Geschichte der Organisations- und Betriebsanthropologie/Manchester
Vorheriges Kapitel: 2.1 Formative Phase in den USA
Contents
2.2 Manchester Shop Floor Studies
Verfasst von Gerlinde Schein und Gertraud Seiser
Die Manchester Shop Floor Studies sind eine Serie von fünf Studien in englischen Fabriken, die in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre ausgehend von Max Gluckman und der Manchester School of Social Anthropology durchgeführt wurden.
Die Manchester School entwickelte die volle teilnehmende Beobachtung in Fabriken und hat sich nicht mit ethnographischen Beschreibungen begnügt, sondern auch theoriegeleitet analysiert (Wright 1994: 10). Max Gluckman (1911-1975) und seine SchülerInnen verstanden sich bewusst als kritisch und radikal (Emmett/Morgan 1982:140). Ihr Fokus lag auf Konflikt und dem Problem der Analyse von Fallstudien in ihrem jeweiligen Kontext.
Max Gluckman hat seine Ansätze in Südafrika entwickelt und wollte sie in verschiedenen Kontexten testen. Wie William Lloyd Warner vertrat er die Auffassung, dass die Kultur- und Sozialanthropologie eine gegenwartsbezogene Disziplin ist, die sich mit aktuellen Phänomenen des ruralen wie urbanen Lebens zu befassen hat. Mit seinem Interesse für gesellschaftliche Dynamik, Widersprüche und Konflikte grenzte er sich deutlich von Malinowski und Radcliffe-Brown und deren mehr oder minder geschlossenem, harmonischem und statischem Gesellschaftsbild ab (Kuper 1996: 135ff).
Max Gluckman und die Manchester School of Social Anthropology haben viele Neuerungen in die Kultur- und Sozialanthropologie eingebracht (vgl. Evens/Handelman 2006). Hier geht es ausschließlich um jene Innovationen, die für die Organisations- und Betriebsanthropologie relevant geworden sind.
1953/54 hatte George Homans[1], Soziologie- und Anthropologieprofessor aus Harvard und Mitglied im Pareto Circle[2] in Manchester eine Gastprofessur inne. Er regte an, die Hawthorne Experiments in Großbritannien zu wiederholen und fortzuführen. Das geschah auch, aber unter theoretisch wie empirisch anderen Vorzeichen.
Der Manchester Gruppe gelang es, fünf Studien aus Mitteln des Marshall-Plans (Europäisches Wiederaufbauprogramm nach dem Zweiten Weltkrieg) finanziert zu erhalten.
Im Rahmen dieser Studien, die unter dem Titel „Manchester Shop Floor Studies“ bekannt geworden sind, wurden diverse Firmen vergleichend untersucht. Ziel war, Erklärungen für das Verhältnis von Produktionsstandards (output norms) zur informellen Gruppenstruktur zu finden (Lupton/Cunnison 1964/2007; Cunnison 1982; Emmett/Morgan 1982).
Es gab bis in die 1980er Jahre kaum Nachfolgestudien zu den Manchester Shop Floor Studies. Man hatte sich in der Anthropologie nunmehr eher den Modernisierungsprozessen in der Dritten Welt zugewandt. Ende der 1960er Jahre ging zudem der Trend weg von der Erforschung von face to face Beziehungen hin zu Weltsystemanalysen.
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 2.1.3.1.6
[2] Siehe Kapitel 2.1.3.1
Inhalt
2.2.1 Max Gluckman und die Manchester School
Max Gluckman (1911-1975)
Max Gluckman ist 1911 in Johannesburg, Südafrika, als Sohn russisch-jüdischer Immigranten geboren. Er begann sein Sozialanthropologiestudium bei Winifred Hoernlé und Isaak Schapera an der University of the Witwatersrand. 1934 ging er nach Oxford und setzte seine Studien bei Evans-Pritchard und Radcliffe-Brown fort (Kuper 1996: 137ff). Nach seinem PhD 1936 führte er zwei Jahre lang Feldforschung im Zululand durch und baute als Direktor in den 1940er Jahren das Rhodes-Livingstone Institute in Lusaka, Zambia, zu einem erfolgreichen Forschungsinstitut aus (Kapferer 2006). 1949 wurde er auf den neuen Anthropologielehrstuhl nach Manchester berufen.
