Ethnische Religionen/Boen

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2.1 Bön in Tibet

verfasst von Manfred Kremser und Veronica Futterknecht

Im Folgenden soll die prä-buddhistische[1] Religion des Bön in Tibet in seinen unterschiedlichen Aspekten beleuchtet werden.

Bön war die vorherrschende Religion Tibets als im 8. Jahrhundert der Buddhismus ins Land gelangte. Bön war und ist geprägt von starken schamanischen und animistischen Elementen, hat jedoch im Laufe der Jahrhunderte eine Vermischung mit buddhistischen Glaubensinhalten erfahren.

Seit 1977 ist die Bön-Religion als fünfte Weisheitsschule, neben den vier Schulen des tibetischen Buddhismus[2], offiziell vom Dalai Lama anerkannt.

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 3.2
[2] Siehe Kapitel 3.2.3

Inhalt

2.1.1 Das Studium des Bön in der KSA

Der Artikel “The Study of Bon in the West: Past, Present and Future” des norwegsichen Anthropologen Per Kvaerne, die Einleitung zu dem Buch “New Horizons in Bon Studies“ (2000: S. 7ff), befaßt sich mit den verschiedenen Forschern und Wissenschaftern sowie deren Arbeit und Erkenntnissen, die maßgeblich an der Erforschung des Bön in Tibet beteiligt waren und sind.

Die Hauptfragen, die man sich hier stellte, lauten:

Was ist die Verbindung zwischen dem frühen, prä-buddhistischen Bön und den gegenwärtigen, organisierten religiösen Schulen des Bön?

Was ist die Beziehung zwischen Bön und Buddhismus?

Des Weiteren muß David L. Snellgrove erwähnt werden, der als einer der ersten westlichen Wissenschafter ausgedehnte Forschungsreisen in die Himalayaregionen unternommen hat und immer wieder mit Bön-Gemeinschaften zusammentraf. Er entdeckte, daß die Bönpos eine umfangreiche und unerforschte Literatur besaßen. 1960 traf Snellgrove einige gelehrte Bönpo- Mönche aus Tibet und er begann mit ihnen zusammen zu arbeiten. Das erste und sichtbarste Resultat dieser Zusammenarbeit war die Publikation „The Nine Ways of Bon“ (1967), welche zum ersten Mal eine systematische Präsentation der Lehren des Bön für den Westen zur Verfügung stellte. Es war dies die Zusammenarbeit mit dem Bön-Gelehrten und Abt des Klosters Menri in Dolanji, Nordindien, Löpon Tenzin Namdak. Die Hauptaussage deren gemeinsamer Theorien war die Feststellung, daß der post- 11. Jhd.- Bön keine unheimliche Perversion des Buddhismus darstellt, sondern eher eine eklektische Tradition ist, die gerade ihre buddhistischen Elemente betont statt sie zu negieren. Nichtsdestotrotz betonte Snellgrove immer wieder, daß der wirkliche Hintergrund des Bön in der buddhistischen Mahayana Tradition Nordindiens vermutet werden muß. Grundsätzlich hat Snellgrove den Bön als eine Form des Mahayana Buddhismus betrachtet.

Geoffrey Samuel ist Professor für Anthropologie der Universität Newcastle, Australien, und seine Hauptforschungsgebiete sind die Religionen Tibets. Er hat ein Modell für die frühe historische Entwicklung der Tibetischen Religion vorgeschlagen. Die erste Etappe (vor dem 7.Jhd.) ist gekennzeichnet von der ursprünglichen schamanischen Religion der Tibeter, zuerst in ihrer lockeren, staatenlosen Form und später in einer Proto-Staaten Prägung. Diese wird gefolgt von einer Periode der „Hofreligion“; Bönpo-Priester waren hier sowohl von der schamanischen Religion wie auch der frühen Religion Zhang Zhungs beeinflusst.


2.1.1.1 Entwicklung des Bön nach Hoffmann

Helmut Hoffmann, deutscher Indologe und Tibetologe, war der erste, der sich selbst die Aufgabe setzte, die Thematik des Bön in einem umfassenden Werk zu bearbeiten: „Quellen zu Geschichte der tibetischen Bön-Religion, 1950“.

