzungen von Linien zu vermeiden. Der Eindeutigkeit halber sollte bei solchen zufälligen Kreuzungen, die keinen Informationsgehalt vermitteln – etwa wenn sich eine Filiationsbeziehung mit einer Heiratsbeziehung schneidet – eine kleine Brücke eingebaut werden:

K19.png Überschneidung verschiedener Verbindungen
K20.png Beispiel 6


Wenn es sich bei Tom und Uwe um Zwillinge handelt, sollte die Darstellung so erfolgen. Analog können auch andere Mehrfachgeburten dargestellt werden.

In vielen genealogischen Darstellungen ist es nötig, eine bestimmte Person als Ego [> 2.2] zu identifizieren. Dies ist immer dann erforderlich, wenn der Verhältnisaspekt von Verwandtschaft im Vordergrund steht, etwa bei der Darstellung von Verwandtschaftstermini im Verhältnis zu Ego. Ego wird markiert, indem das betreffende Symbol ausgefüllt wird.

K21.png Ego (weiblich)
K22.png Ego (männlich)
K23.png Beispiel 7
K24.png Beispiel 8


Die beiden Diagramme zeigen die Kintypen [> 7] in einer hypothetischen Kernfamilie von zwei unterschiedlichen Bezugspunkten aus.

Wenn eine Genealogie auf Ego bezogen dargestellt oder beschrieben wird, dann werden häufig die Generationen in Relation zu Ego nummeriert. Egos Generation ist 0, die Generation seiner/ihrer Eltern heißt die erste aufsteigende Generation (+1), die der Großeltern die zweite aufsteigende Generation (+2) usw. Die Generation von Egos Kindern ist die erste absteigende Generation (-1), die der Enkel die zweite absteigende Generation usw.

Mehrfache Ehen einer Person – ob gleichzeitig oder aufeinanderfolgend – werden durch die Kombination der bereits bekannten Zeichen dargestellt. Diese Kombination kann allerdings auf unterschiedliche Arten erfolgen.

K25.png] Beispiel 9
K26.png Beispiel 10


Beide Diagramme vermitteln die gleiche Information. Sie zeigen einen Mann, der mit zwei Frauen durch Heiratsbeziehungen verbunden ist. Da beide Verbindungen aufrecht sind und alle Beteiligten noch am Leben sind, handelt es sich um eine polygyne Familie.

K27.png Beispiel 11
K28.png Beispiel 12
K29.png Beispiel 13


Wenn wir das zweite Verbindungszeichen für Ehe verwenden, dann kann die Situation in den Beispielen 9 und 10 auf diese Arten dargestellt werden.

K30.png Beispiel 14
K31.png Beispiel 15


Im Gegensatz zu den vorangegangenen Beispielen sind diese beiden Darstellungen uneindeutig und können nur mit einer näheren Erklärung richtig interpretiert werden. In Beispiel 14 handelt es sich entweder um eine geschiedene erste Ehe und eine nachfolgende zweite, oder aber um eine polygyne Familie, in der die erste Ehe geschieden wurde. Die gleiche Unklarheit besteht bei Beispiel 15, wo eine der beiden Ehefrauen verstorben ist. Bei der Reihung mehrerer Ehen einer Person von links nach rechts sollte – ähnlich wie bei Geschwistern – nach Möglichkeit die Chronologie beachtet werden, wobei hier die zeitliche Abfolge der Eheschließungen relevant ist.

K32.png Beispiel 16
K33.png Beispiel 17


Eine polyandrische Familie, in der die beiden Ehemänner je ein Kind mit der gemeinsamen Ehefrau haben, kann so dargestellt werden. Analog hat die Darstellung von Halbgeschwistern auch zu erfolgen, wenn wir es mit aufeinanderfolgenden Ehen zu tun haben.

