Staatliche Organisationen und Non-Profit-Organisationen/NPOs

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4.1 Dienstleistungseinrichtungen und Verwaltungsorganisationen

Verfasst von Gerlinde Schein und Gertraud Seiser

Seit etwa 1950 ist ein weltweites Anwachsen des tertiären Sektors (Dienstleistungseinrichtungen und Verwaltungsorganisationen mit regulierenden und redistributiven Funktionen) zu beobachten. Alle diese Organisationen haben eines gemeinsam: "In interacting with these organizations people were constructed as ’clients’. As Collmann puts it ’clients’ are bureaucratic creations" (Wright 1994: 161).

Je nachdem wie dieses Verhältnis zwischen Klienten und Organisation gestaltet ist, und wer die jeweiligen Nutznießer sind, lassen sich vier Typen von Organisationen im Dienstleistungs- und Verwaltungssektor unterscheiden:

  • Gemeinwohlorganisationen: Dazu gehören z.B. die Steuerbehörden und die Polizei. Nutznießer ist die Allgemeinheit, die "Klienten" im Sinne der unmittelbar von Amtshandlungen Betroffenen zeigen diesen Organisationen gegenüber meist ein ambivalentes Verhältnis.
  • Dienstleistungsorganisationen wie Krankenhäuser oder Wohlfahrtseinrichtungen nützen individuellen Klienten, die deren Dienste benötigen. Es handelt sich dabei entweder um öffentliche Einrichtungen mit Redistributionscharakter oder um private Non- Profitorganisationen.
  • Organisationen zum gemeinsamen Nutzen (mutual benefit organizations) wie Gewerkschaften oder Genossenschaften dienen in erster Linie den Interessen ihrer freiwilligen Mitglieder.
  • Privatwirtschaftliche Dienstleistungseinrichtungen (Banken, Fluglinien etc.) haben als primäre Nutznießer die Eigentümer, die Gewinn erwirtschaften wollen. (Blau/Scott 1962, nach Wright 1994: 162).

Gegenüber diesen vier Typen von Dienstleistungsorganisationen empfinden sich die Klienten oder Kunden in unterschiedlichen Machtpositionen. Und genau diese Beziehungen zwischen "KlientInnen" und Organisationen sind in den letzten Jahrzehnten Gegenstand zahlreicher anthropologischer Untersuchungen geworden. Ein Großteil aller Artikel der Zeitschrift "Human Organization" ist dem Themenfeld einer "anthropology from below" (Wilson 1998) zuzuordnen. Dieses neue und ständig wachsende Forschungsfeld von Kultur- und SozialanthropologInnen hängt mit gesamtgesellschaftlichen Veränderungen zusammen. Die ungeheure Ausweitung und Ausdehnung des tertiären und bürokratischen Sektors in den letzten 50 Jahren in allen Teilen der Welt hat auch zu zunehmendem Widerstand der "KlientInnen" geführt. Immer mehr Menschen fühlen sich von mächtigen Organisationen zu Objekten degradiert (in Krankenhäusern, auf Sozialämtern, in Schulen, am Bankschalter, gegenüber der Gewerkschaftsführung, der Kirchenleitung, den Einwanderungsbehörden). In Europa wird daher ausgehend von Großbritannien ab Ende der 1970er Jahre über "empowerment" oder "Selbstermächtigung" der Bürger gegenüber diesen Organisationen in allen politischen Lagern diskutiert (Wright 1994).


Inhalt


4.1.1 Organisationen als Bürokratien

Bürokratische Macht von Organisationen ist omnipräsent, als Kultur- und SozialanthropologInnen und Individuen sind wir ständig damit konfrontiert. Josiah Heyman (2004) fordert eine explizite empirische wie theoretische Auseinandersetzung der Kultur- und Sozialanthropologie mit Bürokratie. Und er fordert dazu auf, sich jedenfalls eine Meinung dazu zu bilden, denn:

Through funding of graduate training projects and provision of postgraduation jobs, bureaucracies have significant effects on career trajectories and orientations to knowledge. We usually work for bureaucracies, including universities, hospitals, and devlopment agencies. Finally, although anthropologists are on the whole romantic populists and rebels against routinization, we are by no means immune to the cultural effects of the bureaucratization of society. (Heyman 2004: 495)

