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Diese Online-Lernunterlage versteht sich als eine grundlegende Einführung in das Forschungsfeld der kultur- und sozialanthropologischen Kinship Studies. Im Gegensatz zu anderen Arten der wissenschaftlichen Auseinandersetzung geht es hier folglich nicht um eine kritische Sichtung und Bestandsaufnahme, um die persönliche Interpretation oder um eine in sich schlüssige theoretische Position. Stattdessen sollen die Grundbegriffe zur Beschreibung, Darstellung und Analyse verwandtschaftlicher Zusammenhänge vermittelt und in ihrer Einbettung in unterschiedliche Theorietraditionen dargestellt werden. Die Akzente, die dabei gesetzt werden, sind notwendigerweise selektiv und daher auch subjektiv.<br />
 
Diese Online-Lernunterlage versteht sich als eine grundlegende Einführung in das Forschungsfeld der kultur- und sozialanthropologischen Kinship Studies. Im Gegensatz zu anderen Arten der wissenschaftlichen Auseinandersetzung geht es hier folglich nicht um eine kritische Sichtung und Bestandsaufnahme, um die persönliche Interpretation oder um eine in sich schlüssige theoretische Position. Stattdessen sollen die Grundbegriffe zur Beschreibung, Darstellung und Analyse verwandtschaftlicher Zusammenhänge vermittelt und in ihrer Einbettung in unterschiedliche Theorietraditionen dargestellt werden. Die Akzente, die dabei gesetzt werden, sind notwendigerweise selektiv und daher auch subjektiv.<br />
 
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Revision as of 12:04, 3 December 2019

Contents

Kinship Studies


„I believe that kinship is really the most difficult subject of social anthropology...“ (Malinowski 1930: 20)

Diese Online-Lernunterlage versteht sich als eine grundlegende Einführung in das Forschungsfeld der kultur- und sozialanthropologischen Kinship Studies. Im Gegensatz zu anderen Arten der wissenschaftlichen Auseinandersetzung geht es hier folglich nicht um eine kritische Sichtung und Bestandsaufnahme, um die persönliche Interpretation oder um eine in sich schlüssige theoretische Position. Stattdessen sollen die Grundbegriffe zur Beschreibung, Darstellung und Analyse verwandtschaftlicher Zusammenhänge vermittelt und in ihrer Einbettung in unterschiedliche Theorietraditionen dargestellt werden. Die Akzente, die dabei gesetzt werden, sind notwendigerweise selektiv und daher auch subjektiv.

Die anthropologischen Kinship Studies befassen sich mit der empirischen und kulturvergleichenden Untersuchung von Verwandtschaftsbeziehungen sowie mit den kulturellen Konzeptionen von Verwandtschaft. Sie haben in der Geschichte und Entwicklung der Kultur- und Sozialanthropologie über lange Zeit einen Kernbereich von Forschung und Theorienbildung dargestellt. J. A. Barnes stellte 1971 fest: „The study of kinship has been the central and distinctive feature of social anthropology ever since Morgan...“ (Barnes 1971: xxi). In den darauffolgenden Jahren hat diese Feststellung zwar einen Großteil ihrer Allgemeingültigkeit verloren. Aber auch heute bildet, mit veränderten Perspektiven und Fragestellungen, die Beschäftigung mit Verwandtschaft einen wichtigen Forschungsbereich innerhalb des Faches.

Vor allem seit den 1970er Jahren sind die meisten Grundannahmen der älteren Kinship Studies einer kritischen Überprüfung unterzogen worden. Diese Lernunterlage geht zwar auf diese Debatten ein; sie stellt aber nicht die daraus entwickelten neueren Perspektiven in den Vordergrund, sondern bietet in erster Linie einen historischen Überblick und führt in das fachspezifische Handwerkszeug zur Beschreibung und Analyse verwandtschaftlicher Beziehungen ein. Sie konzentriert sich daher auf die „klassischen“ Kinship Studies, versucht dies aber im Bewusstsein der an ihnen geübten Kritik zu tun. Wo also Begriffsdefinitionen oder deskriptive Werkzeuge auf Annahmen aufbauen, die heute nicht mehr unhinterfragt gelten, soll dies nach Möglichkeit kommentiert werden.

Wenn sich an Fragen der Verwandtschaftsanthropologie immer wieder zentrale theoretische Debatten entzündeten, so hat dies sicherlich damit zu tun, dass sich in diesem Forschungsfeld wichtige Grundfragen des anthropologischen Verständnisses sozialer und kultureller Zusammenhänge mit besonderer Deutlichkeit stellen. Womit soll sich eine anthropologische Betrachtung verwandtschaftlicher Beziehungen befassen? Mit expliziten Regeln und Normen, wie sie etwa im Bereich der Heiratswahl artikuliert werden? Mit der sprachlich-konzeptuellen Ordnung von Verwandtschaftsverhältnissen, die in Verwandtschaftsterminologien zum Ausdruck kommt? Mit impliziten kulturellen Deutungsmuster und Sinnzusammenhängen, die sich die handelnden Personen im Alltag kaum bewusst machen, oder mit den diesen Ordnungen zugrundeliegenden Denkstrukturen? Oder geht es um das beobachtbare Verhalten zwischen Personen, die von den Akteuren als verwandt verstanden werden? Wie hängen die erstgenannten kulturellen Faktoren miteinander zusammen, wie bestimmen sie das beobachtbare Verhalten? Was ist der Stellenwert mehr oder weniger objektivierbarer nichtkultureller Faktoren in diesen Zusammenhängen?

Für diese Fragen sind in der Theoriengeschichte des Faches sehr unterschiedliche Lösungen gefunden worden. Die meisten dieser Ansätze sind nicht richtig oder falsch per se; bei entsprechendem Forschungsinteresse liefern sie Antworten auf bestimmte Fragen und lassen andere unbeachtet. Sie reflektieren die historische Entwicklung der Kultur- und Sozialanthropologie ebenso wie unterschiedliche Epistemologien in diversen Spannungsfeldern wie etwa Kultur versus Struktur, Verstehen versus Erklären, Individuum versus Gesellschaft usw.

Kapitelübersicht

1. Kinship als Forschungsfeld

1.1 Unterschiedliche Forschungstraditionen
1.2 Ist Kinship gleich Verwandtschaft?
1.3 Zum Nutzen von Verwandtschaft

2. Was ist Verwandtschaft?

2.1 Biologie und Kultur
2.2 Grundlegende anthropologische Perspektiven
2.3 Eine Definition von Verwandtschaft
2.4 Umfassendere Definitionen

3. Geschichte der Kinship Studies

3.1 Morgan und seine Zeitgenossen
3.2 Die Weiterentwicklung
3.3 Verwandtschaft im Funktionalismus
3.4 Verwandtschaft im Strukturalismus
3.5 Verwandtschaftsterminologie
3.6 Cross-Cultural-Forschung

4. Neuere Entwicklungen

4.1 Die kulturalistische Kritik
4.2 Feministische Anthropologie und Gender-Perspektive
4.3 Neue Reproduktionstechnologien
4.4 Aktuelle Perspektiven auf Verwandtschaft

5. Deskriptive Darstellung genealogischer Beziehungen

5.1 Rivers und die genealogische Methode
5.2 Kurznotation von Verwandtschaftsverhältnissen
5.3 Grafische Notation
5.3.1 Grundlegende Zeichen
5.3.2 Weitere Darstellungskonventionen
5.3.3 Ergänzende Zeichen
5.4 Komplexe grafische Darstellungen
5.5 Unterschiedliche Formen von Genealogie
5.6 Kritik an der genealogischen Methode

6. Grundlegende Konzepte

6.1 Grundarten verwandtschaftlicher Verbindung
6.1.1 Blutsverwandtschaft
6.1.2 Affinalverwandtschaft
6.1.3 Nichtgenealogische Verwandtschaft
6.2 Kategorien von Verwandtschaftsverhältnissen
6.3 Familie und Haushalt
6.4 Postmaritale Residenz

7. Terminologische Systeme

7.1 Dimensionen terminologischer Differenzierung
7.2 Murdocks Typologie

8. Deszendenz

8.1 Deszendenz vs. Verwandtschaft
8.2 Was ist Deszendenz?
8.3 Deszendenzgruppen
8.4 Andere Verwandtschaftsgruppen

9. Allianz
10. Übungsaufgaben
11. Literatur



File:Image --- Abb. Übersicht

1. Kinship als Forschungsfeld



Eine systematische Beschäftigung mit Verwandtschaft und eine damit verbundene Theorienbildung setzte etwa ab der Mitte des 19. Jh. ein, in einem Zeitraum also, der für die Herausbildung einer damals noch nicht als eigenständigen Disziplin bestehenden Kultur- und Sozialanthropologie ingesamt von größter Bedeutung war. Kinship als Forschungfeld wurde der jungen Disziplin sozusagen bereits in die Wiege gelegt.