Seine Arbeit ist eindrucksvoll und fundamental. Hoffmann behauptete, daß die ursprüngliche Bön-Religion charakterisiert war von einer totalen Abhängigkeit der Tibeter von ihrem natürlichen Umfeld. Um mit dieser Angst und Ehrfurcht, die die Natur und ihre Erscheinungen in ihrem Bewußtsein hervorgerufen hatte, umgehen zu können, verehrten die Tibeter Naturgeister und bedienten sich der Magie und Divination. Ihre komplett Natur-verwurzelten und Natur-dominierten religiösen Ideen drehten sich um die Mächte und Kräfte des unwirtlichen Hochlandes und begründeten so den Glauben an zahllose Götter, Geister und Dämonen. Hoffmann bediente sich in diesem Zusammenhang zweier Termini: Animismus und Schamanismus. Er ging davon aus, daß die ursprüngliche Bön-Religion die nationale tibetische Ausformung einer alten animistisch-schamanischen Religion war, die anfänglich nicht nur in Sibirien, sondern auch in Innerasien, Ost- und Westturkistan, der Mongolei, Mandschurei und in China vorherrschend war.

Der zweite wichtige Punkt in Hoffmanns Theorie war eine konkrete chronologische Abfolge der Entwicklung des Bön: Gemäß Hoffmann kann die Geschichte des Bön in drei Perioden gegliedert werden:

1.) Die prä-buddhistische Periode, die von einer animistisch-schamanischen Kultur und Auffassungsweise geprägt war.

2.) Diese Zeit war gekennzeichnet von dem Entstehen einer organisierten Priesterschaft und einer konkreten Doktrin, unter dem Einfluss von West-Tibet. So spielten die Einflüsse von Shivaismus, Gnostizismus und buddhistischem Tantra hier eine Rolle.

3.) Diese Etappe ereignete sich nach dem Triumph des Buddhismus. Anhänger des Bön waren nun gezwungen sich in entlegenere Gebiete Tibets zurückzuziehen und haben, um das Überleben ihrer Religion zu sichern, essentielle Elemente des Buddhismus kopiert.


2.1.1.2 Einteilung nach Kvaerne

Per Kvaerne schlägt in diesem Zusammenhang eine leicht unterschiedliche Einteilung vor:

1.) Die autochthone, prä-buddhistische Religion, die mit Samuels ursprünglich schamanischer Religion korrespondiert.

2.) Ein organisierter Kult, der möglicherweise die Person des Königs im Fokus hatte, beeinflusst von benachbarten Religionen wie Indien oder Iran und der sich sowohl in Tibet wie auch im Reich Zhang Zhung etablierte.

3.) Eine gegenwärtige Volksreligion oder „Religion ohne Namen“, die oftmals in der westlichen Literatur als Bön bezeichnet wurde.

4.) Die post-11. Jhd. organisierte, monastische Bön-Religion, die sich Yungdrung-Bön, unveränderlicher Bön, nennt. Diese Strömung stellte den Hauptforschungsschwerpunkt der letzten 50 Jahre dar.

Per Kvaerne plädiert in jedem Fall dafür, den Bön, trotz all seiner Gemeinsamkeiten mit dem Buddhismus, als eine eigenständige, separate Religion zu betrachten. Die gegenwärtige Mystifizierung des Bön betrachtet Kvaerne sehr kritisch und erwähnt hier die westlichen Projektionen in Bezug auf Tibet und seine Religionen. Nachdem sich die Begegnungen zwischen dem Westen und Tibet vervielfachen, wächst auch die Gefahr der Missinterpretationen. Bön ist ein Gebrauchsartikel im globalen Supermarkt der Religionen geworden, ein Objekt der New Age ökonomischen und ideologischen Ausbeutung. Es bleibt, diese kritischen Gedanken während des Studiums des Bön zu reflektieren.

Per Kvaerne plädiert in jedem Fall dafür drei Bedeutungen des Begriffs „Bön“ abzustecken und zu definieren um ein Studium und ein vergleichendes Arbeiten zu ermöglichen. Als Professor für Geschichte und Tibetologie der Universität Oslo gilt er als herausragend auf dem Gebiet der systematischen, wissenschaftlichen Erforschung Tibets und seiner religiösen und kulturellen Vielfalt. Seine Publikationen umfassen: An Anthology of Buddhist Tantric Songs: A Study of the Caryāgīti. Tibet: Bon Religion. A Death Ritual of the Tibetan Bonpos. The Bon Religion of Tibet: Iconography of a Living Faith.


2.1.1.3 Die drei Bedeutungen des Begriffs Bön

Die drei Bedeutungen des Begriffs Bön nach Per Kvaerne sind:

1.)

Bön bezeichnet die prä-buddhistische Religion Tibets, die schrittweise vom Buddhismus im 8. und 9. Jahrhundert verdrängt wurde. Diese Religion, die nur unperfekt auf der Basis alter Dokumente rekonstruiert werden konnte, scheint die Person des Königs, der als heiliges Wesen mit übernatürlichen Fähigkeiten erachtet wurde, ins Zentrum zu rücken. Ausführliche Rituale wurden von professionellen Priestern, genannt Bönpos, ausgeführt. Es ist möglich, daß hier die religiöse Doktrin und Praxis Bön genannt wurde. In jedem Fall war dieses religiöse System essentiell verschieden vom Buddhismus.