Das Department of Social Anthropology and Sociology at Manchester University wurde bereits ab Beginn der 1960er Jahre in der Fremd- und Selbstbezeichnung "Manchester School of Social Anthropology" im Sinne einer gemeinsamen theoretischen und methodologischen Ausrichtung genannt (Kempny 2006). David Mills (2006: 166) weist darauf hin, dass die Reputation von Manchester, eine theoretische Schule mit einer spezifischen Geschichte und Mythologie zu sein, nicht nur dem Charisma von Max Gluckman allein geschuldet war. Gluckman entwickelte die kollektive Reputation auf Basis eines gewissen Forschungs- und Schreibstils. Dazu gehörten:
- Teamarbeit in der Feldforschung;
- Reanalyse früheren ethnographischen Materials;
- Praxis des gegenseitigen Zitierens und Diskutierens;
- Identitätsbildung über die gemeinsamen Besuche von Manchester United (vgl. auch Barth 2005: 38).
Viewing themselves as a group of ecclectic and left-leaning marginals in an upper- middle- class academic discipline, both students and colleagues looked on Gluckman as their intellectual figurehead. (Mills 2006: 166)
Wie das Material aus den afrikanischen Feldforschungen, so wurden auch die ethnographischen Informationen aus den Manchester Shop Floor Studies zwischen 1959 (Lupton) und 1982 (Frankenberg) immer wieder auf Basis der neuesten theoretischen Entwicklungen in der Kultur- und Sozialanthropologie diskutiert und analysiert.
2.2.1.1 Blick auf Konflikte
Gesellschaften waren für Gluckman dynamische, sich verändernde, heterogene, mit Konflikten beladene Systeme. In jeder Gesellschaft existieren einander widersprechende Normen und Werte und aus diesen Widersprüchen resultieren Ambivalenzen und Konflikte. Die Struktur einer Gesellschaft erschließt man am ehesten durch die Analyse dessen, wie Menschen mit den jeder Gesellschaft inhärenten Widersprüchen umgehen, welche Mechanismen und Rituale der Konfliktlösung sie entwickeln.
Das primäre Forschungsinteresse von Max Gluckman und der Manchester School bewegte sich um die Themenfelder Krise und Veränderung. Diese Themen lagen zur damaligen Zeit keineswegs im Zentrum des anthropologischen Mainstreams (Kapferer 2006: 119). Bruce Kapferer zählt folgende Forschungsthemen der Manchester School auf:
- Urbane und industrielle Prozesse;
- Ethnizität und Arbeitsmigration;
- Monetarisierung von Dörfern und die globale Kapitalexpansion;
- Einführung neuer Macht- und Autoritätsformen während der kolonialen Herrschaft und die Widersprüche, die sich daraus ergeben;
- Dilemmata der Modernisierung in Zentren und Peripherien;
- Immigranten- und Siedlergemeinschaften und deren Erfindung und Rekonstruktion von Tradition u.v.a.m.;
Indeed, it was Gluckman and his associates who largely pioneered issues and themes that in many quarters these days are conceived to be vital to a reconstruction of anthropology as, through and through, the study of modernity. (Kapferer 2006: 119)
In den 1940er und 1950er Jahren hing Max Gluckman durchaus noch einem Strukturfunktionalismus Radcliffe-Brown’scher Prägung an. Er betrachtete die soziale Ordnung als organisches System, in dem die einzelnen Institutionen notwendig zur Aufrechterhaltung des Ganzen sind (Handelman 2006: 96). Gleichzeitig fokussierte er auf Krisen und Konflikte und vertrat die Meinung, dass es gerade die Konflikte wären, die eine Gesellschaft zusammen halten (Diel-Khalil/Götz 1999: 44). Obwohl Funktionalist, teilte er nicht das Gesellschaftsbild Malinowskis, der das harmonische Zusammenwirken der Institutionen betonte. Gluckmans Auseinandersetzung mit gesellschaftlichem Wandel und sozialen Prozessen führte ihn zunehmend weg von einer Sicht von Gesellschaft als geschlossenes System und hin zur Wahrnehmung der Offenheit von sozialen Feldern, zu einer prozessualen Sicht von Praktiken und Ereignissen, deren Ausgang nunmehr unabsehbar ist:
I now abandon altogether the type of organic analogy for a social system with which Radcliffe-Brown worked and which led me to speak of civil war (through rituals of rebellion) as being necessary to maintain the system. Social systems are not as nearly integrated as organic systems, and the processes working within them are not as cyclical or repetitive as are those in organic systems... I think therefore much more in terms of series of social processes... These are never perfectly adjusted; and hence processes do not cancel themselves out as in organic systems. (Gluckman 1963: 38-39, zit. nach Handelman 2006: 96)
Gluckman und die Manchester School beschäftigte immer mehr die Frage, wie die soziale Ordnung aus der sozialen Praxis heraus verstanden werden könnte.