Im Mittelpunkt der Kinship-Forschung standen dabei zunächst die sozialen Aspekte verwandtschaftlicher Beziehungen. Verwandtschaft wurde im klassischen Evolutionismus [> 3.1] als das Organisationsprinzip der frühen Gesellschaften schlechthin angesehen. Auch nach der Abwendung vom Evolutionismus des 19. Jh. galt sie lange Zeit als die wesentliche Grundlage der sozialen Struktur der einfach organisierten nichtindustrialisierten Gesellschaften, mit denen sich das Fach vor allem beschäftigte.

Im traditionellen Verständnis der Kinship Studies ging es vor allem um die Frage, wie im Zusammenhang mit den durch Heirat und Reproduktion etablierten genealogischen Verbindungen soziale Positionen, Beziehungen, Rechte und Pflichten geschaffen oder zugewiesen werden. In den letzten Jahrzehnten richtete sich das Interesse dann verstärkt auf die kulturellen Auffassungen von Verwandtschaft. Es kam zu einer Welle der Kritik [> 4.1] an den Annahmen der bisherigen Kinship Studies. Die Vorstellung eines zwar kulturell variablen, aber dennoch universellen Bereichs von auf Reproduktion basierenden genealogischen Beziehungen, so wurde nun argumentiert, verabsolutiere auf ethnozentrische Weise euro-amerikanische kulturelle Konzeptionen.

Infolge veränderter Fragestellungen in der Kultur- und Sozialanthropologie ist seit den 1970er Jahren die Beschäftigung mit Verwandtschaft im klassischen Sinn sehr zurückgegangen. Stattdessen wurden zunehmend Gender-Beziehungen, Machtverhältnisse und personhood thematisiert. In letzter Zeit ergaben sich etwa aus den Neuen Reproduktionstechnologien [> 4.3] und ihren sozialen und kulturellen Konsequenzen neue Fragestellungen auch für die kultur- und sozialanthropologische Forschung. Auch bereits früher debattierte Fragen wie der Zusammenhang zwischen Verwandtschaft und biologischer Reproduktion [> 2.1] wurden nun neu gestellt. Nicht zuletzt deshalb ist heute ein erneutes Interesse am Forschungsfeld Verwandtschaft insgesamt zu beobachten, das sich durchaus dynamisch weiterentwickelt.

Am Beispiel des Forschungsfeldes der Kinship Studies zeigt sich ein grundlegendes Problem für eine Wissenschaft, die den Anspruch vertritt, unterschiedliche kulturelle Konzeptionen untersuchen zu können, ohne dabei unkritisch die eigenen kulturgebundenen Auffassungen auf andere zu projizieren. Sind die Konzepte, die für Deskription, Analyse und Vergleich zur Anwendung kommen, ausreichend „kulturfrei“, um unterschiedliche kulturelle Erscheinungformen zu erfassen, ohne dabei bestimmte Konzeptionen gegenüber anderen zu privilegieren? Oder reproduzieren wir, wenn wir von Verwandtschaft sprechen, nur unbewußt unser eigenes Verständnis und verwechseln dies mit einer formalen und kulturell neutralen Sichtweise? Solche Fragen lassen sich in vielen Forschungszusammenhängen stellen; sie haben dazu geführt, dass es unter den Begriffsdefinitionen und theoretischen Konzepten im Bereich der Kinship Studies nur wenige gibt, die nicht debattiert und in Frage gestellt worden wären.

1.1 Unterschiedliche Forschungstraditionen


In der deutschsprachigen, lange Zeit kulturhistorisch dominierten ethnologischen Tradition ist die Verwandtschaft bestenfalls ein Nebenaspekt gewesen. Es gab und gibt bis heute kaum deutschsprachige Fachpublikationen zu diesem Forschungsfeld. Ganz anders im angloamerikanischen Raum: Hier lässt sich sagen, dass die Herausbildung der Anthropologie als einer vergleichenden Wissenschaft von der Gesellschaft mit jener der Kinship Studies Hand in Hand ging.

Von wesentlichem Einfluss auf beides waren Lewis H. Morgan und seine Zeitgenossen [> 3.1]. Vor allem von Morgan gingen entscheidende Impulse für die anthropologische Perspektiven auf Verwandtschaft aus (vgl. Fortes 1969; Trautmann 1987; van der Grijp 1997). In der Folge wurde im angloamerikanischen Raum ein großer Teil der wichtigen theoretischen Konzepte einer Anthropologie der Verwandtschaft formuliert. Wenn wir auch im Deutschen von Kinship Studies sprechen, so verweisen wir damit auf diese angloamerikanische Theorietradition.

Außerhalb des angloamerikanischen Raumes spielt die Analyse von Verwandtschaft auch in der französischen Anthropologie eine wichtige Rolle. In der Folge der einflussreichen Arbeiten von Lévi-Strauss (v.a. 1993 [1949]) [> 3.4] steht hier vor allem die strukturelle Rolle von Heiratsverbindungen [> 9] im Vordergrund. In der britischen funktionalistisch geprägten Tradition dagegen wurden Heiratsverbindungen (so lautet wenigstens eine verbreitete Kritik) aufgrund einer Überbetonung der Deszendenzverbindungen [>8] vernachlässigt

1.2 Ist Kinship gleich Verwandtschaft?



Es ist zu beachten, dass der englische Begriff Kinship sich nicht genau mit dem deutschen Begriff Verwandtschaft deckt. In der Alltagssprache bezeichnet Kinship nur die aus Blutsverwandtschaft [> 6.1.1] resultierenden Beziehungen, nicht aber die Affinalverwandtschaft (d.h. auf Heirat beruhende Beziehungen) [> 6.1.2], die im Deutschen ebenfalls der Verwandtschaft zugerechnet werden.

In der Kultur- und Sozialanthropologie muss daher zwischen einem traditionellen und einem modernen Verständnis von Kinship unterschieden werden:

1. Traditionell inkludiert Kinship, wie in der englischen Alltagssprache, nur Blutsverwandtschaft, nicht aber Affinalverwandtschaft. Dies bedeutet natürlich nicht, dass aus der anthropologischen Analyse die Heiratsbeziehungen ausgeklammert wurden. Es erklärt aber, warum viele ältere Bücher Titel wie „Systems of kinship and marriage …“ tragen. „Kinship and marriage“ entspricht in diesem Sprachgebrauch der deutschen Verwandtschaft.

2. Radcliffe-Brown meinte bereits 1941: „I shall use the term „kinship system“ as short for a system of kinship and marriage or kinship and affinity“ und beklagte den Mangel eines umfassenden Begriffs im Englischen (Radcliffe-Brown 1941: 2). Heute werden im anthropologischen Sprachgebrauch unter Kinship generell meist auch Heiratsbeziehungen subsumiert. So etwa in der Definition Linda Stones [> 2.3], für die Kinship in der Anerkennung einer Beziehung zwischen Personen besteht, die auf Abstammung oder auf Heirat beruht (Stone 1998: 5).

1.3 Zum Nutzen von Verwandtschaft


Selbst wenn die angloamerikanische Anthropologie zu Recht für ihre zeitweilige Überbetonung der Verwandtschaft kritisiert wurde – um die Mitte des 20. Jh. herrschte bei manchen die Überzeugung, daß in traditionellen außereuropäischen Gesellschaften so gut wie alles aus Verwandtschaft erklärt werden könne (vgl. Eriksen 2001: 93) – so darf doch die Bedeutung von Verwandtschaft in den meisten Gesellschaften nicht unterschätzt werden.

Auch in unserer eigenen Gesellschaft hat Verwandtschaft mehr Einfluss, als wir es ohne einen an sozialwissenschaftlichen Konzepten geschulten Blick wahrnehmen. Für berufliche Karrieren etwa sind soziale Netzwerke oft von entscheidender Bedeutung. In diesen Netzwerken spielt – auch wenn dies grundsätzlich als moralisch und (zumindest im öffentlichen Bereich) sogar rechtlich fragwürdig angesehen wird – Verwandtschaft häufig eine wichtige Rolle. Rechtliche Zusammenhänge wie die Vererbung von Besitz und soziale Verpflichtungen wie Kinder- und (mit abnehmender Bedeutung) Altenbetreuung bauen ganz selbstverständlich auf Verwandtschaft auf. Trotz einer vergleichsweise hohen sozialen Mobilität wird sozialer Status in einem hohen Ausmaß durch verwandtschaftliche Herkunft vorgegeben. Dies wird auch – ohne dass es den meisten von uns bewusst ist – in der Partnerwahl sichtbar, in der sich soziale Schichtenzugehörigkeit oft auf selbstverständliche Weise reproduziert.