Die Rituale, die die Bönpo-Priester ausführten, waren vor allem darauf ausgerichtet, die Seele einer toten Person sicher in ein glückseliges Land zu befördern. Hier wurden Tieropfer angewandt, ein Yak, Pferd oder Schaf wurde stellvertretend geopfert. Diese Zeremonien hatten zweierlei Sinn: einerseits sollten sie das Glück der Verstorbenen im Land der Toten garantieren, andererseits sollte ihr nützlicher und wohlwollender Einfluß und das Wohlergehen und die Fruchtbarkeit der Lebenden gesichert werden.

2.)

Bön kann sich darüber hinaus auch auf eine Religion Tibets beziehen, die im 10. und 11. Jahrhundert in Tibet in Erscheinung trat, zur selben Zeit als sich gerade der aus Indien kommende Buddhismus im Erstarken befand. Diese Religion, die in einer ungebrochenen Tradition bis zum heutigen Tag fortbesteht, hat viele offensichtliche Gemeinsamkeiten mit dem Buddhismus, im Besonderen was Doktrin und Praxis betrifft, und zwar soviel, daß ihr Status als unabhängige, individuelle Religion zu bezweifeln wäre. Manche Forscher behaupten, Bön könnte als eine unorthodoxe Form des Buddhismus bezeichnet werden. Tibetische Buddhisten betrachten den Bön in jedem Fall als eine eingeständige Religion. Oftmals wurde die Tatsache, daß die Anhänger dieser Religion, die Bönpos, davon überzeugt sind, daß ihr Glauben älter als der Buddhismus ist, von westlichen Wissenschaftlern ignoriert oder geleugnet.

3.)

Der Begriff Bön wird weiters dazu verwendet, ein weites und umfangreiches Feld des „Volksglaubens“ zu bezeichnen, das von Divination (Prophezeiung) über den Kult der Lokal-Gottheiten bis hin zu Konzeptionen über die Seele reicht. Die tibetische Verwendung bezieht sich bei solchen Praktiken im Allgemeinen nicht auf den Begriff Bön, und nachdem sie weder einen essentiellen Teil des Buddhismus noch des Bön (wie in 2.)) darstellen, wäre der Begriff „nameless religion“ von V.R. Stein hier angebracht.


2.1.2 Entwicklung des Bön nach Christoph Baumer

- Urtümlicher oder Ursprünglicher Bön (Dö-Bön)

Dieser so benannte Bön dauerte hinein bis ins 1. Jahrhundert n. Chr. und bezeichnet eine namenlose Volksreligion, die sich mittels Zaubersprüchen und Opferritualen um die Besänftigung meist feindseliger Geister und Dämonen bemüht. Da die archaischen Gottheiten und Rituale lokaler Art waren, gab es keine einheitliche Lehre. Diese Epoche läßt sich deshalb auch als Lha-Bön, Bön der Gottheiten, bezeichnen.

- Irrender Bön (Kyar-Bön)

Die zweite Phase dauert bis zum 9. Jahrhundert n. Chr. Vermutlich wurden zu dieser Zeit die ersten Anstrengungen unternommen, die vielen verschiedenen lokalen Zeremonien zu vereinheitlichen und eine entsprechende Religionslehre zu entwickeln. Da es noch keine angemessenen Bestattungsrituale für die Könige gab, wurden Bönpo aus westlichen Nachbarländern eingeladen um neue Totenrituale einzuführen. Diese Epoche wird auch Dur- Bön, Bön der Gräber, genannt.

- Angepaßter oder Systematischer Bön (Gyur-Bön)

Diese Epoche beginnt im 11. Jahrhundert und ist durch vollständige Systematisierung des Bön zu einer einheitlichen Heilslehre geprägt. Obwohl diese letzte Entwicklung zur Assimilierung vieler buddhistischer Glaubensvorstellungen geführt hat, hat der Bön auf seinen Anspruch, die erste Religion Tibets zu sein, nie verzichtet.

Literatur:

Baumer, Christoph: Bön-Die lebendige Ur-Religion Tibets. Graz 1999.