2.2.1.2 Fokussierender Zugang
In der Manchester School lag der Fokus nicht mehr auf der ethnographischen Untersuchung der Gesellschaft als komplexes Ganzes, sondern auf Phänomenen der Veränderung, des Kulturwandels, auf Geschichte und Konflikten.
Analysiert wurden einzelne Gesellschaftssegmente, Handlungen und Situationen. Max Gluckman gilt als Begründer der "situational analysis“, die in der Folge von der Machester Gruppe zur "extended case method" weiter entwickelt und ausgebaut wurde (Evens/Handelman 2006). Ausgangspunkt dieser neuen methodischen Richtung war Max Gluckmans "Analysis of a Social Situation in Modern Zululand" (1940/42).
Einzelne Ereignisse und Situationen, in obigem Fall die Feierlichkeiten zur Eröffnung einer neuen Brücke in Zululand, werden genau beobachtet und möglichst umfassend beschrieben. Dann wird die Abfolge der Ereignisse und Handlungen im größeren sozialen und historischen Kontext analysiert. Gluckman ging damit weg vom holistischen Anspruch Malinowskis, sondern forderte die bewusste Eingrenzung, die methodisch gezielte Fokussierung des Blicks in der Betrachtung der komplexen Realität. Nur die ethnographisch extrem sorgfältige und genaue Darstellung von Einzelfällen oder Ereignissen ermöglicht die Aufdeckung der dahinter liegenden Prinzipien der sozialen Situation. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass sich in jedem Einzelereignis die Strukturen der ganzen Gesellschaft spiegeln.
Wird die Eingrenzung des Forschungsfeldes nicht bewusst vorgenommen, sondern der Anspruch erhoben, „alles“ zu sehen, - was nie und nirgends möglich ist – dann erfolgt die Eingrenzung unbewusst und methodisch unsauber. Über den Einbezug des Kontextes einer Situation in die Analyse lässt sich aus Einzelfällen auf Muster oder Strukturen der Gesamtgesellschaft schließen. Wobei sich die relevanten Kontexte der Situation zum Teil erst aus der Beobachtung der Situation selbst ergeben (vgl. Devons/Gluckman 1964).
Ethnographische Feldforschung ist für Max Gluckman und die Manchester School ein Handwerk, das man nur durch lange und mühsame Praxis erlernen kann.
2.2.2 Theoretischer Zugang der Manchester Shop Floor Studies
Auf Anregung von George Homans begannen 1955 die Feldforschungen in englischen Fabriken. Als Projektleiter wurde Tom Lupton an das Departement of Social Anthropology and Sociology at Manchester University geholt, MitarbeiterInnen waren: Sheila Cunnison, Shirley Wilson, Isabel Emmett, David Morgan und Michael Walker. Lupton wurde später Leiter und Professor an der Manchester Business School.
Ausgangspunkt der Manchester Gruppe war eine intensive Lektüre der bereits vorliegenden amerikanischen Publikationen der VertreterInnen der Human Relations Bewegung.
Was in Manchester nicht geteilt wurde, das ist Elton Mayos Annahme der grundsätzlichen Interessenharmonie zwischen Arbeitern und Management. Malinowski’s Funktionalismus ist im Übrigen auch von einem harmonischen Gleichgewicht in Gesellschaften ausgegangen. Auch der psychologische Individualismus von Mayo wurde nicht weiter verfolgt. Lupton und Cunnison sahen das Verhalten der ArbeiterInnen gegenüber den Produktionsanforderungen explizit als soziales Verhalten, das sie mit fabriksinternen und externen Faktoren erklären wollten. Die Erklärungsansätze der Human Relations Bewegung, die mit Irrationalität und psychologischer Fehlanpassung argumentierten, schlossen sie explizit aus (vgl. Lupton/Cunnison 1964).