Dennoch soll der Nutzen von Verwandtschaft hier am Beispiel einer „traditionellen“ Gesellschaft illustriert werden. Die Berber Zentralmarokkos sind tribal (d.h. in Stämmen) gegliedert (vgl. Kraus 2004). Im Gegensatz zu einer bis zur Mitte des 20. Jh. vorherrschenden Meinung sind traditionelle außereuropäische Gesellschaften nicht notwendiger- oder typischerweise in Stämmen organisiert. Tribale Organisationsformen finden (oder fanden) sich jedoch in vielen ländlichen Lokalgesellschaften des Nahen Ostens und Nordafrikas (Kraus 2004), aber auch – mit abweichendem Erscheinungsbild – in manchen anderen Teilen der Welt wie Indien und dem indigenen Nordamerika.

In einer tribalen Form sozialer Organisation, so wie sie im Nahen Osten (und in Nordafrika) verstanden wird, beruht die Identität des Einzelnen und die Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen in wichtigen Aspekten auf der angenommenen oder nachweisbaren genealogischen Beziehung zu einem gemeinsamen Ahnen. Ein Stamm in diesem Sinn ist im Prinzip eine Gruppe von Menschen, die in direkter väterlicher Linie von diesem Ahnen abstammen, oder dies von sich behaupten. Dabei geht es um patrilineare Beziehungen [>8.2]: die Zugehörigkeit zu einem Stamm oder zu einer seiner Untergruppen wird jeweils vom Vater an seine Kinder weitergegeben. Wichtig sind in diesem Zusammenhang also die genealogischen Beziehungen zwischen Männern, was aber nicht ausschließt, daß in anderen Bereichen maternale Beziehungen (zwischen Mutter und Kindern) [> 6.2] sowie affinale Beziehungen (die durch Heirat geknüpft werden) [>6.1.2] eine große Rolle spielen.

Nahöstliche Stämme sind segmentiert [> 3.3]: sie untergliedern sich in Untergruppen, die – meist auf mehreren Ebenen – weiter segmentiert sind in noch kleinere Gruppen. Ein Stamm führt sich im marokkanischen Hohen Atlas typischerweise auf einen gemeinsamen Ahnen zurück; gibt es in diesem Stamm z.B. drei Untergruppen, so wird angenommen, daß diese von den drei Söhne dieses Stammvaters abstammen. Deren Söhne wiederum definieren die Segmente der nächsten Ebene usw. Alle diese Gruppen sind also unilineare Deszendenzgruppen [> 8.3]. Dabei geht es meist nicht um die tatsächliche physische Verwandtschaft [> 2.1] mit dem Ahnen, die gewöhnlich nicht rekonstruiert werden kann; wichtig ist die Vorstellung, von bestimmten Ahnen abzustammen. Verwandtschaft fungiert hier als Symbol politischer Einheit bzw. Differenzierung.

Die Zugehörigkeit zu einer konkreten Stammesgruppe ist in vielerlei Hinsicht von großer Bedeutung. Vor der Etablierung der französischen Kolonialherrschaft in der Region (1933) wurden politische und individuelle Konflikte vielfach mit kriegerischen Mitteln ausgetragen. Im Konfliktfall waren derartige genealogisch definierte Gruppen grundsätzlich zur Solidarität verpflichtet. Verwandtschaft konnte unter Umständen also über Krieg und Frieden entscheiden.

Sie hatte auch Auswirkungen darauf, wen man heiratete. Die Tendenz ging dahin, die Partnerin bzw. den Partner in tribalen Gruppen zu suchen, denen man selbst angehörte. Dies war aber keine absolute Verpflichtung. In vielen anderen traditionellen Gesellschaften gab es feste Regeln, wer geheiratet werden durfte – z.B. die Verpflichtung, eine Frau außerhalb der eigenen Deszendenzgruppe zu suchen (Exogamie).

Wann immer im tribalen Kontext in Zentralmarokko jemand Unterstützung benötigt, sind die in väterlicher Linie Verwandten (die Agnaten [> 6.2]) zur Hilfe verpflichtet: also der Bruder, der Cousin väterlicherseits (FBS [> 5.2]) usw. Diese Verpflichtungen sind wechselseitiger Art. Für andere Verwandte gibt es keine derartig formell festgelegten Verpflichtungen. Das schließt aber nicht aus, daß man sich in manchen Kontexten z.B. an einen Mutterbruder um Beistand wenden kann. Auch sind die Verpflichtungen unter Agnaten zunächst einmal Handlungsideale. Sie werden nicht automatisch befolgt; inwieweit sie im konkreten Fall praktisch wirksam werden, das ist von einer Vielzahl von Faktoren abhängig, unter denen Verwandtschaft nur einer ist. Trootzdem hatten und haben sie erhebliches moralisches und praktisches Gewicht, und es muss gegebenenfalls gute Gründe geben, um sich über sie hinwegzusetzen.

In der vorkolonialen Zeit, in der es de facto keine exekutive Gewalt gab, galt: Wenn z.B. ein Mann einen anderen tötete, dann waren die engsten Agnaten des Täters ebenso wie er selbst potentielle Opfer für Blutrache. Die Blutrache musste wiederum von den engsten Agnaten des Opfers ausgeübt werden. Alternativ dazu konnten diese auch auf die Rache verzichten und hatten dann Anspruch auf Blutgeld. Das Blutgeld wurde von den Agnaten des Täters gemeinsam bezahlt und unter jenen des Opfers aufgeteilt. Die rechtliche Verantwortung wurde immer von mehreren in väterlicher Linie verwandten Personen geteilt.

Diese Arten von eindeutig definierten wechselseitigen Rechten und Pflichten fallen in den Bereich der formellen Dimensionen von Verwandtschaftsbeziehungen. Sie sind kulturelle Regeln, die meist von den einheimischen Akteuren explizit artikuliert werden können. Daneben gibt es aber auch implizitere Formen von Beistandsleistung und gegenseitiger Unterstützung. Sind im rechtlichen Bereich – wie in der tribalen Organisation insgesamt – im Hohen Atlas die genealogischen Beziehungen zwischen Agnaten dominierend, so sind im informellen Bereich auch maternale [> 6.2] und affinale Beziehungen [> 6.1.2] von großer praktischer Bedeutung. Emrys Peters hat in der ähnlich strukturierten Gesellschaft der Beduinen der Kyrenaika in Libyen gezeigt, dass maternale und affinale Beziehungen für die Nomaden ökonomisch entscheidend sein können, da ein Mann z.B. in Zeiten lokalen Wassermangels auf die Tränken auf dem Land der Gruppe seiner Mutter oder seiner Frau zurückgreifen kann (Peters 1967: 272–275; vgl. Kraus 2004: 80).

In anderen Gesellschaften können die formellen und informellen Dimensionen von Verwandtschaft ganz anders strukturiert sein. Es ist auch möglich, dass diese Unterscheidung weniger deutlich oder überhaupt nicht getroffen werden kann.

2. Was ist Verwandtschaft?


Wenn wir an Verwandtschaft denken, dann stehen für die meisten von uns emotionale Aspekte im Vordergrund. Verwandte liegen uns am Herzen; Verwandtschaft und Familie bieten emotionalen Rückhalt, werden aber manchmal auch als einengend empfunden. In den kultur- und sozialanthropologischen Kinship Studies haben – im Einklang mit den jeweils dominierenden Paradigmen – andere Aspekte als diese emotionalen mehr Beachtung gefunden. In der britischen funktionalistischen Tradition spielten die sozialen und rechtlichen Dimensionen von Verwandtschaftsverhältnissen und deren Bedeutung in der gesellschaftlichen Gesamtstruktur eine zentrale Rolle, während in der stärker kulturell orientierten USamerikanischen Anthropologie z.B. die begriffliche Klassifikation von Verwandten in terminologischen Systemen ein Thema war, auf das man immer wieder zurückkam.