Grundsätzlich wird, wie in Abschnitt 5.3.1 ausgeführt, Filiation durch eine vertikale Linie dargestellt, Geschwisterschaft durch eine horizontale und Ehe durch ein Ist gleich-Zeichen oder durch eine horizontale Linie. Wenn es die Platzverhältnisse in einem Diagramm erfordern, kann eine Filiationsbeziehung aber auch – wie in den Beispielen 16 und 17 – durch einen horizontalen Strich verlängert werden.

K34.png Filiationsbeziehung




5.3.3 Ergänzende Zeichen



Anhand der fünf grundlegenden Zeichen (für Filiation, Ehe, Geschwisterschaft, Person männlich, Person weiblich) [> 5.3.1] und ihre Kombinationen lassen sich alle Verwandtschaftsverhältnisse in der hypothetischen Kernfamilie und ein großer Teil der realen Verwandtschaftsverhältnisse in vielen Gesellschaften darstellen. Dazu zählen auch von der hypothetischen Kernfamilie abweichende Familienformen wie etwa polygame Familien [> 6.3]. Es gibt jedoch – auch im Bereich genealogischer Verwandtschaft – unterschiedliche Arten von Beziehungen, für die das nicht gilt.

Für diese sind zusätzliche Zeichen entwickelt worden, die größere deskriptive Präzision erlauben. Da die Kinship Studies lange durch die idealisierte Darstellung struktureller Verwandtschaftsrollen dominiert waren und die realen Verwandtschaftsverhältnisse realer Personen demgegenüber erst spät in den Vordergrund traten, gibt es jedoch z.B. für Partnerschaften ohne Ehe keine eindeutig standardisierten Zeichen.

Für eine uneheliche Beziehung („sexual relationship“) verwendet Linda Stone das folgende Zeichen:

K35.png uneheliche Beziehung (Stone 1998: 7)


Fischer differenziert hier genauer. Er unterscheidet zu Recht zwischen einer außerehelichen Beziehung ohne Partnerschaft (die in der Regel nur dann genealogisch relevant ist, wenn es Nachkommen gibt) und einer Partnerschaft. Er schlägt dafür die folgenden Zeichen vor:

K36.png außereheliche (illegitime) Beziehung
K37.png Partnerschaft (Fischer 1996: 22 f.)


Für wieder andere Arten von Verwandtschaftsverhältnissen vor allem im Bereich der nichtgenealogischen Verwandtschaft wurden überhaupt keine Zeichen entwickelt, oder es besteht zumindest keine Einhelligkeit über ihre Verwendung. Die einzige Ausnahme bildet die quasi-filiative Verbindung, die durch Adoption hergestellt wird.

K38.png adoptive Verbindung


Bei aller Nützlichkeit der grafischen Darstellung von Verwandtschaftsverhältnissen müssen wir uns auch der Grenzen dieser Methode und ihrer blinden Flecken bewusst sein. Methoden und Theorien sind Instrumente der Wahrnehmung, Fenster auf die empirische Welt, die uns bestimmte Zusammenhänge zeigen, andere aber zugleich unsichtbar machen.

Im Fall der Darstellungskonventionen, die im Rahmen der genealogischen Methode entwickelt worden sind, betreffen diese blinden Flecken vor allem zwei Bereiche. Zum einen hat sich keine verbindliche Darstellungweise etabliert, die eine systematische Unterscheidung zwischen physischer und sozialer Verwandtschaft [> 2.1] erlauben würde. Das ist umso erstaunlicher, als diese Unterscheidung fast seit den Anfängen der Kinship Studies als essentiell angesehen wird.

Zum anderen setzt die genealogische Methode insgesamt eine klare Geschlechterdichotomie voraus, die als universell und „natürlich“ angenommen wird. Selbst wenn diese Annahme in den meisten Gesellschaften anzutref fen ist, entspricht sie nicht dem aktuellen Stand in den Kinship Studies, sondern reflektiert ein älteres theoretisches Verständnis. Zudem gibt es eine ganze Reihe von ethnografisch dokumentierten Genderrollen, die nicht in die binäre Logik von Mann und Frau passen. Aber auch in den westlichen Gesellschaften sind wir uns zunehmend der Tatsache bewusst, dass andere Geschlechtsidentitäten die als „natürlich“ empfundene Grenze zwischen männlich und weiblich in Frage stellen [> 5.6].