Was die Manchester Shop Floor Studies auszeichnet, ist das ständige Reflektieren der Forschungspraxis und das Hinterfragen der eigenen Prämissen:
To treat of our present problem and our data in this way had been fruitful, but we now think that it might be more useful and enlightening if we were to regard workshop social situations, and indeed all social situations, as points of articulation of several role systems. We would then look at the individuals whose behaviour and relationships define our situations, as bearers of values and expectations typical of such systems. To see things this way would be to avoid the stress on productive roles, and make it possible to analyse the process fully by which certain types of social situation stress certain kinds of role behaviour. Thus the problem to be studied would be couched in terms of the situational relationship of elements within the social context, rather than with performance in an abstracted role system. (Lupton/Cunnison 1964: 128)
Dieses Nicht-in-einer-bestimmten-Position-Verharren bis jemand Neuer von außen kommt und einen widerlegt, ist ein deutlicher Unterschied zu den Studien aus der Human Relations Bewegung.
2.2.3 Erhebungsdesign
Mit dem Geld aus dem Marshall Plan sollten fünf verschiedene Firmen nach dem selben Erhebungsdesign untersucht werden. Es waren dies:
- Wye’s : Moderne Fabrik zur Herstellung von wasserfester Bekleidung; hauptsächlich Frauen beschäftigt (Tom Lupton)
- Jay’s: Herstellung von Industrietransformatoren; hauptsächlich Männer beschäftigt (Tom Lupton)
- Dee’s: Traditionelle Manufaktur zur Herstellung von wasserfester Bekleidung; sowohl Frauen als auch Männer beschäftigt (Sheila Cunnison)
- Kay’s: Schneidereibetrieb; sowohl Männer als auch Frauen beschäftigt (Sheila Cunnison)
- Avalco: Ventilmontagebetrieb; ausschließlich Frauen beschäftigt (Shirley Wilson)
In den fünf Studien haben alle ForscherInnen mindestens sechs Monate pro Fabrik Vollzeit gearbeitet, und zwar als „normale“ MitarbeiterInnen an den Fließbändern, Nähmaschinen etc. Dieses Vorgehen haben sie „open participant observation“ genannt, „offen“ deshalb, weil die ArbeitskollegInnen davon informiert waren, dass sie eine Studie machen und welche Ziele damit verfolgt werden. Das ist ein wesentlicher Unterschied zu Hawthorne, weil dort die Forscher nicht mitgearbeitet, nicht teilgenommen, sondern nur beobachtet haben (Cunnison 1982: 96).
Die Vorgangsweise, fünf Fabriken mit demselben Erhebungsdesign zu untersuchen, bot die Möglichkeit von expliziten Vergleichen.
In einer zweiten Phase der Manchester Shop Floor Studies wurden in den 1960er Jahren die Citroen-Werke aus drei verschiedenen Perspektiven untersucht: Isabel Emmett beforschte die Manager, David Morgan die Montagehalle und Michael Walker die Maschinenhalle (Emmett/Morgan 1982).
Der Manchester Gruppe ging es darum, auch die konkrete Arbeit und die Sprache der Leute zu erlernen und ihre Vorstellungen zu ergründen und zu verstehen. Ihr Feldforschungstagebuch mit den Aufzeichnungen des Beobachteten und Gehörten schrieben sie abends nach der Fabriksarbeit. Wichtig war dabei, von einem Ereignis sowohl das selbst Beobachtete zu beschreiben, als auch möglichst viele Erzählversionen zu sammeln, aufzuzeichnen und alle miteinander zu vergleichen (Emmett/Morgan 1982: 141).