Generell haben sich die AnthropologInnen vor allem mit den räumlich und zeitlich sehr variablen kulturellen Auffassungen und sozialen Erscheinungsformen von Verwandtschaft beschäftigt. Im Mittelpunkt der Kinship Studies standen meist die Unterschiede, sei es in der eingehenden Auseinandersetzung mit dem spezifischen ethnographischen Einzelfall oder in der Formulierung von Typologien, in die sich verschiedene Fälle einordnen ließen. In der klassischen Sichtweise des Faches, die einen Großteil des 20. Jh. dominierte, bestand Verwandtschaft in den sozialen Beziehungen, die sich aus der kulturspezifischen Ausdeutung der Zusammenhänge menschlicher Reproduktion und institutionalisierter Sexualpartnerschaft ergaben. Daher ging es nicht um genetische oder biologische Zusammenhänge, die ja universell dieselben sind, sondern um ein Verständnis der unterschiedlichen kulturellen Konzeptionen und Praktiken konkreter Gesellschaften.

Das Verhältnis von Biologie und Kultur [> 2.1], das für das Fach einst klar erschien, ist allerdings neu problematisiert worden, seit ab den 1970er Jahren kritische Stimmen einwendeten, dass die scheinbar kulturell neutrale genealogische Perspektive der Kultur- und Sozialanthropologie einen eurozentrischen biologistischen bias aufweise. Sie beruhe auf kulturellen Annahmen über die biologische Grundlage von Verwandtschaft, die in manchen anderen Gesellschaften keine Entsprechung hätten [> 4.1]. Ob ein Verständnis verwandtschaftlicher Konzeptionen und Praktiken nur in der internen Logik des jeweiligen kulturellen Kontextes möglich ist oder ob es auf der Basis universell anwendbarer komparativer Konzepte erlangt werden kann, das ist die große Frage, der sich die Kinship Studies heute nicht mehr entziehen können.

2.1 Biologie und Kultur



Nahezu seit den Anfängen der Kinship Studies stimmen die allermeisten AnthropologInnen darin überein, dass die Anthropologie der Verwandtschaft sich mit den sozialen und kulturellen Aspekten von Verwandtschaftsverhältnissen zu beschäftigen habe und nicht mit den objektiven biologischen Zusammenhängen. Für Morgan und seine Zeitgenossen [> 3.1] waren die familiären Beziehungen, deren gesellschaftliche Rolle sie entdeckten, noch unmittelbar durch die biologische Reproduktion bestimmt (dies ist zumindest Schneiders Lesart [1984: 97–99], aber vgl. van der Grijp 1997: 103).

Aber schon 1898 kam Durkheim zu dem Schluss, dass Verwandtschaft (parenté) und biologische Abstammung (consanguinité) zwei sehr verschiedene Dinge seien (1898: 316). Verwandtschaft bestehe aus rechtlichen und moralischen Verpflichtungen – sei also sozialer Natur und habe nur einen losen Zusammenhang mit den Tatsachen der biologischen Abstammung (Durkheim 1898: 316 f.; vgl. Schneider 1984: 99–101). Auf ähnliche Weise argumentierte Van Gennep 1906. Er etablierte die Unterscheidung zwischen parenté physique und parenté sociale, die sich weithin durchsetzte (vgl. Holy 1996: 14; Schneider 1984: 101, 104 f.).

Diese Unterscheidung wird aufgenommen in der ebenfalls gängigen Differenzierung zweier Aspekte von Vaterschaft: der soziale Vater wird Pater genannt, der physische Vater (der mit dem sozialen Vater identisch, aber auch eine andere Person sein kann) heißt Genitor. Da beim Vater der physische Zusammenhang mit Ego meist weniger evident ist als bei der Mutter – Schwangerschaft und Geburt sind gewöhnlich eher beobachtbar als Zeugung – wurde diese Unterscheidung zunächst für die Vaterschaft getroffen. Analog dazu wurden dann auch die Begriffe Mater und Genetrix etabliert, die die sozialen bzw.physischen Aspekte der Mutterschaft betreffen (vgl. Parkin 1997:14). Diese Unterscheidungen sind grundsätzlich wertvoll, man muss sich aber vor Augen halten, dass die Bedeutung der physischen Elternschaft in verschiedenen Gesellschaften sehr unterschiedlich angesetzt wird und dass im Extremfall der Zusammenhang zwischen Ego und seinem/ihrem Genitor weitgehend oder völlig irrelevant angesehen werden kann.

Die begriffliche Opposition von physischer und sozialer Verwandtschaft, die im allgemeinen Verständnis den Gegensatz von Biologie und Kultur reflektierte, wurde durch Barnes (1961) noch erweitert: Physische Verwandtschaft bezieht sich nach ihm nicht auf die objektiven biologischen Fakten, sondern das soziale und kulturelle Wissen über diese Zusammenhänge und die davon abhängigen Annahmen über die Vaterschaft. Der Genitor ist nicht der „genetische Vater“; er ist der Mann, der von anderen aufgrund ihres Wissens und ihrer kulturellen Theorien über den Prozess der Fortpflanzung für den physischen Vater gehalten wird. Sowohl soziale als auch physische Verwandtschaft sind also sozial und kulturell konstituiert; keine dieser Kategorien ist identisch mit biologischer Verwandtschaft. Da sich die kulturellen Theorien über die menschliche Fortpflanzung unterscheiden, gibt es nicht in allen Gesellschaften einen Genitor. Viele emische Fortpflanzungstheorien gehen von einem einzelnen Genitor aus. In manchen Fällen (etwa bei den Ifugao auf den Philippinen) wird angenommen, dass ein Kind auch mehrere Genitoren haben kann (Barnes 1961: 297 f.).

Die Sichtweise, dass Verwandtschaft im wesentlichen sozialer oder kultureller Art und nicht durch biologische Universalien bestimmt sei, etablierte sich also bereits in der Frühzeit der Kultur- und Sozialanthropologie, selbst wenn dieser Konsens genügend Raum für divergierende Vorstellungen und Debatten über die konkreten Zusammenhänge zwischen physischer und sozialer Verwandtschaft ließ.

Eine breite theoretische Diskussion löste Ernest Gellner (1957) mit seinem Versuch aus, das philosophische Konzept einer Idealsprache am Beispiel der Verwandtschaft und ihrer Betrachtung durch die Anthropologie zu illustrieren. Dabei nahm er auf die Zusammenhänge zwischen Biologie und sozialer Verwandtschaft und deren „admittedly incomplete ... overlap“ (Gellner 1957: 236) Bezug, was eine Reihe von Fachvertretern zu kritischen Stellungnahmen veranlasste (u.a. Barnes 1961; 1964; Needham 1960; Beattie 1964; vgl. Gellner 1960; 1963).

Eine länger andauernde und mehr empirisch orientierte Debatte beschäftigte sich mit der Frage der angeblichen Unkenntnis der physischen Vaterschaft, die spekulativ von Bachofen (1861), Morgan (1877) und anderen Vertretern des klassischen Evolutionismus für die ersten Entwicklungsstufen der menschlichen Familie behauptet wurde. Ihre Spekulationen schienen sich in den Ethnographien bestimmter Ethnien zu bestätigen, z.B. jenen australischer Aborigines oder der Trobriander (Malinowski 1929). Die „Virgin Birth Debate“ über die richtige Interpretation entsprechender ethnographischer Berichte flackerte über Jahrzehnte hindurch immer wieder auf (z.B. Leach 1966; Delaney 1986; für einen Überblick s. Barnard & Good 1984: 170–172).

Unabhängig von solchen Debatten war man sich seit langem klar darüber, dass diverse ethnographisch belegte kulturelle Erscheinungsformen von Verwandtschaft keinerlei biologische Grundlage hatten: „In some societies a woman may so far acquire masculine status as to marry a woman, of whose children(begotten by a proxy male lover) she is the social father and thus figures in genealogies. ... There are also societies in which a man may assume feminine status and become the wife of a man, and even claim to bear children with supernatural aid“ (Needham 1960: 99). Trotzdem konnte Schneider rückblickend feststellen: „the ultimate reference [for kinship] remained biological“ (1984: 54). Dies begann sich erst ab den 1970er Jahren zu ändern.