2.1.3 Einteilung des Bön nach Tenzin Namdak

Tenzin Nadmak, der als der führende Theologe der Bönpo gilt, teilt die Geschichte des Bön folgendermaßen ein:

- Primitiver Bön

Er wies als Naturreligion viele Ähnlichkeiten mit dem Schamanismus der zentralasiatischen Völker auf. (Siehe ursprünglicher Bön)

- Alter oder Ewiger Bön (Yungdrung Bön)

Vom erleuchteten Meister Tönpa Shenrab gegründet, hat der ewige Bön gewisse schamanische Vorstellungen aus dem primitiven Bön übernommen. Nach einer Phase des Niedergangs im 8. Jhd. erfährt er eine Wiederbelebung im 9.Jhd. und gelangte so in Zentral-und Osttibet im 11.Jhd. zu neuer Blüte.

- Neuer Bön

Verbreitete sich im 19. Jahrhundert von den östlichen Provinzen Kham und Amdo ausgehend und übernahm viele Elemente der buddhistischen Schule der Nyingmapa[1].


Obwohl sich die Bönpo bis heute in Anhänger des Alten oder Neuen Bön aufteilen, bleiben die beiden Gruppen eng miteinander verbunden.

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 3.2.3.1


2.1.4 Vorstellungen des Kosmos im Bön: "Die drei kosmischen Welten"

Basis der Vorstellungen des Kosmos bildet die Annahme,

daß Götter und Geister die bedrohlichen Naturkräfte lenken, und sich durch Opfer besänftigen und günstig stimmen lassen .

Es gibt keine einzelne, übermächtige Gottheit, die den Kosmos lenkt, vielmehr besteht dieser aus einem dynamischen Gleichgewicht göttlicher und dämonischer Kräfte, die sich gegenseitig beeinflussen. Zu diesen Einflußfaktoren gehört auch der Mensch, der die Welt zeitlich gesehen nach den Geistern und Göttern betreten hat und sich ihnen deshalb anpassen muß. Hat er einmal eine solche übersinnliche Kraft aktiviert – beispielsweise durch das Übertreten eines Tabus – gerät die bisherige Harmonie aus dem Gleichgewicht. Der betreffende Mensch wird krank. Erst die Besänftigung der erzürnten Macht kann den vorangegangenen Zustand wieder herstellen bzw. den Kranken genesen lassen.

Gemäß dieser holistischen Weltanschauung ist der Mensch stets auf das engste mit der ihn umgebenden Umwelt verbunden. Deshalb besteht die Aufgabe des Bönpo- Priesters darin, zwischen den unsichtbaren Mächten und den Menschen zu vermitteln, damit das ursprüngliche Gleichgewicht wieder hergestellt wird.

So entstand eine unübersehbare Anzahl an lokalen Göttern und Geistern, denen allen ihr menschlicher Charakter gemeinsam ist: sie können wohlwollend oder bösartig sein, sind häufig launisch und leicht beleidigt, worauf sie die Menschen rasch mit einem Unglück oder einer Krankheit bestrafen.

Das Universum der Götter und Geister des Bön läßt sich in drei Sphären gliedern:

Lhayül, Miyül, Ogyül, entsprechend der himmlischen, der mittleren und der unteren Welt.

Das Zentrum bildet der heilige Berg Kailash, die Spitze des Kailash ragt wie eine kosmische Zeltstange durch ein Loch in die neun himmlischen Zonen hinauf und verbindet so Himmel und Erde. Durch die Öffnung dringt das ewige Licht, das Sonne, Mond und Sterne sowie die Erde erleuchtet. Zwischen dem Himmelszelt und der lotusförmigen Erde befindet sich die Mittelwelt, zu der auch unser Luftraum gehört. Die Bönpo nennen den Kailash Yungdrung Gutse, was soviel wie „neun übereinandergestapelte Swastiken“ bedeutet. Unter der Erde breitet sich die ebenfalls neun-stufige Unterwelt aus.


2.1.4.1 Die obere Welt Lhayül

Die himmlische Welt Lhayül

Lhayül ist die Heimat der weißen, friedfertigen Lha-Gottheiten. Grundsätzlich den Menschen gegenüber positiv eingestellt, können sie, bei Mißachtung von Geboten oder einem fehlerhaft ausgeführten Ritual, dennoch bestrafen. (Der Name Lhasa (Götter-Ort) leitet sich von hier ab.)

Neben den Lha werden aber auch die Gestirne, Sonne, Mond und Sterne, verehrt. Sonne und Mond gelten noch heute als Glückszeichen und werden in den Dörfern sowohl von Bönpo als auch von Buddhisten oft auf die Haustüre gemalt.