Ziel war, nicht nur teilzunehmen, sondern "Insider" zu werden. "Outsider" blieben sie aber nicht nur durch die abendlichen Notizen, sondern auch durch ihr theoretisches Verständnis von Gesellschaft. Wie in den berühmten Seminaren der Manchester School of Anthropology laufend praktiziert, wurde jedes ethnographische Detail, jedes Ereignis, jeder Streitfall in der Fabrik von der Forschergruppe diskutiert und zu den vorhandenen theoretischen Modellen in Bezug gesetzt (Emmett/Morgan 1982: 161). Die laufende theoretische Diskussion erhält die Distanz aufrecht, die für Wissenschaft notwendig ist, während auf empirischer Ebene ein möglichst vollständiges Eintauchen in die untersuchte Gruppe gefordert wurde (Diel-Khalil/Götz 1999: 47ff). Daraus ergab sich das Spannungsverhältnis zwischen Teilnahme und Beobachtung, aus dem anthropologische Erkenntnisse gewonnen werden können:
(...) out of this tension between the two perspectives of an insider and an outsider, as participant and observer, anthropological analysis commences through the discovery of ’problems’. These are not a priori hypotheses. They arise from the interaction between the anthropologist’s wider understanding of social organization and the perspectives of workers learned in the field. (Wright 1994: 11)
2.2.4 Ergebnisse oder der Streit um den Kontext
Die erste Serie der Manchester Shop Floor Studies führte zu einem stark von den Hawthorne Experiments abweichenden Ergebnis. Die Männer bei Jay’s praktizierten ebenfalls eine bewusste Begrenzung des Outputs. Tom Lupton sah dies keineswegs als irrationale Handlung, denn aus einer "Insiderperspektive", sprich Arbeiterperspektive, ist es eine logische und nachvollziehbare Strategie, das Arbeitsleben aktiv mit zu gestalten. Die Arbeiterinnen bei Wye’s hingegen haben keine solidarischen Strukturen zur Steuerung ihres Outputs und damit zur Mitgestaltung ihres Arbeitslebens erkennen lassen.
Cunnison untersuchte eine Firma, in der weibliche Arbeitsgruppen um einen Tisch versammelt verschiedene Aufgaben wahrnehmen. Die einzelnen Arbeiterinnen kümmern sich nicht um steten gemeinsamen Arbeitsfluss, sondern zeigen "militanten Individualismus". In Cunnisons Vergleichsbetrieb (Dee’s) schienen sich die Arbeiterinnen individuell an die Outputanforderungen des Managements anzupassen, bis sie angesichts einer Krise plötzlich kollektiv handelten.
In jeder der fünf Fabriken zeigte sich eine ganze Reihe von Arten informeller Organisation unter den ArbeiterInnen und unterschiedliche Beziehungen zum Management. Das Spektrum reichte von totaler Anpassung an die Managementvorgaben bis zur versuchten kollektiven Steuerung des Outputs gegen die Vorgaben der Firmenleitung.
Daraus ergab sich nun das Problem, mit welchen theoretischen Modellen und Ansätzen diese Unterschiede erklärt werden können.
Dazu griffen die ForscherInnen auf ein Konzept Gluckmans zurück, das dieser 1940 entwickelt hatte: Eine konkrete soziale Interaktion, ein Ereignis, lasse sich aus dem historischen Gesamtsetting, aus dem Kontext, in dem dieses eingebettet ist, erklären.
Die Manchester ForscherInnen nahmen nun die Werkshalle als analytisch zentrale Situation her, auf die sie fokussierten, aber was ist der dazu gehörige soziale Kontext? Dieser relevante Kontext wurde in den einzelnen Studien ganz unterschiedlich gesehen.
2.2.4.1 Tom Lupton und die Spezifika der verschiedenen Branchen
Als erstes zog Tom Lupton die ökonomische und organisatorische Struktur der verschiedenen Industriezweige zur Erklärung heran. Einige Branchen sind hochkapitalisiert und technisiert mit geringer Bedeutung der Arbeitskosten. Auf Grund der Kostenintensität der technischen Anlagen haben sich die Betriebe spezialisiert, es gibt wenig Konkurrenz, man ergänzt sich und die Produktpreisgestaltung weist monopolartige Züge auf. Die Tätigkeiten sind stark spezialisiert und es handelt sich um qualifizierte Arbeit. In solchen Berufsfeldern sind die ArbeiterInnen in wesentlich höherem Ausmaß gewerkschaftlich organisiert (Lupton/Cunnison 1964).
