Einführung in die Kinship Studies
Einführung in die Kinship Studies
Verfasst von Wolfgang Kraus„I believe that kinship is really the most difficult subject of social anthropology...“ (Malinowski 1930: 20)
Diese Online-Lernunterlage versteht sich als eine grundlegende Einführung in das Forschungsfeld der kultur- und sozialanthropologischen Kinship Studies. Im Gegensatz zu anderen Arten der wissenschaftlichen Auseinandersetzung geht es hier folglich nicht um eine kritische Sichtung und Bestandsaufnahme, um die persönliche Interpretation oder um eine in sich schlüssige theoretische Position. Stattdessen sollen die Grundbegriffe zur Beschreibung, Darstellung und Analyse verwandtschaftlicher Zusammenhänge vermittelt und in ihrer Einbettung in unterschiedliche Theorietraditionen dargestellt werden. Die Akzente, die dabei gesetzt werden, sind notwendigerweise selektiv und daher auch subjektiv.
Die anthropologischen Kinship Studies befassen sich mit der empirischen und kulturvergleichenden Untersuchung von Verwandtschaftsbeziehungen sowie mit den kulturellen Konzeptionen von Verwandtschaft. Sie haben in der Geschichte und Entwicklung der Kultur- und Sozialanthropologie über lange Zeit einen Kernbereich von Forschung und Theorienbildung dargestellt. J. A. Barnes stellte 1971 fest: „The study of kinship has been the central and distinctive feature of social anthropology ever since Morgan...“ (Barnes 1971: xxi). In den darauffolgenden Jahren hat diese Feststellung zwar einen Großteil ihrer Allgemeingültigkeit verloren. Aber auch heute bildet, mit veränderten Perspektiven und Fragestellungen, die Beschäftigung mit Verwandtschaft einen wichtigen Forschungsbereich innerhalb des Faches.
Vor allem seit den 1970er Jahren sind die meisten Grundannahmen der älteren Kinship Studies einer kritischen Überprüfung unterzogen worden. Diese Lernunterlage geht zwar auf diese Debatten ein; sie stellt aber nicht die daraus entwickelten neueren Perspektiven in den Vordergrund, sondern bietet in erster Linie einen historischen Überblick und führt in das fachspezifische Handwerkszeug zur Beschreibung und Analyse verwandtschaftlicher Beziehungen ein. Sie konzentriert sich daher auf die „klassischen“ Kinship Studies, versucht dies aber im Bewusstsein der an ihnen geübten Kritik zu tun. Wo also Begriffsdefinitionen oder deskriptive Werkzeuge auf Annahmen aufbauen, die heute nicht mehr unhinterfragt gelten, soll dies nach Möglichkeit kommentiert werden.
Wenn sich an Fragen der Verwandtschaftsanthropologie immer wieder zentrale theoretische Debatten entzündeten, so hat dies sicherlich damit zu tun, dass sich in diesem Forschungsfeld wichtige Grundfragen des anthropologischen Verständnisses sozialer und kultureller Zusammenhänge mit besonderer Deutlichkeit stellen. Womit soll sich eine anthropologische Betrachtung verwandtschaftlicher Beziehungen befassen? Mit expliziten Regeln und Normen, wie sie etwa im Bereich der Heiratswahl artikuliert werden? Mit der sprachlich-konzeptuellen Ordnung von Verwandtschaftsverhältnissen, die in Verwandtschaftsterminologien zum Ausdruck kommt? Mit impliziten kulturellen Deutungsmuster und Sinnzusammenhängen, die sich die handelnden Personen im Alltag kaum bewusst machen, oder mit den diesen Ordnungen zugrundeliegenden Denkstrukturen? Oder geht es um das beobachtbare Verhalten zwischen Personen, die von den Akteuren als verwandt verstanden werden? Wie hängen die erstgenannten kulturellen Faktoren miteinander zusammen, wie bestimmen sie das beobachtbare Verhalten? Was ist der Stellenwert mehr oder weniger objektivierbarer nichtkultureller Faktoren in diesen Zusammenhängen?
Für diese Fragen sind in der Theoriengeschichte des Faches sehr unterschiedliche Lösungen gefunden worden. Die meisten dieser Ansätze sind nicht richtig oder falsch per se; bei entsprechendem Forschungsinteresse liefern sie Antworten auf bestimmte Fragen und lassen andere unbeachtet. Sie reflektieren die historische Entwicklung der Kultur- und Sozialanthropologie ebenso wie unterschiedliche Epistemologien in diversen Spannungsfeldern wie etwa Kultur versus Struktur, Verstehen versus Erklären, Individuum versus Gesellschaft usw.
Kapitel dieser Lernunterlage
1. Kinship als Forschungsfeld
2. Was ist Verwandtschaft?
3. Geschichte der Kinship Studies
4. Neuere Entwicklungen
5. Deskriptive Darstellung genealogischer Beziehungen
6. Grundlegende Konzepte
7. Terminologische Systeme
8. Deszendenz
9. Allianz
10. Übungsaufgaben
11. Literatur
Inhaltsverzeichnis
- 1.1 Unterschiedliche Forschungstraditionen
- 1.2 Ist Kinship gleich Verwandtschaft?
- 1.3 Zum Nutzen von Verwandtschaft
- 2.1 Biologie und Kultur
- 2.2 Grundlegende anthropologische Perspektiven
- 2.3 Eine Definition von Verwandtschaft
- 2.4 Umfassendere Definitionen
3. Geschichte der Kinship Studies
- 3.1 Morgan und seine Zeitgenossen
- 3.2 Die Weiterentwicklung
- 3.3 Verwandtschaft im Funktionalismus
- 3.4 Verwandtschaft im Strukturalismus
- 3.5 Verwandtschaftsterminologie
- 3.6 Cross-Cultural-Forschung
- 4.1 Die kulturalistische Kritik
- 4.2 Feministische Anthropologie und Gender-Perspektive
- 4.3 Neue Reproduktionstechnologien
- 4.4 Aktuelle Perspektiven auf Verwandtschaft
5. Deskriptive Darstellung genealogischer Beziehungen
- 5.1 Rivers und die genealogische Methode
- 5.2 Kurznotation von Verwandtschaftsverhältnissen
- 5.3 Grafische Notation
- 5.4 Komplexe grafische Darstellungen
- 5.5 Unterschiedliche Formen von Genealogie
- 5.6 Kritik an der genealogischen Methode
- 6.1 Grundarten verwandtschaftlicher Verbindung
- 6.2 Kategorien von Verwandtschaftsverhältnissen
- 6.3 Familie und Haushalt
- 6.4 Postmaritale Residenz
Nächstes Kapitel: 1. Kinship als Forschungsfeld