2.2 Grundlegende anthropologische Perspektiven


Wenn wir umgangssprachlich z.B. von der „Mutter-Kind-Beziehung“ sprechen, so umfasst diese genau genommen zwei Beziehungen: aus dem Blickwinkel des Kindes jene zu „meiner Mutter“, aus dem Blickwinkel der Mutter jene zu „meinem Kind“. Daraus folgt, dass – auf den ersten Blick vielleicht irritierend – im genealogischen Sinn Mutter oder Tochter bzw. Sohn nicht Personen sind, sondern Beziehungen. Erst in zweiter Linie bezeichnet Mutter die Person, die zu einer konkreten anderen Person in dieser Beziehung steht. Der Begriff der Beziehung ist allerdings uneindeutig, wie wir eben gesehen haben. Im Interesse sprachlicher Präzision sprechen wir daher besser von einer Verbindung (etwa zwischen Mutter und Kind), wenn wir nicht den Blickwinkel einer konkreten Person einnehmen. Wenn wir dagegen von einem konkreten Bezugspunkt – etwa dem Kind – ausgehen, dann ist „meine Mutter“ ein verwandtschaftliches Verhältnis. (Dies ist auch der eigentliche Bedeutungsgehalt des englischen relation oder relationship, das oft als „Beziehung“ übersetzt wird.) Beziehung wäre dann der Überbegriff zu Verbindung und Verhältnis.

Da jedes Verwandtschaftsverhältnis den Blickpunkt einer konkreten Person voraussetzt, hat es sich in der Kultur- und Sozialanthropologie eingebürgert, von jener Person, von der ausgehend ein Verwandtschaftsverhältnis betrachtet wird, als Ego (lat. „ich“) zu sprechen. Die jeweils andere Person wird Alter genannt (lat. „der andere“). In anthropologischer Sicht ist Verwandtschaft ganz entscheidend durch diesen relativen Aspekt gekennzeichnet: Eine genealogische Position wie z.B. Vaterbruder (d.h. Bruder des Vaters) ist ein Verhältnis, das von einem konkreten Ego ausgeht. Mit einem Wechsel des Bezugspunktes ändern sich die Verwandtschaftsverhältnisse. Jedes Verwandtschaftsverhältnis betrifft also primär zwei Personen, Ego und das jeweilige Alter.

Manchmal wird durch Groß-/Kleinschreibung zwischen männlichem EGO und weiblichem ego unterschieden. Ein geschlechtsneutraler Bezugspunkt wird dann Ego geschrieben (vgl. Fischer 1996: 163).

Die konventionelle formale Sichtweise von Verwandtschaft und deren deskriptive Darstellungen gehen in der Regel davon aus, dass es zwei Grundarten „eigentlicher“, d.h. genealogisch basierter verwandtschaftlicher Verbindung gibt: die auf Abstammung beruhende Blutsverwandtschaft [> 6.1.1], sowie die auf Heirat beruhende Affinalverwandtschaft [> 6.1.2]. Dazu kommt – wenigstens im heutigen Verständnis – als dritte noch die nichtgenealogische Verwandtschaft [> 6.1.3].

Aus den genealogischen Grundarten verwandtschaftlicher Verbindung ergeben sich zwei Grundverbindungen: Filiation sowie Ehe. Beide bilden sozusagen „Verhältnisbündel“, weil sie jeweils mehrere Verwandtschaftsverhältnisse umfassen. Filiation lässt sich differenzieren in Patrifiliation und Matrifiliation. Patrifiliation bezeichnet die Verbindung zwischen Vater und Kind und umfasst die Verhältnisse Vater sowie Tochter bzw. Sohn (von einem männlichen Ego aus gesehen). Matrifiliation bezeichnet die Verbindung zwischen Mutter und Kind und umfasst die Verhältnisse Mutter sowie Tochter bzw. Sohn (von einem weiblichen Ego aus gesehen). Ehe umfasst die Verhältnisse Ehemann sowie Ehefrau.

Wenn für definitorische Zwecke [> 2.3] diese beiden Grundverbindungen ausreichen, so kommt für deskriptive Zwecke meist noch eine dritte hinzu: die Geschwisterschaft. Aus jeder dieser drei Grundverbindungen ergeben sich mindestens zwei Verhältnisse, die sich nach dem Geschlecht der beteiligten Personen sowie nach der Beziehungsrichtung unterscheiden. Es ergeben sich so insgesamt acht Verhältnisse, nämlich Vater, Mutter, Sohn, Tochter, Ehemann, Ehefrau, Bruder, Schwester. Dies sind die sogenannten primary kin types (bei Fischer 1996: 156 „primäre genealogische Relationen“ genannt). Sie sind im konventionellen Verständnis die grundlegenden genealogischen Verhältnisse, aus denen sich die Kernfamilie aufbaut. Die Kernfamilie [> 6.3] wurde vielfach als universale Institution und als kleinste soziale Einheit verstanden (so etwa bei Murdock 1949). Diese eindeutig eurozentrischen Annahmen sind heute zu Recht ad acta gelegt worden.

Der eurozentrische Charakter scheinbar neutraler formaler Sichtweisen wird auch an der Konzeption der Geschwisterschaft sichtbar. Das Verhältnis Egos zu Schwester oder Bruder lässt sich aus dem Umstand ableiten, dass sie von gemeinsamen Eltern oder zumindest – im Fall von Halbgeschwistern – von einem gemeinsamen Elternteil abstammen. Es kann also auch als Ergebnis von Filiation verstanden werden, das je nach den konkret gegebenen Verwandtschaftsbeziehungen unterschiedlich ausfällt. Wenn die Geschwisterschaft als eindeutige Grundverbindung angenommen wird, so erhebt dies das überkommene europäische Modell der dauerhaften monogamen Kernfamilie zur absoluten Referenz und erklärt damit andere Familienformen zu partikularen Einzelfällen.

2.3 Eine Definition von Verwandtschaft



Eine anthropologische Definition von Verwandtschaft sollte danach trachten, den konstruierten Charakter verwandtschaftlicher Beziehungen und die mögliche Variationsbreite der damit verbundenen kultureller Konzeptionen im Auge zu behalten. Es ist allerdings schwierig, eine umfassende Begriffsdefinition zu geben, die nicht entweder eine bestimmte Vorstellung von Verwandtschaft gegenüber anderen privilegiert oder aber tautologisch bleibt (d.h. das bereits voraussetzt, was sie zu definieren vorgibt).

Die tautologische Begriffsbestimmung lautet in ihrer logischen Minimalform: Verwandtschaft ist, was (von bestimmten Menschen in einem konkreten Kontext) als Verwandtschaft gehandhabt wird. Dies belässt zwar den handelnden Personen und ihren jeweiligen kulturellen Konzeptionen die Definitionsmacht, ist aber, so deutlich auf den Punkt gebracht, offensichtlich absurd. Tautologische Elemente sind aber in manchen definitorischen Versuchen erkennbar. So etwa, wenn Robin Fox einen kulturell variablen Begriff von Blutsverwandtschaft zu etablieren versucht: „A consanguine is someone who is defined by the society as a consanguine...“ (Fox 1967: 34). Wenn man ein kulturrelativistisches Verständnis von Verwandtschaft zu Ende denkt, kommt man letztlich zu der Position, die David Schneider (1984) am einflussreichsten vertreten hat: Verwandtschaft kann nicht definiert werden, da sie abseits partikularer kulturspezifischer Auffassungen nicht existiert [> 4.1].

Jene, die an der Möglichkeit einer komparativ handhabbaren Definition von Verwandtschaft festhalten, gründen diese oft weiterhin auf genealogische Beziehungen. Sie riskieren daher auch nach Schneiders Kritik [> 4.1] die Gefahr einer kulturell voreingenommenen Perspektive. Sie distanzieren sich von einer biologistischen Sicht der Verwandtschaft, vertreten aber nach wie vor ein an der menschlichen Reproduktion anknüpfendes Verständnis von Verwandtschaft. Dieses versteht sich als kulturübergreifend, harmoniert jedoch (wie Schneider gezeigt hat) weitgehend mit euroamerikanischen kulturellen Konzeptionen, für die die Natur der menschlichen Fortpflanzung die Basis von Verwandtschaft bildet.

Stellvertretend sei hier die Definition von Linda Stone zitiert:

„Kinship is the recognition of a relationship between persons based on descent or marriage. If the relationship between one person and another is considered by them to involve descent, the two are consanguineal (‚blood‘) relatives. If the relationship has been established through marriage, it is affinal“ (Stone 1998: 5, Hervorhebung orig.).

Diese Definition verbleibt somit im konventionellen Rahmen eines engen genealogischen Verständnisses von Verwandtschaft. Was sie von manchen älteren Definitionen unterscheidet, das ist der Hinweis auf die kulturell geprägte Auffassung der Akteure. Anzumerken ist noch, dass alle konventionellen Definitionen eine Definition der Ehe voraussetzen, die mindestens ebenso schwierig ist wie jene der Verwandtschaft [>6.1.2].