Andere Industriezweige zeigen gegenteilige Strukturen: Hier ist die Arbeit zentraler Kostenfaktor und schlägt sich in der Preiskonkurrenz zwischen Betrieben mit ähnlichen Produktpaletten nieder. Die ArbeiterInnen selbst benötigen nur wenige Fähigkeiten, sie sind schlecht bezahlt und rasch ersetzbar. Nach Lupton sei eine Kontrolle über den Output durch die ArbeiterInnen eher in den hochtechnisierten Betrieben möglich. In arbeitsintensiven Bereichen unter der Bedingung eines Überangebots an verfügbaren Arbeitskräften, die keine Ausbildung benötigen und starker Preiskonkurrenz zwischen Betrieben bestehe stärkere Unterwerfung unter Managementnormen. Luptons These hat den ethnographischen Test nicht bestanden. Emmett und Morgan (1982: 144) haben in einer Fabrik gearbeitet, in der alle Bereiche gleichermaßen durchkapitalisiert sind und trotzdem wurden in verschiedenen Werkshallen unterschiedliche Arbeitsstile, Solidarität wie Konkurrenz, entwickelt.
2.2.4.2 Cunnison und die durchlässigen Fabrikswände
Ein besonderes Spezifikum der Manchester School bestand darin, eigenes und fremdes ethnographisches Material immer wieder neu auf verschiedene Theorien hin zu analysieren. Diese "reanalysis" (Evens/Handelman 2006: 162) wurde auch mit dem ethnographischen Material der Fabriksstudien gemacht. Der zweite Ansatz bestand dann darin, die unterschiedlichen Verhaltensmuster zwischen ArbeiterInnen und Management in den untersuchten Fabriken im Kontext der britischen Klassengesellschaft zu analysieren. Dazu wurde auf Gluckmans Konzepte über Konflikt zurückgegriffen.
Die VertreterInnen der Manchester School glaubten aber auch nicht an einen unüberbrückbaren Klassenkonflikt zwischen Arbeit und Kapital, sondern gingen von einem ungleichen System aus, in dem es sehr wohl Verknüpfungen ("cross cutting ties“), Paradoxien und unvorhergesehene Allianzen gäbe. Diese würden sowohl das System als auch die diesem System inhärenten Konflikte über die Zeit hinweg aufrecht erhalten. Cunnison (1982) spricht in diesem Zusammenhang von verschiedenen Stilen der Anpassung (accommodation).
Als nächstes sieht sie den Arbeitsplatz als einen Ort, an dem sich auch die Strukturen der nicht arbeitsbezogenen sozialen Einbettung der dort arbeitenden Personen äußern.
Die Fabrik sei kein geschlossenes System, die Produktion sei nur ein Bereich, in dem die/der ArbeiterIn eine Rolle einnimmt. Genauso wichtig seien die sozialen Rollen in der Gemeinschaft, die Geschlechterrollen in der Familie, Alter und Ethnizität. Susan Wright schrieb darüber 1994: "This model of ever-inclusive multiple roles from overlapping social structures was somewhat unwieldy“ (Wright 1994: 13). Aus heutiger Perspektive lassen sich Cunnisons Ansätze als frühe Differenzansätze sehen, wie sie in den letzten Jahren boomen und fast schon Konsens der Jahrtausendwende sind.
Wichtiges Ergebnis von Cunnisons Analysen: Verschiedene Verhaltensweisen der Arbeiterinnen in den Fabriken gegenüber dem Management lassen sich mit aus den Familien importierten Geschlechterrollen erklären. Das Verhalten der männlichen Arbeiter aber nicht. Cunnison wurde später besonders von der feministischen Forschung und den Gender Studies aufgegriffen.
2.2.4.3 Emmett und Morgan zu den Formen des Widerstands
Emmett und Morgan kritisieren an den publizierten Manchester Shop Floor Studies von Lupton und Cunnison, dass diese zwar Marx und die marxistische Analyse von sozialer Klasse nicht sonderlich erwähnen, aber trotzdem von einem unüberbrückbaren Gegensatz zwischen Arbeit und Kapital, den "inescapable fact of a conflict of interest between employers and employed" (1982: 146) ausgehen. Sie halten es für gleichermaßen naiv, von einer Interessenharmonie unter den Arbeitern auszugehen, wie von einem ständig präsenten und bewussten Klassenkampf. Die Widersprüche sind viel komplexer, die alltägliche, unmittelbare Auseinandersetzung wird nicht zwischen Arbeiter und Management geführt, sondern zwischen Arbeitern und Vorarbeitern einerseits, Vorarbeitern und Managern andererseits.