Grundsätzlich wird zwischen friedfertigen und zornvollen Gottheiten unterschieden. Darüber hinaus wird im Bön die weitere Unterteilung getroffen zwischen erleuchteten Gottheiten, die den karmischen Kreislauf und Geburt und Tod verlassen haben und Gottheiten, die von dieser Welt sind, den Gesetzen von Karma unterliegen und noch keine vollständige Erleuchtung erlangt haben.


2.1.4.1.1 Die friedfertigen Gottheiten

Die Gruppe der „Vier Grossen Seligen“, „the Four Transcendent Lords“, (P. Kvaerne) umfaßt die wichtigsten und beliebtesten friedfertigen Götter und besteht aus einer weiblichen und drei männlichen Gottheiten. Diese göttliche Tetrade ist ewig, manifestiert sich aber in jedem kosmischen Weltzyklus unter einem anderen Namen. Es sind dies die Mutter aller Wesen Satrig Ersang, der Gott der Weisheit Shenlha Wökar, der Weltgott Sangpo Bumtri sowie der Lehrmeister Tönpa Shenrab.

Satrig Ersang steht an der Spitze, ihr Name bedeutet etwa „erleuchtete Weisheit“, ihre beliebteste Erscheinungsform ist die der Chamma, der „liebenden Mutter“. Sartig Ersang wird gerne mit dem buddhistischen Bodhisattva Prajnaparamita verglichen, eine weibliche Gottheit der Weisheit und des Mitgefühls, doch haben wir es hier mit einem eigenständigen Konzept des Bön zu tun. Ihr essentieller Charakter ist die Weisheit, ihre Farbe ist Gelb, ihr Thron von Löwen umgeben, sie ist dem Osten zugeordnet.

Shenlha Wökar ist der erste Gott der männlichen Triade; er herrscht über den Norden. Sein Name läßt sich als „Priester-Gott des weißen Lichts“ übersetzen. Er gilt als Gott der Weisheit, als das ruhende göttliche Prinzip. Per Kvarene bezeichnet ihn als „unconditional being“ oder „supreme being“, als „body of Bon“ und zieht eine Verbindung zu Buddha Amithaba. Seine Farbe ist weiß, sein Thron wird von zwei Elephanten getragen.

Sangpo Bumtri ist der zweite Gott der Triade, ihm wird große Verehrung zuteil, er gilt als der Lenker des aktuellen Weltzeitalters. Per Kvaerne zieht hier eine Verbindung zum Hindu-Gott Brahma, doch besteht kein Zweifel, daß Sangpo Bumtri eine authentische tibetische Gottheit ist. Er tritt als Schöpfer des Universums, als Weltgott, auf. Sein Name reflektiert seine Bedeutung: sangs meint soviel wie „erleuchtet“, bum hunderttausend. Er ist also der erleuchtete Herr der unzähligen Lebewesen. Zwei kleine Khyung- Vögel stützen seinen Thron, er ist dem Westen zugeordnet.

Tönpa Shenrab wird als die dritte männliche Gottheit verehrt. Er ist der vergöttlichte Lehrer in unserem Zeitalter, wird oftmals mit Buddha Shakyamuni verglichen, doch die linksdrehende Swastika auf seiner Brust macht eine Verwechslung unmöglich. Geboren wurde Shenrab im Jahre 16016 v. Chr. im unvergänglichen Reich Olmolungring, welches als Zentrum der Zivilisation gilt und vom Berg Yungdrung Gutse beherrscht wird. Dieses Land soll ein Teil von Tazig (Persien) gewesen sein (vgl. M.A. Nicolazzi: Mönche, Geister und Schamanen, 1995). Die Beschreibung dieses Landes paßt aber auch um das Gebiet um den heiligen Berg Tise (Kailash), das einst den zentralen Teil des Landes Zhang Zhung bildete. Tönpa Shenrab ist die Himmelsrichtung des Südens zugeordnet. Die heiligen Lehren empfing er vom Weisheitsgott Shenlha Wökar. Shenrab war in seinem ersten Lebensabschnitt ein weltlicher Fürst, der frommen Königen half und feindliche Dämonen bekämpfte. Zeit seines Lebens war Shenrab ein Prediger des Bön, er hielt nicht nur den Menschen, sondern auch den Geistwesen Vorträge und erörterte mit ihnen eine Vielzahl an philosophischen und religiösen Fragen.

Zu den Gottheiten des Himmels zählt auch der Khyung -Vogel, der häufig als schützender Begleiter des Lehrers Shenrab Miwoche auftritt. Laut Per Kvaerne stellt dieser mythische Vogel ein altes tibetisches Konzept dar, ursprünglich unabhängig vom indischen Garuda, mit dem es erst später identifiziert wurde.