Ein zentrales Charakteristikum von Bürokratien ist, dass sie "entpersonalisierte Machtinstrumente" sind. (Heyman 2004: 488). Sie sind nicht nur - wie Max Weber sie idealtypisch herausgearbeitet hat - Mittel zum Zweck in rational agierenden modernen Gesellschaften, sondern sie bringen selbst Macht hervor. Bürokratien gestalten politische Prozesse. Sie produzieren soziale "Indifferenz" im Sinne dessen, dass sie nicht das Besondere jedes individuellen Falles anerkennen, sondern jeden Fall nach ihrem bürokratischen Muster behandeln. Indifferenz wird so zur Zurückweisung der allgemeinen Menschlichkeit, zur Verweigerung von Identität und der Besonderheit jeder Person (Herzfeld 1992).

Bürokratien sind zur Organisation großer komplexer Gesellschaften unvermeidlich, da sie aber genau so unvermeidlich dazu tendieren ein Eigenleben zu entwickeln, sind sie einer laufenden demokratischen Kontrolle zu unterziehen. Engagierte anthropologische Forschung im Interesse der Betroffenen kann dazu beitragen, unerwünschte bürokratische Effekte aufzudecken und bei Gegenstrategien zu unterstützen (Heyman 2004).

Foto: EU-Außengrenze Polen-Ukraine (© Gertraud Seiser, 2007)



4.1.1.1 Charakteristika von Bürokratien nach Max Weber

Max Weber hat einen Idealtypus "moderner" Verwaltung skizziert, der seiner Ansicht nach die Grundlage für "rationale, legale" Herrschaft sein muss (Weber 1922: 219ff).

Dazu gehören:

1. Ein kontinuierlicher, regelgebundener Betrieb von Amtsgeschäften innerhalb einer

2. klaren und sachlich abgegrenzten Zuständigkeit und der für die Leistungsverpflichtung eventuell erforderlichen Befehlsgewalt. Sind Zwangsmittel zur Durchsetzung der Aufgaben erforderlich, so müssen das Ausmaß und die Voraussetzung für die Anwendung dieser Zwangsmittel festgelegt sein.

3. Prinzip der Amtshierarchie im Sinne einer Ordnung der Befehlshierarchie und der Kontroll- und Beschwerdemöglichkeiten.

4. Klare Regeln, nach denen zu verfahren ist und die entsprechende Ausbildung und Fachschulung der Personen, die diese Regeln anzuwenden haben.

5. Prinzip der vollen Trennung von Privatvermögen und dem Vermögen, das vom Beamten zu verwalten ist. Hinzu kommt die vollständige Trennung von seinem Haushalt und der Amtsbetriebsstätte oder dem Büro.

6. Es gibt kein Recht einer Person auf ein bestimmtes "Amt", außer dies ist sachlich zur Sicherung der unabhängigen, ausschließlich normengebundenen Arbeit im Amt notwendig.

7. Die Verwaltung hat aktenmäßig zu erfolgen. Aktenmäßigkeit der Verwaltung bedeutet, dass zumindest Anträge, Entscheidungen, Verfügungen und Verordnungen schriftlich dokumentiert werden.

Diese Grundprinzipien des bürokratischen Handelns unter den Bedingungen von "rationaler Herrschaft" gelten nach Weber für große Privatbetriebe, Parteien, Armeen, für Staat und Kirche gleichermaßen (Weber 1922: 220).

Dazu Max Weber im O-Ton:

Die rein bürokratische, also: die bürokratisch-monokratische aktenmäßige Verwaltung ist nach allen Erfahrungen die an Präzision, Stetigkeit, Disziplin, Straffheit und Verlässlichkeit, also: Berechenbarkeit für den Herren wie für die Interessenten, Intensität und Extensität der Leistung, formal universeller Anwendbarkeit auf alle Aufgaben, rein technisch zum Höchstmaß der Leistung vervollkommenbare, in all diesen Bedeutungen: formal rationalste, Form der Herrschaftsausübung. Die Entwicklung "moderner" Verbandsformen auf allen Gebieten (Staat, Kirche, Heer, Partei, Wirtschaftsbetrieb, Interessenverband, Verein, Stiftung und was immer es sei) ist schlechthin identisch mit Entwicklung und steter Zunahme der bürokratischen Verwaltung: ihre Entstehung ist z.B. die Keimzelle des modernen okzidentalen Staats. (Weber 1922: 224)

Diese idealtypische Form der Bürokratie war für Max Weber mit "rationaler Herrschaft" verbunden, die er von zwei anderen Formen der Herrschaft, nämlich "traditionaler" und "charismatischer" Herrschaft abgrenzte (Weber 1922: 214-299). Michael Herzfeld (1992: 19) weist darauf hin, dass sich Weber sehr wohl darüber im Klaren war, dass die "reine legal-rationale Bürokratie" in der Praxis nicht umsetzbar ist.



