Ausgewaehlte Weiterentwicklungen der ethnographischen Feldforschung/Transnational
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5.6 Transnationale Forschungen
Verfasst von Ernst Halbmayer
Während die interpretative Anthropologie Clifford Geertz, die postmoderne Kritik der Writing Culture und die daraus resultierenden Überlegungen zur multi-sited Ethnography selbstreflektive Mikroanalysen ins Zentrum ihrer Aufmerksamkeit stellen, steht die transnationale Anthropologie in einem stärkeren Naheverhältnis zu einem Projekt der Makroanthropologie, welches auch die übergeordneten Strukturen der globalen Transformation der Welt in den Blick nimmt. Als Vorläufer sind hier insbesondere die Weltsystemtheorie Immanuel Wallersteins und die aus einer anthropologischen Perspektive darauf reagierende klassische Untersuchung Eric Wolfs "Die Völker ohne Geschichte" zu nennen, sowie in späterer Folge die Arbeiten von Arjun Appadurai (1996) und Ulf Hannerz (1992, 1996).
Transnationale Forschung (vgl. Hannerz 1998) überschreitet die Grenzen politisch definierter Einheiten und setzt räumlich gesehen weit entfernte Örtlichkeiten miteinander in Beziehung. Solche Forschungsfelder umfassen eine Bandbreite unterschiedlicher Bedeutungen und kultureller Formen. Sie fokussiert insbesondere auf die Verbundenheit, den Austausch, die Mobilität und die Interaktion zwischen unterschiedlichen Örtlichkeiten, sowie die Besonderheiten nationaler bzw. lokaler Aneignungen und Kontextualisierungen von Phänomenen. Sie hat somit auch eine vergleichende Dimension, ohne aber - wie die traditionelle vergleichende Anthropologie - von unabhängigen oder abgeschlossenen Untersuchungseinheiten auszugehen.
Zentrale Foschungsthemen und -bereiche, die aus dieser Perspektive Wichtigkeit erlangen sind Formen des Widerstandes gegenüber translokalen Einflüssen, aber auch die dadurch entstehende kulturelle Kreativität und neue Formen kultureller Diversität, der Hybridität und Kreolisierung.
Zu den untersuchten Translokalitäten (Appadurai 1995: 216) gehören Knotenpunkte innerhalb der transnationalen kulturellen Prozesse. Solche sind etwa Hotels, Flughäfen, Weltstädte oder Weltausstellungen, also Örtlichkeiten, die durch Mobilität und dem Zusammentreffen von Menschen unterschiedlicher Herkunft geprägt sind, die Marc Augé (1994) auch als Nicht-Orte bezeichnet.
Solche Translokalitäten werden auch entlang politischer Grenzen untersucht (border studies), wobei insbesondere die grenzüberschreitenden Beziehungen in den Fokus genommen werden. Es wird also das Verbindende und nicht das Trennende an den Grenzen thematisiert. Hier reihen sich auch die mittlerweile klassischen Themen der Migration und der Diaspora ein.
Andere zentrale Forschungsbereiche sind transnationale Organisationen und Unternehmen, Medien, Cyberspace aber auch Waren und das "soziale Leben von Objekten" (Appadurai 1988) in einer globalisierten Welt.
Methodisch basieren diese transnationalen Forschungen auf klassischen Verfahren, wie der teilnehmenden Beobachtung, dem Arbeiten mit Informanten, der Aufnahme von Lebensgeschichten, unterschiedlichen Interviewtechniken und textanalytischen Verfahren. Insgesamt kommt dem reinen face-to-face-Kontakt mit den Beforschten jedoch eine nicht mehr ganz so zentrale Rolle zu, da insbesondere die Untersuchung von Medien und medialen Produkten einen wichtigen Bestandteil dieser Untersuchungen darstellt.
Auch hier entscheidet das Thema bzw. das zu untersuchende Problem wer, wo und was untersucht wird. Die Untersuchungseinheiten sind aber nicht nur mulitlokal bzw. multi-sited, sondern translokal. Es handelt sich um ein Netzwerk von Örtlichkeiten und die deterritorialisierten Beziehungen zwischen diesen, wobei eine adäquate Konzeptualisierung und Beschreibung der translokalen Beziehungen und Verbindungen eine zentrale Rolle spielen (siehe Hannerz 1998).
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