Dem Khyung – einem Wesen, halb Mensch, halb Vogel – kommt in der Bon-Religion eine große Bedeutung zu. Er diente bereits dem Bon-Stifter Tenpa Sherab, der ihn gegen das Schloß seiner Feinde anfliegen ließ, und er war Schützer der Shang-Shung-Dynastie. Westlich des Kailash soll ihm ein ganzes Tal gewidmet sein, so geht aus der Bon-Überlieferung hervor, in dem sich Khyunglung Ngulkar Karpo, das sagenhafte Silberschloß befand. In allen Bon-Litaneien wird dieser Ort als das heilige Land des Bon beschworen und alle Spuren deuten darauf hin, daß es im Sutley-Tal liegt. (Vgl. Bruno Baumann: Auf der Suche nach Shangri-La)

Khyung ist der unerbittliche Feind der Schlangen, sein Sieg über sie symbolisiert den Triumph der himmlischen Mächte über die bedrohlichen Kräfte der Dunkelheit. Laut Christoph Baumer ist der Raubvogel Khyung eine alttibetische Gottheit und weist keine Parallelen mit dem indischen Garuda auf.


2.1.4.1.2 Die zornvollen Gottheiten

Dazu gehören die und die Mu. Es soll 360 Dü geben, dessen König in einem neunstöckigen schwarzen Palast wohnt. Sie sind Dämonen himmlischer Sphären und stehen auf der Erde mit Krähen und schwarzen Schweinen in Verbindung. Die Macht dieser Dämonen wirkt auf die Menschen sehr beängstigend, weil sie auf Orte, Körper und Taten schädigend einwirken können. Die Mu hingegen haben die Gewohnheit die Menschen zu erschrecken und sie mit Durst oder Wassersucht zu plagen. Auch werden die Mu mit den Geistern von Verstorbenen in Verbindung gebracht. Dort, wo sie leben gibt es einen See aus geschmolzenem Metall, der als der Aufenthaltsort der Verstorbenen gilt.

Zu den zornvollen Gottheiten werden auch die Tutelargötter (Schutzgottheiten) oder Meditationsgottheiten (Yidam) gezählt. In der Auffassung des Bön werden innerhalb der erleuchteten Gottheiten jene, die in friedvoller Manifestation, von jenen, die in zornvoller Verkörperung erscheinen, unterschieden. Tantrische Praktiken, Rituale und Meditation entfalten sich rund um diese Gottheiten. (P. Kvaerne) Wie im tantrischen Buddhismus wird auch im Bön unter Tantra ein Lehrsystem verstanden, das dem Lernenden aufzeigt mit welchen Meditationspraktiken und Ritualen er sich der Erleuchtung annähern kann. Die Tutelargottheiten lassen sich auch als persönliche Schutzgottheiten verstehen, die sich in einem bestimmten Lehrzyklus dem Meditierenden offenbaren. Auf der höchsten Stufe erkennt der Meditierende, daß die Götter letztendlich über keine eigene Existenz verfügen, sondern Schöpfungen der karmischen Kräfte sind, die sich in seiner Person bündeln. Diese Erfahrung entspricht derjenigen des Verstorbenen im Zustand des Bardos, wenn er die wohlwollenden und furchterregenden Gottheiten als Projektionen karmischer Energien erkennt. Mit ihren vielen Armen schwingen die Yidam schreckliche Waffen, ihre Gesichter drücken Zorn und Kampfeslust aus. Umgeben von einem Feuerkranz, treten sie mit den Füssen die Feinde des Bön nieder. Sie werden nicht in sitzender Haltung dargestellt, sondern in einem dynamischen Tanzschritt. Dieser Tanz, der das Gleichgewicht der Kräfte im Kosmos aufrecht erhält, wird in jedem Kulttanz von den Trägern der furchterregenden Masken symbolisch wiederholt.

Auch wenn diese Yidam des Bön auf den ersten Blick ähnlich aussehen wie die buddhistischen Tutelargottheiten, besitzen sie ihre eigene Charakteristik und eine unverwechselbare Ikonographie.