2.4 Umfassendere Definitionen


Die Definition Linda Stones (1998: 5) [> 2.3] geht nicht nur weiterhin von einem genealogisch basierten Verständnis von Verwandtschaft aus; sie schließt auch jene nichtgenealogischen Beziehungen aus (oder zumindest nicht explizit ein), von denen man sagen könnte, dass sie einem Modell genealogischer Beziehungen folgen. Dazu zählen etwa die Adoption oder die im arabischen Raum verbreitete Milchverwandtschaft [> 6.1.3]. Eine erweiterte Formulierung könnte daher folgendermaßen lauten:

Eine Verwandtschaftsbeziehung ist eine Verbindung zwischen zwei Personen, die in der Wahrnehmung der Betroffenen in Abstammung oder Heirat (oder in einer Kombination beider) begründet ist, oder aber eine zu solchen Beziehungen analog gedachte Verbindung, die mit diesen mehr oder weniger gleichgesetzt wird.

Diese Definition hat gegenüber anderen den Vorteil, dass sie auch konkrete kulturspezifische Erscheinungsformen von Verwandtschaft wie die erwähnte Milchverwandtschaft mit einschließt. Erkauft wird dies um den Preis einer verhältnismäßig geringen Trennschärfe: Die Definition sagt uns in den Randbereichen nicht eindeutig, ob eine konkrete soziale Beziehung in den Bereich der Verwadtschaft fällt oder nicht.

Kritisch dagegen einwenden könnte man weiters, dass sie – in der Sicht Schneiders und jener, die ihm folgen – in einer konventionellen, wenn auch erweiterten, genealogischen Sichtweise verbleibt und so weiterhin das euroamerikanische kulturelle Verständnis von Verwandtschaft verabsolutiert. Dieses Verständnis wird zwar, wie manche kontra Schneider hervorgehoben haben, vielen Gesellschaften und deren kulturellen Vorstellungen gerecht (vgl. Kuper 1996: 442), aber eben keinesfalls allen [> 4.4].

Daher haben AnthropologInnen in den letzten Jahrzehnten nach anderen Definitionsmöglichkeiten gesucht, die dann freilich den Vorwurf mangelnder Trennschärfe in noch höherem Ausmaß verdienen. Barnard & Good (1984: 187–189) nehmen dies bewußt in Kauf, indem sie eine „polythetische“ Definition vorlegen, also eine Definition, die Ähnlichkeiten von Phänomenen erfasst, aber keine eindeutige Grenzziehung erlaubt. Sie halten zwölf Merkmale von Verwandtschaft fest, die nicht notwendigerweise gemeinsam auftreten müssen. Eine Beziehung ist dann verwandtschaftlicher Art, wenn sie „einige“ dieser Merkmale aufweist. Überdies wäre es, so Barnard & Good, auch möglich, weitere Merkmale aufzulisten, die Verwandtschaft ebenso gut charakterisieren.

We tend ... to describe in terms of „kinship“ any relationship which:
  1. is ascribed by birth and persists throughout life;
  2. is initiated by „marriage“ (which itself needs to be polythetically defined ...);
  3. is explained or justified in terms of a biological idiom;
  4. is invested, by its mere existence, with certain expectations regarding the conduct of both parties;
  5. assigns the parties to an „in“ group or category, in opposition to persons not so assigned;
  6. involves the use of relationship terms in a reciprocal, systematic way („relationship term“, too, requires polythetic definition ...);
  7. involves members of a single domestic unit or household;
  8. involves systematic, enduring relationships between members of different domestic units or households;
  9. entails the joint ownership or use, and/or the serial inheritance, of property and resources;
  10. serves as a medium for assigning hereditary social positions or offices;
  11. involves the nurture and upbringing of small children;
  12. involves the making of prestations without expectation of immediate or direct return (Barnard & Good 1984: 188 f.).


Diese Merkmale enthalten, wie zu erwarten, dass Beziehungen durch Geburt zugeschrieben (i) oder durch Heirat initiiert werden (ii), dass sie z.B. den systematischen reziproken Gebrauch von Verwandtschaftstermini beinhalten (vi) oder dass sie gemeinschaftlichen Besitz oder die Vererbung von Eigentum und Ressourcen nach sich ziehen (viii). Genannt werden aber auch so diffuse Merkmale wie das Bestehen gewisser Verhaltenserwartungen (iv), die Pflege und das Aufziehen kleiner Kinder (xi) und die Erbringung von Leistungen ohne die Erwartung, dass diese unmittelbar erwidert werden (xii).

Entsprechend stellt Ladislav Holy dazu fest: „However, their ‚polythetic‘ definition of kinship is so wide that virtually any relationship could be classified as kinship if one so wished“ (Holy 1996: 169). Dem Anliegen,eine komparative Kategorie „Verwandtschaft“ aufrechtzuerhalten, ist mit dieser Vorgangsweise kaum gedient.

Andere haben, von demselben Anliegen motiviert, versucht, eine neue Überkategorie für verschieden geartete kulturelle Auffassungen von verwandtschaftlichen Beziehungen zu konzeptualisieren, die nicht ein enges genealogich basiertes Verständnis privilegiert. Sie verwenden dafür den bewusst diffusen Begriff der relatedness (Carsten 1995; 2000), der sich jedoch derselben Kritik aussetzt: „... the concept of relatedness does not specify what precisely ‚relatedness‘ is meant to involve, how it is to be defined and how it should be distinguished from any other kind of social relationship“ (Holy 1996: 168). Es ist daher nicht dafür geeignet sicherzustellen, dass Gleiches mit Gleichem verglichen wird (Stone 2001).

Als eine zeitgemäße Konzeptualisierung der analytischen Kategorie Verwandtschaft schlägt Holy eine Formulierung von Raymond C. Kelly (1993) vor, die im Abschnitt 4.4 besprochen wird (Holy 1996: 170 f.). Sie leistet das, was den anderen hier genannten Definitionen nicht gelingt: Verwandtschaft als eine für komparative Zwecke identifizierbare Art sozialer Beziehungen aufrechtzuerhalten, ohne dabei auf die genealogischen Verbindungen von Abstammung und Ehe zu rekurrieren.

3. Geschichte der Kinship Studies


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3.1 Morgan und seine Zeitgenossen


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3.2 Die Weiterentwicklung


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3.3 Verwandtschaft im Funktionalismus


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3.4 Verwandtschaft im Strukturalismus


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3.5 Verwandtschaftsterminologie


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3.6 Cross-Cultural-Forschung


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4. Neuere Entwicklungen


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4.1 Die kulturalistische Kritik


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4.2 Feministische Anthropologie und Gender-Perspektive


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4.3 Neue Reproduktionstechnologien


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4.4 Aktuelle Perspektiven auf Verwandtschaft


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5. Deskriptive Darstellung genealogischer Beziehungen



Die Verfahrensweisen zur Erhebung, Beschreibung und Notation genealogischer Beziehungen – d.h. der Verbindungen durch Filiation, Ehe und Geschwisterschaft [> 2.2] sowie ihrer Kombinationen – werden in der Kultur- und Sozialanthropologie seit W. H. R. Rivers als „genealogische Methode“ bezeichnet. Diese Verfahren sind primär empirisch und deskriptiv orientiert; wie jede Form anthropologischer Datenaufnahme und Beschreibung sind sie aber nicht theoretisch neutral, sondern transportieren über ihre Anwendung gewisse theoretische Annahmen und Positionen.

Den Gegenstand der Darstellung bilden dabei nicht genetische Beziehungen, sondern das jeweilige Wissen der handelnden Personen über solche Beziehungen. Eine Genealogie im Sinne der Kultur- und Sozialanthropologie zeichnet auf, wer mit wem als auf welche Weise verbunden gilt. Die Frage nach den objektivierbaren Fakten ist dabei weitestgehend irrelevant. Relevant ist dagegen die Unterscheidung von sozialer und physischer Verwandtschaft [> 2.1], falls im jeweiligen emischen Kontext eine solche Unterscheidung vorgenommen wird. Wenn dies der Fall ist (so wie etwa in unserer Gesellschaft), dann muss es auch bei der Aufnahme genealogischer Daten beachtet werden. Anerkannte Konventionen zur unterschiedlichen Notation sozialer und physischer Bindungen gibt es allerdings nicht [> 5.3.3] – mit Ausnahme des Sonderfalls der Adoption, die eine rechtlich anerkannte Form nichtphysischer Verwandtschaft darstellt.

