Soziale Ungleichheit/Theorien Sozialer Schichtung
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Contents
9.1 Theorien sozialer Schichtung
verfasst von Theresa Fibich und Rudolf Richter
Der Begriff der sozialen Schichtung kommt ursprünglich aus der Geologie, womit eine vertikal angeordnete ' Struktur des Gesteins bezeichnet wird (Abels 2009a: 265). Die Soziologie der sozialen Schichtung geht der Frage nach, warum Individuen und Gruppen eine höhere bzw. niedrigere Position in einer (vertikalen) Rangordnung zugeschrieben wird, warum sie sich diese auch selbst zuschreiben und welche Auswirkungen dies auf die Gesellschaft hat.
Inhalt
9.1.1 Geschichte sozialer Schichtung und die Bolte-Zwiebel
Bis zur Moderne war Europa auf Grundlage religiöser Vorstellung in eine scheinbar „natürliche“ soziale Rangordnung gegliedert. Religiöse Legitimation bot die Grundlage sozialer Ordnung (z.B.: Ständegesellschaft) und war gottgegeben. Die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Schicht implizierte Privilegien, Kleidungsvorschriften, Besitz von Land/Besitz, Arbeit etc. (vgl. beispielsweise "Policey Ordnung" in Abels 2009a: 269). Nach der französischen Revolution, die von der Idee der natürlichen Gleichheit aller Menschen getragen wurde, traten Besitz und Leistung als zentrale Kriterien sozialer Differenzierung in den Vordergrund.
Bei Betrachtung der sogenannten Bolte-Zwiebel (benannt nach Karl Martin Bolte) sieht man deutlich den Unterschied zwischen dem Rangaufbau einer vorindustriellen Agrargesellschaft und der heutigen westlichen Industriegesellschaft:
Die Mittelschicht ist deutlich breiter geworden. Nur wenige Personen finden sich ganz „oben“ bzw. ganz „unten“.
9.1.2 Soziale Klassen bei Karl Marx
Karl Marx[1] (1818-1883) gibt eine der bekanntesten Antworten auf die Frage, wie es zu sozialer Schichtung bzw. sozialer Ungleichheit kommt. Er sieht die Beziehung zu den Produktionsmitteln als zentralen Mechanismus, der die Position innerhalb einer Gesellschaft bestimmt. So unterscheidet er zwischen zwei Gruppen in einer Gesellschaft: Der Bourgeoisie, den BesitzerInnen der Produktionsmittel wie Maschinen, Rohstoffe, Boden etc. und dem Proletariat, das über keinen Besitz verfügt und seine Arbeitskraft verkaufen muss, um seine Bedürfnisse zu befriedigen. Marx prognostiziert eine Revolution der Arbeiter, wenn diese sich ihrer verelendeten und unterdrückten Lage bewusst werden (vgl. Abels 2009a: 272).
Verweise:
[1] http://agso.uni-graz.at/lexikon/klassiker/marx/30bio.htm
9.1.3 Klassen und Stände bei Max Weber
Laut Max Weber[1] ist die Klassenlage nicht ausschließlich durch die Produktionsverhältnisse bestimmt (im Gegensatz zu Marx[2]). Ökonomische Verhältnisse spielen zwar eine zentrale Rolle, sie sind aber nicht der einzige Faktor. Weber unterscheidet zwischen Klassen und Ständen, wobei er Klasse mit ökonomischen Aspekten verbindet. In der ständischen Gliederung hingegen stehen Ehre und die Lebensführung im Zentrum. Diese bezeichnet eine „(…) typische Komponente des Lebensschicksals von Menschen, welche durch eine spezifische, positive oder negative, soziale Einschätzung der »Ehre« bedingt ist, die sich an irgendeine gemeinsame Eigenschaft vieler knüpft“ (Weber 1980 [1922]: 534). Es handelt sich also um eine „spezifisch geartete Lebensführung“ (ebd.: 535). Ein „Wir“-Gefühl impliziert eine Abgrenzung zu anderen, die nicht standesgemäß sind. „Man könnte also, mit etwas zu starker Vereinfachung, sagen: »Klassen« gliedern sich nach den Beziehungen zur Produktion und zum Erwerb der Güter, »Stände« nach den Prinzipien ihres Güterkonsums in Gestalt spezifischer Arten von »Lebensführung«“ (ebd.: 538).
Verweise:
[1] http://agso.uni-graz.at/lexikon/klassiker/weber/49bio.htm
[2] Siehe Kapitel 9.1.2
9.1.4 Mentalität bei Theodor Geiger
Auch Theodor Geiger[1] (1891-1952) kommt zu dem Schluss, dass nicht alleine die Beziehung zu den Produktionsmitteln ausschlaggebend ist, um die soziale Lage eines Individuums zu erfassen. Diese präge allerdings „Lebensstil und Lebenschancen“ (Abels 2009a: 284). Neben beruflichem Status, Bildungsniveau und Religion sieht er die Mentalität (Lebenshaltung, Gewohnheiten des Konsums, Freizeitgestaltung, Formen des Familienlebens etc.) als zentralen Faktor an. Er geht davon aus, „dass ein bestimmtes Denken und Handeln der Menschen in ähnlicher sozialer Lage wahrscheinlich ist“ (Abels 2009a: 282). Neuere Theorien sozialer Ungleichheit[2] sprechen daher weniger von Schichten sondern von sozialen Milieus und Lebensstilen.
Verweise:
[1] http://agso.uni-graz.at/lexikon/klassiker/geiger/17bio.htm
[2] Siehe Kapitel 9.3
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