2.1.4.2 Die mittlere Welt Miyül

Der Name zeigt an, daß diese Welt die unsere ist, Mi bedeutet Mensch und Yül Welt. Die in der vorbuddhistischen Zeit mächtigen Tsen-Geister halten sich vor allem in dieser mittlern Welt auf, sie hausen am liebsten in Felsen, Schluchten, Gletschern und Bäumen. Sie sind ortsgebunden und werden als Herrscher über einen bestimmten Bezirk und dessen Einwohner verehrt. Sie sind kriegerische Gottheiten, treten meist gepanzert und beritten auf und haben eine rote Körperfarbe. Sie gelten als überaus mächtig und leben in der buddhistischen Tradition als Beschützer der Lehre weiter. Sie sind die Beherrscher der unzähligen Nyen. Gerade die Tsen waren es, die sich häufig eines Menschen bedienten, um zukünftige Ereignisse kundzutun. Ein Gutteil der im alten Tibet so zahlreichen Besessenheitsmedien, deren Rat und Weissagung in allen Angelegenheiten so gerne in Anspruch genommen wurde, waren Sprachrohr der Tsen. Wurden die Tsen mißachtet oder beleidigt, so rächten sie sich durch das Abschießen unsichtbarer Pfeile, die Krankheit und Verderben brachten. Die Verehrung der Tsen ist in der tibetischen Volksreligion bis heute lebendig geblieben.

Neben den Tsen gehören auch die untergeordneten Astralgeister der Nyen zur Miyül-Mittelwelt. Sie wohnen in der Sonne, im Mond und in den Sternen und können Pest, Pocken und Lähmungen verursachen. Sie gelten als überaus bösartig. Manchmal steigen sie sogar ins Wasser, was darauf schließen läßt, das sie möglicherweise mit den Klu verwandt sind.

Mit den Tsen und Nyen eng verwandt sind die lokalen Berggottheiten, die oftmals keine eigene Bezeichnung haben, sondern bloß Yül-LhaLokalgottheit“ genannt werden. Sie vermitteln zwischen Himmel und Erde und tragen so zur universellen Harmonie bei. Die Berggeister sind launenhaft und unberechenbar, genauso wie das Wetter, das sie kontrollieren. Sie herrschen über das umliegende Gebiet, sind sehr sensibel und reagieren empfindlich auf Fehlleistungen des Menschen, indem sie Hagel- oder Schneestürme auslösen, Dürre bewirken oder Erdbeben veranlassen können. Deshalb genießen sie bei allen Tibetern - Bönpo wie Buddhisten - besondere Verehrung. (Auf jedem Paß und manchem Gipfel findet sich ein „Lhatse“, ein der Gottheit geweihter Steinhaufen, den jeder Reisende mit einem kleinen Stein erhöht.) Jeder Berg hat seinen eigenen Charakter, seine spezifische energetische Ausstrahlung und beeinflußte wesentlich nicht nur das Klima und die Wetterverhältnisse seiner Umgebung, sondern auch die Lebensweise der in seinem Umfeld lebenden Menschen. Der Berg wachte auch als Schutzgottheit über die Einhaltung der gesellschaftlichen Normen zwischen all jenen Menschen, die in seinem Einflußbereich lebten. Verstieß auch nur ein Einzelner gegen die religiöse oder soziale Ordnung der Gemeinschaft, so konnte der Berg bzw. seine Gottheit dem Dorf seinen Schutz entziehen.

Einige besonders auffällige Berge wurden als Sitz bedeutender Berggottheiten verehrt. Der heiligste Berg Tibets ist der Yungdrung Gutse (Kailash, 6714m), er ist die Residenz des wichtigen Bön-Schutzgottes Ku-Lha Gekhö. Der Berg ist Ursprung vier großer Flüsse (Sutlej, Indus, Brahmaputra, Karnali), bildet zusammen mit diesen vier Quellen ein riesiges Mandala, der Berg repräsentiert den zentralen Weltenbaum, die vier Quellen die vier äußeren Tore. Der Kailash wird sowohl von Buddhisten, Bönpo, Hindus und Jainas verehrt.

Die ursprünglich animistische Verehrung der tibetischen Berg-Gottheiten fand, ihrer großen Bedeutung wegen, auch in den Buddhismus Eingang. Als Schutzgottheiten der buddhistischen Lehre wurden sie in die Kosmologie und das Pantheon der tibetischen Buddhismus integriert, und die Rituale wurden zu einem wichtigen Aufgabenbereich der buddhistischen Mönche und Lamas.


2.1.4.3 Die Unterwelt Ogyül

Die wichtigsten Bewohner der Unterwelt („Og“ bedeutet unten) sind die Klu-Wassergeister und die Sadag-Erdgeister.

Die Klu, die als Schlangengeister später den indischen Nagas zugeordnet wurden, herrschen über die verschiedenen Gewässer. Viele Klu sind weiblichen Geschlechts und heißen dann Lumo. Diese Geister leben sowohl in der Unterwelt als auch in der mittleren Welt der Menschen und symbolisieren so die Verbindung zwischen den beiden Daseinsbereichen. (So wie der Khyung-Vogel die mittlere und die obere Welt verknüpft.)