Emmett und Morgan (1982) argumentieren, das Verhältnis Arbeiter zu Management wäre nicht von offenem Klassenkampf geprägt, sondern von alltäglichen und vielfältigen, ständigen Handlungen der Auseinandersetzungen und des Widerstands. Dazu würden auch Verhaltensweisen wie Singen und Schweigen, Kartenspielen in der Pause und ein Überziehen der Pause, Krankenstände sowie am Abend mit dem Vorarbeiter Bier trinken gehen, gehören. Auch das Aufhängen von Pin-Ups sehen sie als Strategien der Arbeiter, die Arbeitsumgebung menschlicher zu machen (Emmett/Morgan 1982: 153f). Nur wenn man Widerstand so umfassend sieht, ist es möglich, Streiks an Orten zu verstehen, die keine gewerkschaftlich akzeptierten Formen des Klassenkampfs praktizieren.
We argue that, if such acts are not seen as part of a class struggle, investigators, and workers, run the risk of categorising as non- militant, without class consciousness, workers who, when the time is right for them, will indeed know how to act in solidarity. (Emmett/Morgan 1982: 154)
Diese Position, die Hervorhebung der vielen kleinen Formen des Widerstands, entsprach dem damaligen Zeitgeist. Obwohl Emmett und Morgan James Scott nicht erwähnen, so ist es doch ziemlich unwahrscheinlich, dass sie dessen bereits 1976 erschienenes "Domination and the Art of Resistence" nicht gekannt haben, da es auf sehr ähnliche Weise die vielfältigen Widerstandsformen von Kleinbauern reflektiert. Da ihre Feldforschungen im Rahmen der Manchester Shop Floor Studies vor 1982 nicht publiziert wurden, lässt sich nicht abschätzen, ob sie nicht doch schon vor Scott zu ähnlichen Ergebnissen gelangt sind.
2.2.4.4 Ausblicke
Die Suche nach dem Kontext am Arbeitsplatz zeigte, dass die Idee, die Sozialstruktur einer Gesellschaft ließe sich über face to face Kontakte zwischen Menschen in verschiedenen Rollen am Arbeitsplatz erklären, ihre Grenzen hat. Gegen Ende der Manchester Shop Floor Studies trat daher die Suche nach der Sozialstruktur der einzelnen Betriebe in den Hintergrund.
Eine neue Frage tauchte auf: Wie gehen Menschen mit ideologischen Konzepten um. Interessant schien nun, welche Bedeutungen ArbeiterInnen aus ihrer Außenwelt in die Fabrik importieren und wie diese Bedeutungen in den produktiven Prozess integriert werden. Dazu wurden Konzepte wie Goffman’s „semi-permeable membrane“ herangezogen. Nicht alle Aspekte eines Individuums sind am Arbeitsplatz relevant, manche bleiben außen vor, andere werden durch die Fabrik transformiert. Die Wände der Fabrikshalle werden als halbdurchlässige Membran interpretiert, an der die Selektion und Transformation der Bedeutungen und Rollen stattfindet (Emmett/Morgan 1982: 155ff).
In Manchester ging man also
- weg vom Harvard-Konzept der Fabrik als geschlossenes System Richtung Einbindung des weiteren gesellschaftlichen Kontexts;
- weg von der Vorstellung der Human Relations Bewegung, dass das "natürliche" Verhalten zwischen Arbeiterschaft und Management "spontane Kooperation" wäre, die nur durch den Mangel an Kommunikation gestört würde;
- weg von Konzeptualisierung von Fabrik und Gesellschaft als made up of structures hin zur Analyse der Art und Weise, wie Menschen auf Basis des ihnen verfügbaren kulturellen Repertoires aus einer bestimmten Situation Sinn machen, ihr Bedeutungen verleihen;
- weg von der Vorstellung, dass die Fabrik von nur einer gesellschaftlichen Spaltung geprägt wäre und zwar der zwischen Arbeit und Kapital, und hin zur Anerkennung weiterer Spaltungen, wie jene durch Ethnizität und Geschlecht.