4.1.1.2 Street-Level Bureaucracy (Lipsky 1980)

Foto: Lokalisierung von Street-Level-Bureaucrats (© Gertraud Seiser, 2007)

Dem Idealtypus der rationalen Verwaltung von Max Weber (1922) steht eine anders geartete Wirklichkeit gegenüber. Der US-amerikanische Politikwissenschafter Michael Lipsky hat die Dilemmata der BürokratInnen herausgearbeitet (1980, 2003). Unter Street- Level Bureaucracy versteht er jene Personen im öffentlichen Dienst, die in unmittelbarem und massenhaftem Kundenkontakt stehen. Es sind dies LehrerInnen und Schulverwaltung, PolizistInnen und Beschäftigte in Wohlfahrts- und Sozialeinrichtungen jeder Art, SozialarbeiterInnen, MitarbeiterInnen von Gemeindeämtern, Bezirksgerichten und Rechtsberaterinnen etc.

Sie alle sollen öffentliche Mittel zuteilen (Arbeitslosengeld, Notstandshilfe, Stipendien etc.), Bildungs- und Gesundheitsdienstleistungen erbringen oder die Einhaltung von Regeln überwachen und sanktionieren. So wie sie agieren, wird staatliche Verwaltung in der Öffentlichkeit wahrgenommen und nicht wie Spitzenbeamte auf höchster Ebene sich hinter verschlossenen Türen verhalten.

Viele Bedienstete in diesen Berufsfeldern haben sich aus idealistischen Gründen für ihren Job entschieden. Sie gingen mit der Ambition in den Beruf gute Dienste für die Öffentlichkeit zu leisten. Auch die Ausbildung bereitet sie darauf vor, auf die individuellen Bedürfnisse der Menschen, mit denen sie zu tun haben, einzugehen. Die Realität sieht meist anders aus:

  • Sie sind mit chronischer Ressourcenknappheit (Geld, Personal) bei hohen Ansprüchen der KlientInnen konfrontiert.
  • Sie haben keine Möglichkeit, auf einzelne Personen einzugehen, sondern sollen in möglichst kurzer Zeit eine möglichst große Anzahl von Menschen "abfertigen".
At best, street-level bureaucrats invent benign modes of mass processing that more or less permit them to deal with the public fairly, appropriately, and successfully. At worst, they give in to favoritism, stereotyping, and routinizing - all of which serve private or agency purposes. (Lipsky 2003: 504)

Die Folgen sind:

  • hohe Burnout-Raten und eine kurze Verweildauer im Job;
  • schlechtes Service wird frustrierend präsentiert;
  • Innenorientierung der Arbeitskultur: nicht die Klienten stehen im Vordergrund, sondern die Konkurrenz mit den KollegInnen und die Beziehungen zu den Vorgesetzten;
  • Entwicklung von Sanktionen, um "Respektlosigkeit" der KlientInnen zu bestrafen, z.B. Kind erhält schlechtere Note in Mathematik, weil es am Klo geraucht hat.

Besonders die arme Bevölkerung ist auf Street-Level Bureaucrats angewiesen. Diese Bevölkerungsgruppen haben keine Möglichkeit, die Schule zu wechseln oder auf Sozialprogramme zu verzichten. Auch kommen sie häufiger mit der Polizei in Konflikt. Die Street-Level Bureaucrats selbst rechtfertigen ihre schlechte Behandlung der KlientInnen mit deren sozialen Defiziten. Sie reproduzieren damit die soziale Stigmatisierung der Armut in den USA (Lipsky 2003: 514).