Die Klu werden sehr geschätzt und gefürchtet, einerseits können sie Regen bringen, andererseits gelten sie als Verursacher von Lepra und Geschwüren. Der natürliche Feind der Klu-Schlangen ist der Khyung-Vogel, der in seinem Schnabel eine Schlange hält und so als Besieger der unberechenbaren Lu-Geister verehrt wird.

Die Sadag-Erdgeister konfrontieren in erster Linie den seßhaften Ackerbauern mit ihrer Macht. Da sie die Erdoberfläche bewohnen, kann kein Feld gepflügt, keine Ernte eingebracht oder kein Haus gebaut werden, ohne daß sie vorher durch Gebet und Opfer beschwichtigt werden, das sie sonst mit Krankheiten bestrafen würden.

(Kloster Samye, das erste buddhistische Kloster in Tibet: Dessen Mauern wurden von Sadags und andern Bön-Gottheiten immer wieder zum Einsturz gebracht. Erst Padmasambhava war in der Lage; die Macht der Erdherren zu brechen und den Klosterbau zu Ende zu bringen.)

In gewissem Sinne haben die Sadag und die Klu eine ökologische Funktion, da sie mit Argusaugen darüber wachen, daß das natürliche Gleichgewicht des Lebensraumes durch die Eingriffe der Menschen nicht unüberlegt gestört wird. Diese bewahrende Rolle zeigt sich besonders bei Tabus wie denjenigen des übermäßigen Jagens oder Rodens, der Ausbeutung von Erzen oder der Verunreinigung von Quellen und Gewässern.

Die Bönpo-Priester gelten als die Vermittler zwischen der Welt der Menschen und der Welt der Geister.

(Luftbestattung der Tibeter: Angst; die Geister könnten durch das Ausheben eines Grabes gestört werden.)

Diese Traditionen gründen auf einem ganzheitlichen Weltbild, wonach die Mißachtung eines Tabus in der Welt der Menschen automatisch eine entsprechende Auswirkung in der Welt der Geister nach sich zieht. Das eintretende Unheil, wie z.B. eine Krankheit, wird als Symptom für eine gestörte moralische Ordnung gedeutet. Genesung wird als Ausdruck einer wiederhergestellten kosmischen Ordnung betrachtet.

Sowohl Bön wie auch buddhistischer Lamaismus binden durch ihr pantheistisches Weltbild den Menschen in ein engmaschiges aber weitverzweigtes horizontales Netz von Glaubenssätzen und Ritualen ein, das auch die Natur und deren Mächte und die Tiere umfaßt.

Nur ein beständiger Austausch - die Aufrechterhaltung einer sensiblen Balance zwischen Geben und Nehmen - konnte die Lebensgrundlage der Menschen sichern und ein glückliches Leben gewährleisten. Achtsamer und respektvoller Umgang mit der Natur und Rücksichtnahme auf die Bedürfnisse ihrer Wesenheiten bildeten für die Tibeter die Basis für ein harmonisches Zusammenleben zwischen Götter, Naturgeistern und Menschen.

(Das war ein kurzer Ausschnitt des Pantheons der Götter und Geister des Bön.)


2.1.5 Literatur

Hoffmann, Helmut. 1950. Quellen zur Geschichte der tibetischen Bön-Religion. Wiesbaden

Kvaerne, Per. 1995. The Bon Religion of Tibet. London: Serindia Publ.

Baumer, Christoph. 1999. Bön: Die lebendige Ur-Religion Tibets. Graz: Akad.Dr.-u.Verl.-Anst.

Karmay Samten Gyaltsen. 2000. New Horizons in Bon Studies. Osaka: National Museum of Ethnology

Samuel, Geoffrey. 2005. Tantric Revisionings: New understandings of Tibetan Buddhism and Indian religion. Aldershot: Ashgate

Tenzin Wangyal Rinpoche. 2004. Wonders of the natural Mind: The essence of Dzogchen in the native Bon tradition of Tibet. Delhi: New Age Books

Schuster, Gerhard. 2000. Das Alte Tibet: Geheimnisse und Mysterien. Wien: NP-Buchverl.

Nicolazzi, Michael Albrecht. 1995. Mönche, Geister und Schamanen: Die Bön- Religion Tibets. Solothurn: Walter

http://www.bonfoundation.org/[1]

https://web.archive.org/web/20080509145033/https://www.yungdrung-bon.net/[2]

http://www.ligmincha.org/[3]


Verweise:
[1] http://www.bonfoundation.org/
[2] https://web.archive.org/web/20080509145033/https://www.yungdrung-bon.net/
[3] http://www.ligmincha.org/


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