Lupton, Cunnison and (above all, perhaps) Wilson were, long before it became fashionable, and long before ist vital importance became clear, concerned with class, gender and race on the shop floor. (Frankenberg 1982: 26)
2.2.5 Weiterführende Literatur und Quellen
Barth, Fredrik
2005 Britain and the Commonwealth. In: Fredrik Barth, Andre Gingrich, Robert Parkin and Sydel Silverman (eds.), One Discipline, Four Ways: British, German, French, and American Anthropology; pp. 1-57. Chicago, London: University of Chicago Press
Cunnison, Sheila
1982 The Manchester factory studies, the social context, bureaucratic organisation, sexual divisions and their influence on patterns of accommodation between workers and management. In: Ronald Frankenberg (ed.), Custom and Conflict in British Society; pp. 94-139. Manchester: Manchester University Press
Devons, Ely, and Max Gluckman
1964 Conclusion: Modes and Consequences of Limiting a Field of Study. In: Max Gluckman (ed.), Closed Systems and Open Minds: The Limits of Naïvety in Social Anthropology; pp. 158- 261. New Brunswick; London: AldineTransaction
Diel-Khalil, Helga, and Klaus Götz
1999 Ethnologie und Organisationsentwicklung. 2. Auflage. München: Rainer Hampp Verlag (Management-Konzepte, 3)
Emmett, Isabel, and D.H.J. Morgan
1982 Max Gluckman and the Manchester shop-floor ethnographies. In: Ronald Frankenberg (ed.), Custom and Conflict in British Society; pp. 140-165. Manchester: Manchester University Press
Evens, T.M.S., and Don Handelman (eds.)
2006a The Manchester School. Practice and Ethnographic Praxis in Anthropology. New York; Oxford: Berghahn Books
2006b Preface: Historicizing the Extended-Case Method. In: T.M.S. Evens and Don Handelman (eds.), The Manchester School. Practice and Ethnographic Praxis in Anthropology; pp. 159- 164. New York; Oxford: Berghahn Books
Frankenberg, Ronald (ed.)
1982a Custom and Conflict in British Society. Manchester: Manchester University Press
1982b Introduction: A social anthropology for Britain? In: Ronald Frankenberg (ed.), Custom and Conflict in British Society; pp. 1-35. Manchester: Manchester University Press
Gluckman, Max (ed.)
1964 Closed Systems and Open Minds: The Limits of Naïvety in Social Anthropology. New Brunswick; London: AldineTransaction
Handelman, Don
2006 The Extended Case: Interactional Foundations and Prospective Dimensions. In: T.M.S. Evens and Don Handelman (eds.), The Manchester School. Practice and Ethnographic Praxis in Anthropology; pp. 94-117. New York; Oxford: Berghahn Books
Kapferer, Bruce
2006 Situations, Crisis, and the Anthropology of the Concrete: The Contribution of Max Gluckman. In: T.M.S. Evens and Don Handelman (eds.), The Manchester School. Practice and Ethnographic Praxis in Anthropology; pp. 118-155. New York; Oxford: Berghahn Books
Kempny, Marian
2006 History of the Manchester ’School’ and the Extended-Case Method. In: T.M.S. Evens and Don Handelman (eds.), The Manchester School. Practice and Ethnographic Praxis in Anthropology; pp. 180-201. New York; Oxford: Berghahn Books
Kuper, Adam
1996 Anthropologists and Anthropology. The Modern British School. London; New York: Routledge
Lupton, Tom, and Sheila Cunnison
1964 Workshop Behaviour. In: Max Gluckman (ed.), Closed Systems and Open Minds: The Limits of Naïvety in Social Anthropology; pp. 103-128. New Brunswick; London: AldineTransaction
Mills, David
2006 Made in Manchester? Methods and Myths in Disciplinary History. In: T.M.S. Evens and Don Handelman (eds.), The Manchester School. Practice and Ethnographic Praxis in Anthropology; pp. 165-179. New York; Oxford: Berghahn Books
Scott, James
1976 Domination and the Arts of Resistence. New Haven: Yale University Press
Wright, Susan
1994 Culture in Anthropology and Organizational Studies. In: Susan Wright (ed.), Anthropology of Organizations; pp. 1-31. London and New York: Routledge
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