An der impliziten Bevorzugung rechtlich relevanter Beziehungen zeigt sich ein bias der genealogischen Methode, der sich gut aus einer in den Kinship Studies lange vorherrschenden Orientierung auf die rechtliche Rolle von Verwandtschaft erklären läßt. Insofern wird die klassische genealogische Methode den heutigen Perspektiven auf Verwandtschaft nur teilweise gerecht. Im Zuge des kritischen Hinterfragens konventioneller anthropologischer Ansätze ist auch die genealogische Methode einer grundlegenden Kritik [> 5.6] unterzogen worden. Ihre Anwendung auf aktuelle Forschungsprobleme sollte daher im Bewusstsein dieser Kritik erfolgen.

5.1 Rivers und die genealogische Methode



Die Beschäftigung mit genealogischen Zusammenhängen und ihre Aufzeichnung, z.B. in bildhafter Form als Stammbaum, hat in Europa eine lange Tradition, die bis in die Spätantike zurückreicht (vgl. Kraus 2004: 26). Mit genealogischen Daten beschäftigen sich diverse wissenschaftliche Disziplinen auf unterschiedliche Weise. Das, was wir im Bereich der Kultur- und Sozialanthropologie als genealogische Methode bezeichnen, wurde begründet durch W. H. R. Rivers während seiner Teilnahme an der berühmten Torres Straits-Expedition, die sich 1898–99 unter Leitung von A. C. Haddon der Erforschung der Torresstraßen-Inseln zwischen Australien und Neuguinea widmete.

Anfangs mehr Naturwissenschaftler als Anthropologe, begann Rivers die Verwandtschaftbeziehungen zwischen verschiedenen Personen zu dokumentieren und entdeckte dabei die überraschende Reichhaltigkeit und Präzision lokalen genealogischen Wissens:

„I soon found that the knowledge possessed by the natives of their families was so extensive, and apparently so accurate, that a complete collection of the genealogies as far back as they could be traced would be interesting and might enable one to study many sociological problems more exactly than would be otherwise possible (...) I collected in Murray Island and Mabuiag genealogies which included the families of almost, if not quite, every individual now living on those islands. It is only, however, since leaving the islands, and while getting the data into order, that I have realised the many possibilities which I believe this method opens to the anthropologist“ (Rivers 1900: 74).

Als Arzt und Psychologe war Rivers zunächst an genetischen und nicht an sozialen Zusammenhängen interessiert. Im Zusammenhang mit seinen Untersuchungen zur Farbwahrnehmung bei den Bewohnern der Torresstraßen-Inseln begann er, Genealogien zu sammeln, um die Vererbung physiologischer Eigenschaften zu untersuchen. Er entdeckte jedoch rasch die Möglichkeiten, die das Sammeln weitreichender genealogischer Daten für eine anthropologische Beschäftigung etwa mit Verwandtschaftssystemen und Heiratsformen bot (Rivers 1900: 78). Eine seiner Schussfolgerungen lautet:
„The great value of the genealogical method is that it enables one to study abstract problems, on which the savage’s ideas are vague, by means of concrete facts, of which he is a master“ (Rivers 1900: 82).


File:Image --- Abb. 2. Eine der von Rivers gesammelten Genealogien (Rivers 1900: plate III)

Die grafische Darstellungsweise, die Rivers 1900 verwendete (Abb. 2), unterscheidet sich von den heute gebräuchlichen > Konventionen, aber sie enthält, wie Fischer anmerkt, bereits die wichtigsten Prinzipien der heute üblichen Darstellungen – ein Beleg für den anhaltenden Einfluss Rivers’ auf die genealogische Methode (Fischer 1996: 118).

Nach mehreren weiteren Publikationen legte Rivers seine Methode der Erhebung und Dokumentation genealogischer Daten auch in der 4. Auflage der Notes and Queries on Anthropology (1912), eines vom Royal Anthropological Institute herausgegebenen Methodenhandbuchs, dar. Auch in der 1951 erschienenen 6. Auflage ist der Abschnitt zur genealogischen Methode (Notes and Queries 1951: 50–55) deutlich von Rivers geprägt (vgl. Fischer 1996: 123). Noch 1967 stellte John A. Barnes – der selbst wichtige methodische Beiträge zur Weiterentwicklung der genealogischen Methode leistete (Barnes 1947; 1967) – fest, Rivers’ Methode könne kaum verbessert werden (Barnes 1967: 106; zit. nach Fischer 1996: 127).

5.2 Kurznotation von Verwandtschaftsverhältnissen



Es gibt unterschiedliche Verfahren der nichtgrafischen Notation von Verwandtschaftsverhältnissen. Ihr Zweck ist die anschauliche und eindeutige Darstellung von Verwandtschaftsverhältnissen. In der Regel gehen sie aus von den acht primary kin types (primären genealogischen Relationen) [> 2.2]. Die Zeichen in den verschiedenen Systemen sind meist Abkürzungen für diese Grundverhältnisse. Die gängigen Systeme unterscheiden sich nach der Sprache, von der sie ausgehen, sowie nach der Zahl der Buchstaben, die für die Abkürzung verwendet werden (meist 1 oder 2). Das Grundverhältnis Vater etwa läßt sich so – unter anderem – deutsch als Va, englisch als F oder Fa und französisch als Pe darstellen (vgl. Parkin 1997: 9). Ein formal-logisch statt sprachlich basiertes Notationssystem wurde von Romney entwickelt (vgl. Romney & D’Andrade 1964: 149). Es hatte in den 1960er Jahren einen gewissen Einfluss, konnte sich aber nicht dauerhaft durchsetzen.

Das übersichtlichste und in letzter Zeit auch international verbreitetste System (vgl. Barnard & Good 1984: 4; Barnes 1967: 122 f.; Parkin 1997: 9) geht von den englischen Verwandtschaftstermini aus und verwendet je einen Großbuchstaben für die acht primary kin types:

F father/Vater
M mother/Mutter
S son/Sohn
D daughter/Tochter
H husband/Ehemann
W wife/Ehefrau
B brother/Bruder
-


Weitere Zeichen fassen gewisse primäre genealogische Relationen zu Überkategorien zusammen, indem sie die Differenzierung nach dem Geschlecht von Alter [> 2.2] (der/dem jeweiligen Verwandten) vernachlässigen:

P parent/Elternteil
C child/Kind
E spouse/Ehepartner
G sibling/Geschwister


Durch die Verkettung dieser einfachen Zeichen lassen sich auch andere – komplexere oder entferntere – Verwandtschaftsverhältnisse ziemlich eindeutig darstellen. Meine väterliche Parallelcousine z.B. ist FBD; der mütterliche Onkel meiner Ehefrau ist WMB. Die Reihenfolge der verketteten Zeichen geht immer von > Ego aus: im Fall des Verhältnisses WMB lesen wir also Egos Ehefrau > deren Mutter > deren Bruder, so wie dies in der englischen Sprache (nicht aber in der deutschen) gehandhabt wird: wife’s mother’s brother.

Verwandtschaftsverhältnisse, die von den geordneten Beziehungen in der hypothetischen Kernfamilie abweichen, sind etwa Halbgeschwister und Stiefeltern. Sie werden jeweils über die/den verbindende/n Verwandte/n geführt: MS (mother’s son) ist mein väterlicher Halbbruder; FW (father’s wife) ist meine Stiefmutter (Barnes 1967: 123). Noch höhere deskriptive Präzision lässt sich durch verschiedene Zusätze in Kleinbuchstaben erlangen:

e elder/der od. die ältere
y younger/der od. die jüngere
ms man speaking/männliches Ego
ws woman speaking/weibliches Ego
os opposite sex/gegengeschlechtlich
ss same sex/gleichgeschlechtlich


Die Zeichen e und y beziehen sich auf das relative Alter der/des jeweiligen Verwandten und sollten in der Regel nach der englischen Wortfolge gelesen werden. FyBWB bedeutet „ego’s father’s younger brother’s wife’s brother“. FBWyB dagegen heißt „ego’s father’s brother’s wife’s younger brother“. Ist das relative Alter in Bezug auf ego gemeint, dann ist das Zeichen nachzustellen: FBWBy heißt „father’s brother’s wife’s brother who is younger than ego“ (Barnard & Good 1984: 4). Barnard & Good bestehen daher auch darauf, dass „ego’s elder brother“ Be zu schreiben ist (1984: 4); das üblichere eB (z.B. Parkin 1997: 9 f.) dagegen entspricht der englischen Wortfolge (für eine andere Form der Darstellung des relativen Alters vgl. Barnes 1967: 123).

Die anderen Zeichen (ms, ws, os, ss) sind vor allem im Zusammenhang mit Verwandtschaftstermini von Bedeutung [> 7.1]; zu ihrer Verwendung s. Barnard & Good 1984: 4 f.; Parkin 1997: 9 f.

