Ausgewaehlte Weiterentwicklungen der ethnographischen Feldforschung/ExtendedCase

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5.1 Ordnung vs. Konflikt: Die Extended-Case Method

Verfasst von Ernst Halbmayer

Innerhalb der britischen Sozialanthropologie kam es ab den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts zu einer kritischen Auseinandersetzung mit dem bis dahin vorherrschenden (struktur)funktionalistischen Paradigma, welches durch B. Malinowski und A. R. Radcliffe-Brown geprägt wurde. Dieses stellte auf vermeintlich stabile soziale Strukturen ab und, wie bereits anhand des klassischen Modells der Feldforschung von Malinowski [1] gezeigt wurde, dienten direkte Beobachtungsdaten und indigene Klassifikationen primär dazu, diese allgemeinen Ordnungsmodelle zu illustrieren und möglichst anschaulich zu vermitteln. Im Laufe des 20. Jahrhunderts wurde zunehmend deutlich, dass diese Modelle eine eigene Selektivität der Darstellung produzierten und aktuelle Phänomene, wie antikoloniale Bewegungen, Industrialisierung und Urbanisierung neue Herausforderungen an das methodische Vorgehen stellten.

Eine methodische Antwort auf diese Herausforderung war die Entwicklung der extended-case method (ECM), die insbesondere von Max Gluckman[2] vorgenommen wurde und mit der so genannten Manchester Schule der britischen Anthropologie in Zusammenhang steht. Die zentrale Umorientierung besteht darin, nicht vermeintlich stabile Ordnungsstrukturen ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu stellen, sondern "den Wettbewerb individueller Akteure um Ressourcen und Status im Rahmen widersprüchlicher, inkonsistenter Normen und Regeln" (Rössler 2003: 144). Im Zentrum der ethnographischen Darstellung stand "das alltägliche Handeln konkreter Personen in der sozialen Praxis" (ebd.) und nicht eine abstrahierte Struktur. Dieses Verfahren stellt darauf ab, die Entwicklung sozialer Konflikte, das Aushandeln individueller Interessen, die unterschiedliche Interpretation sozialer Regeln und Normen darzustellen. Dadurch gewinnt die zeitliche Dimension in der ethnographischen Darstellung im Gegensatz zur rein synchronen Betrachtung eine zentrale Bedeutung. Dies führt zur Durchführung von Langzeit- und Wiederholungsstudien, welche es erlauben, den Wandel in den sozialen Beziehungen zu dokumentieren. Wandel, Abweichung und divergierende Interessen werden nun nicht mehr als dysfunktionale Abweichung von im Prinzip harmonischen Strukturen betrachtet, sondern als zentraler Bestandteil des sozialen Lebens. Es steht also nicht mehr die Suche nach Ordnung und allgemeinen Gesetzmäßigkeiten, wie noch bei Malinowski, im Zentrum. Vielmehr wird die vermeintliche, funktionalistische Kohärenz des Ganzen durch eine Konfliktorientierung der ethnographischen Vorgangsweise abgelöst.

Die extended-case method wurde primär aus der Analyse von Rechtsfällen (cases) entwickelt und ist akteurs-, handlungs- und prozessorientiert. Mitchell (1983: 193f) schlägt folgende ethnographische Verfahren vor:

1) Die angemessene Illustration (abt illustration) eines einzelnen Ereignisses, welches ein generelles Prinzip illustriert.

2) Die Situationsanalyse, welche mehrere miteinander verbundene Situationen innerhalb eines begrenzten Zeitraumes miteinander verbindet.

3) Die extended-case method, welche solche Situationen mit denselben Akteuren über einen längeren Zeitraum hinweg miteinander verbindet.

4) Die Analyse sozialer Dramen, welche Mitchell als inhaltlich und zeitlich beschränkte extended-case method bezeichnet.

Rössler (2003: 146) stellt zu diesen Verfahren fest, dass es sich bei den letzen drei Punkten um das selbe methodische Prinzip mit unterschiedlichen "Nuancen hinsichtlich zeitlicher Tiefe und der Komplexität der dargestellten sozialen Beziehungen (handelt). Es ist von daher durchaus legitim, alle genannten Verfahren 2-4 als ECM zu bezeichnen."

Innerhalb der ECM ist eine detaillierte Kenntnis des Feldes und der einzelnen Fälle notwendig, denn "bevor die Manipulation von Regeln und Institutionen (...) methodisch in den Mittelpunkt gerückt werden können, muss ein umfassendes Wissen über die besagten Regeln und Institutionen erworben sein" (Rössler 2003: 148). Dazu gehört eine lange Feldforschungsdauer, eine intime Kenntnis der untersuchten Gemeinschaft, ein gutes Vertrauensverhältnis zu den untersuchten Personen, eine gute Kenntnis der lokalen Sprache, ebenso ist es notwendig die Vorgeschichte der Ereignisse zu dokumentieren.

Zu den methodischen Problemen der ECM gehören der besonders hohe Zeit- und Arbeitsaufwand aber auch die Notwendigkeit Informationen zur Vorgeschichte der einzelnen Fälle zu erheben, wobei man auf die selektiven Aussagen der Informanten angewiesen ist. Auch die Frage der Repräsentativität der Fälle und deren Auswahl stellt sich als schwierig dar. Einerseits erfordert die detaillierte Dokumentation ausgewählter Fälle eine Auswahl, andererseits will laut Rössler (2003: 149) die ECM nicht die gesamte Gesellschaft erfassen sondern auf der Mikroebene exemplarische Akteure und ihre Handlungen dokumentieren. Es geht um "bewusst nach räumlichen und zeitlichen Kriterien definierten Ausschnitten der alltäglichen Praxis" (ebd.). Als weiterer methodisch problematischer Punkt wird die unvermeidbare Einbindung des Ethnographen als Mitwisser in Krisen- und Konfliktsituationen genannt, welche besondere ethische Probleme [3] mit sich bringt.


Verweise:
[1] Siehe Kapitel 1.4
[2] http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/organthro/organthro-38.html
[3] Siehe Kapitel 3.3.1


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