Lipsky weist darauf hin, dass es sich bei diesen Verhaltensweisen - er beschreibt viele für die KlientInnen entwürdigende Situationen - nicht um deren individuelle Bösartigkeit handelt, sondern um ein allgemeines Dilemma von Verwaltungen, hier in ihren speziellen US-amerikanischen Ausformungen:

The impulse to provide fully, openly, and responsively for citizens’ service needs exists alongside the need to restrict, control, and rationalize service inadequacies or limitations. This is the central contradiction of social services. This is more than simply a tension between costs and benefits. It is critical to reassure mass publics that their elemental needs will be taken care of if they are not met privately and to rationalize service inadequacies by deflecting responsibility away from government. (Lipsky 2003: 517)



4.1.1.3 Heyman (2004) über bürokratisches Denken

Heyman (2004) schlägt Forschungsfragen vor, die seiner Meinung nach aus einer kultur- und sozialanthropologischen Perspektive besonders lohnend zu bearbeiten sind. Hier ein paar Beispiele zur Illustration:

  • Das Anlegen von Akten ist nach Weber notwendig und rational, um bürokratisches Handeln nachvollziehbar und kontrollierbar zu machen. Akten werden nach Regeln erstellt und sie enthalten nur bestimmte Informationen über betroffene Menschen. Durch Akten wird fixiert und klassifiziert. Was nicht festgehalten wird, ist genau so relevant, wie das, was aufgezeichnet wird. Heyman bringt Beispiele aus eigenen Untersuchungen über die US- amerikanischen Einwanderungsbehörden: Aufgrund von wenigen Merkmalen (Herkunft, Rasse, Alter, Geschlecht, Religion, etc.) wird entschieden, ob jemand ins Land darf oder nicht. Heyman zeigt, dass der ideologische Hintergrund der einzelnen BeamtInnen großen Einfluss darauf hat, ob eine Person eine Aufenthaltsberechtigung erhält oder nicht.
  • Der bürokratische Arbeitsprozess erfordert, sich durch komplexe Fälle zu denken und diese auf ein einfaches Ergebnis zu reduzieren (z.B. Flüchtlingsstatus ja oder nein).
  • BürokratInnen sammeln nicht nur Informationen über die Welt, sie stellen soziale Gruppen nicht einfach nur fest, sondern sie schaffen diese Gruppen selbst aktiv durch die Kategorien, die sie anlegen.
  • Die Politik formuliert Regeln, BürokratInnen handeln entsprechend dieser Anweisungen und übersetzen die Regeln in eine Praxis. Auch ohne bewussten Missbrauch haben diese Praktiken und die Konzepte, die hinter den Praktiken verborgen sind, Folgen für die davon Betroffenen. Die Anwendung von Regeln und Politiken ist Interpretation und klassifiziert. Menschen werden dadurch entweder z.B. in ein Armutsbekämpfungsprogramm aufgenommen oder davon ausgeschlossen. BürokratInnen haben dabei - in Anlehnung an Foucault - nicht nur die Macht zu bestrafen, sondern auch "the power to bring into being and give motivation and meaning" (Heyman 2004: 490).
  • Wie BürokratInnen arbeiten und ihren KlientInnen gegenübertreten, hängt auch mit der spezifischen internen Organisationskultur zusammen (vgl. Lipsky 1980), die sehr verschieden sein kann und nicht nur durch die Hierarchie und das spezifische Tätigkeitsfeld determiniert ist. Auch die Binnenkultur und der Kontext, in dem sie steht, beeinflusst die Anwendung der Regeln. Ein Dorfgendarmerieposten wird eine andere Binnenkultur und ein anderes Außenverhältnis entwickeln als eine großstädtische Polizeispezialeinheit, obwohl beide die Überwachung der Einhaltung derselben Regeln zur Aufgabe haben.

Im Zusammenhang mit diesen bürokratischen Phänomenen sieht Heyman eine besondere Rolle der Kultur- und Sozialanthropologie. Die Analyse von Bürokratie darf sich nicht auf die Analyse der Regeln und deren Umsetzung sowie auf eine Ideengeschichte des bürokratischen Denkens beschränken. Sie muss ganz explizit das konkrete Handeln mit einbeziehen. Die bürokratischen Praktiken müssen in ihrer Ausübung beobachtet werden. Nur dadurch lassen sich die dahinter liegenden Mechanismen in vollem Umfang erkennen.


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