5.4 Komplexe grafische Darstellungen


Die Möglichkeit der grafischen Darstellung genealogischer Zusammenhänge kann für sehr unterschiedliche Zwecke herangezogen werden. Am Anfang stand sicherlich die Absicht, die Genealogien konkreter Personen exakt und übersichtlich darzustellen (vgl. Rivers 1900). Dies ist nach wie vor ein Hauptanwendungsgebiet der konventionellen Zeichen, die im Abschnitt 5.3 beschrieben werden.

Ein Beispiel wäre diese anonymisierte persönliche Genealogie, die das genealogische Wissen von „Eva Schnur“ darstellt.

Abb. 1. Anonymisierte persönliche Genealogie (aus Fischer 1996: 43)


In solchen komplexen Diagrammen kann, wenn sie über viele Generationen reichen, die Zeitachse auch horizontal statt vertikal angelegt werden (vgl. Barnes 1967: 121). Die Grundregel, dass Filiation durch eine vertikale und Ehe sowie Geschwisterschaft durch horizontale Linien dargestellt werden [> 5.3.1], ist in diesem Fall umgekehrt. Die Generationenabfolge wird dann statt von oben nach unten von links nach rechts gelesen.

Ein anderer Anwendungszweck als jener der persönlichen Genealogie sind schematische Darstellungen, die sich nicht auf konkrete Personen beziehen. Sie dienen dazu, formale Zusammenhänge anschaulich zu machen. Das folgende Diagramm zeigt alle logisch möglichen Kintypen [> 7] der näheren Blutsverwandten Egos sowie (in den Generationen 0 und +1) deren EhepartnerInnen. Ein Diagramm dieser Art ist keine Genealogie im eigentlichen Sinn (vgl. Fischer 1996: 87); es eignet sich dagegen gut z.B. für einen Überblick über die Verwandtschaftstermini, die in einer bestimmten Sprache verwendet werden.

Abb. 2. Egos nähere Blutsverwandte und deren EhepartnerInnen (in Anlehnung an Schusky 1965: 10)


Eine besonders abstrahierte Form solcher schematischer Darstellungen bilden die Modelle der Struktur von Heiratssystemen, die auf der „Präferenzheirat“ (Lévi-Strauss 1993) mit bestimmten Verwandten beruhen.

Abb. 3. Heirat mit der MBD (langer Zyklus) (aus Lévi Strauss 1993 [1949]: 608)


Wenn Sie die Abschnitte 5.3.1 bis 5.3.3 durchgearbeitet haben, dann sollten Sie jetzt imstande sein, eine Genealogie Ihrer eigenen Verwandtschaft (so wie in Abb. 1 oben) zu zeichnen. Sie sollten mindestens bis zu Ihren Großeltern zurückgehen und nach Möglichkeit auch deren Geschwister und alle ihre Nachkommen erfassen. Sie werden sehen, dass Sie für eine übersichtliche Darstellung auf einer Seite höchstwahrscheinlich mehr als einen Versuch brauchen werden. Detaillierte Anweisungen für die Erstellung der eigenen und anderer Genealogie gibt Fischer (1996).

Für diese Aufgabe ist eine Überprüfung leider nicht möglich. Sie können jedoch anhand der Übungsaufgaben [> 10] zugleich Ihre Beherrschung des Handwerkszeugs der genealogischen Methode und Ihr Verständnis diverser technischer Begrifflichkeiten überprüfen.

5.5 Unterschiedliche Formen von Genealogie


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5.6 Kritik an der genealogischen Methode


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Nächstes Kapitel: 6. Grundlegende Konzepte


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