Wesentlich ist: alle diese Zeichen oder Zeichenketten beziehen sich zunächst nicht auf konkrete Personen, sondern auf das, was Fischer (1996: 156) genealogische Relationen nennt, vom Standpunkt Egos aus betrachtet [> 2.2]. Konkrete Personen füllen diese Positionen nur in einem relativen Sinn aus, eben in Bezug zu einem bestimmten Ego. Insofern betrifft jedes Verwandtschaftsverhältnis zunächst zwei Personen, Ego und Alter (die/den jeweilige Verwandte/n). Wenn Ego z.B. zwei Schwestern hat, dann stehen diese beiden Personen zu ihr/ihm in der Relation Z = Schwester. Es handelt sich also um zwei Verwandtschaftsverhältnisse in der gleichen genealogischen Relation zu Ego.

Jede Verwandtschaftsposition ist also grundsätzlich relativ [> 2.2]; dennoch können gewisse Verwandtschaftsverhältnisse auch absolute Statuspositionen vermitteln. Eine Ehefrau kann z.B. in einer konkreten Gesellschaft – unabhängig vom Blickwinkel Egos – einen anderen Status haben als eine unverheiratete Frau; ein Mann mit Kindern kann einen anderen Status haben als einer ohne Kinder.

5.3 Grafische Notation



Für die grafische Notation von genealogischen Zusammenhängen haben sich in der Kultur- und Sozialanthropologie ziemlich einheitliche Konventionen etabliert, die nur bei den weniger gebräuchlichen Symbolen etwas variieren. Auch hier wird – wie bei der nichtgrafischen Kurznotation von Verwandtschaftsverhältnissen [> 5.2] – grundsätzlich vom theoretisch fragwürdigen Modell der Kernfamilie [> 2.2] ausgegangen.

Für die gegenwärtigen Perspektiven des Faches mag das konventionelle Verfahren grafischer Notation oft zu begrenzt erscheinen und muss gegebenfalls modifiziert werden [> 5.6]. Die Fertigkeit, genealogische Diagramme zu lesen und zu zeichnen, bildet jedoch auch in der Gegenwart ein unentbehrliches Grundwissen für Studierende der Kultur- und Sozialanthropologie. Eine sehr umfassende neuere Darstellung der üblichen Notationsmethode findet sich in Fischer 1996 (vgl auch Barnard & Good 1984: 5–7; Parkin 1997: 11–13; Stone 1998: 7–11).


5.3.1 Grundlegende Zeichen


Wenn wir vom Modell der hypothetischen Kernfamilie ausgehen, so behötigen wir Zeichen für die Darstellung der drei Grundverbindungsarten Filiation, Ehe und Geschwisterschaft [> 2.2]. Dazu kommen Zeichen für Person weiblichen bzw. männlichen Geschlechts. Mit diesen fünf grundlegenden Zeichen lassen sich bereits die meisten genealogischen Zusammenhänge und Verwandtschaftsverhältnisse darstellen.

File:Image Mann
File:Image Frau


Manchmal ist die Geschlechtsidentität einer Person unbekannt oder irrelevant. Für dieses ergänzende Zeichen gibt es zwei Varianten:

File:Image Person undefinierten Geschlechts (nach Fischer 1996: 20)
File:Image Person undefinierten Geschlechts (nach Stone 1998: 7)


Die Personenzeichen können mit einem Schrägstrich modifiziert werden, um darzustellen, dass die betreffende Person verstorben ist. Im Normalfall bedeutet das: verstorben zu jenem konkreten Zeitpunkt, auf den sich das Diagramm bezieht.

File:Image Frau bzw. Mann verstorben


Die Personenzeichen werden durch Verbindungszeichen miteinender in Beziehung gesetzt. Filiation wird dabei gewöhnlich als eine vertikale Verbindung gedacht, Ehe und Geschwisterschaft als horizontale Verbindungen.

File:Image Filiation
File:Image Beispiel 1


Jan ist mit Ida durch eine Filiationsbeziehung verbunden. Dass Jan oberhalb von Ida steht, wird konventionell so gelesen: Jan steht eine Generation über Ida, d.h. Jan ist der Vater (F) von Ida; Ida ist die Tochter (D) von Jan. Generationen werden vertikal absteigend geordnet. Die Namen der dargestellten Personen werden – sofern sie für die Darstellung relevant sind – meist unter die Personenzeichen geschrieben; das kann jedoch wie hier aus Gründen der Übersichtlichkeit auch anders gehandhabt werden.

Die horizontale Linie für die Geschwisterschaft muss unbedingt über den Personenzeichen stehen, die sie verbindet. Eine Linie zwischen den Zeichen hat eine andere Bedeutung (s. > Abschnitt 5.3.3).

File:Image Geschwisternschaft
File:Image Beispiel 2


Eva ist mit Tom durch eine Geschwisterbeziehung verbunden. Dass Eva links und Tom rechts steht, wird konventionell so gelesen: Eva ist die ältere Schwester (eZ) von Tom; Tom ist der jüngere Bruder (yB) von Eva. Geschwister werden – falls nicht andere Prioritäten bei der Darstellung gesetzt werden – immer nach der Reihenfolge der Geburt von links nach rechts geordnet. Manchmal ist dies nicht möglich, etwa wenn Heiratsbeziehungen zwischen bereits verwandten Personen dargestellt werden sollen. Geschwister werden stets auf einer horizontalen Ebene stehend dargestellt; dies gilt überhaupt für alle Angehörigen derselben Generation.

Für die Ehe bzw. Heiratsbeziehung gibt es zwei alternative Zeichen:

File:Image Heiratsbeziehung
File:Image Heiratsbeziehung


Die beiden Zeichen unterscheiden sich vor allem pragmatisch. Das erste ist unmittelbar anschaulicher und hebt sich deutlicher von der Geschwisterschaft ab. Das zweite Zeichen eignet sich besser, um in komplexen Diagrammen weit entfernte Personen zu verbinden oder um mehrfache Ehen einer Person darzustellen. In einem einzelnen Diagramm sollten die beiden Zeichen nicht vermischt werden, sondern immer eines der beiden Zeichen durchgehend verwendet werden.

Die Verbindungszeichen für die Heiratsbeziehung können mit einem Schrägstrich modifiziert werden, um darzustellen, dass die betreffende Ehe zum Zeitpunkt, auf den sich das Diagramm bezieht, geschieden ist.

File:Image Ehe geschieden
File:Image Ehe geschieden
File:Image Beispiel 3


Die logische Minimalform der hypothetischen Kernfamilie umfasst die Eltern und zwei Kinder verschiedenen Geschlechts. Sie enthält somit alle acht primary kin types. Früher war es konventionell, in der Darstellung der Eheverbindung stets den Mann links zu zeichnen (vgl. Fischer 1996: 21); dies schreibt jedoch (im Zusammenhang mit der uns geläufigen Leserichtung) auf unnötige Weise eine Geschlechterhierarchie fest. Vielfach ist die Anordnung von Ehepartnern in der Darstellung bereits durch die zuvor festgelegte Anordnung anderer Verwandter vorgegeben.

File:Image |Beispiel 4


Die Kernfamilie aus Beispiel 3 lässt sich auch so darstellen. Falls man sich für die horizontale Linie als Zeichen für die Ehe entscheidet, müssen die Zeichen für Ehe und Geschwisterschaft unbedingt getrennt werden, also zwei verschiedene horizontale Linien verwendet werden, da es sich um zwei verschiedene Verbindungsarten handelt.


5.3.2 Weitere Darstellungskonventionen


Wenn wir die Kernfamilie aus Abschnitt 5.3.1, Beispiel 4 um ein Kind erweitern, ergibt sich folgende
Darstellung:

File:Image --- Beispiel 5

In einem solchen Diagramm sollte die senkrechte Linie, die zu Tom führt, nicht durchgezogen, sondern etwas versetzt gezeichnet werden. Dies zeigt, dass die Verbindung zwischen Tom und seinen Eltern keinedirektere ist als die zu seinen Geschwistern, und hilft bei komplexen Diagrammen, Verwechslungen mit zufälligen Kreuzungen von Linien zu vermeiden. Der Eindeutigkeit halber sollte bei solchen zufälligen Kreuzungen, die keinen Informationsgehalt vermitteln – etwa wenn sich eine Filiationsbeziehung mit einer Heiratsbeziehung schneidet – eine kleine Brücke eingebaut werden:

File:Image Überschneidung verschiedener Verbindungen
File:Image Beispiel 6


Wenn es sich bei Tom und Uwe um Zwillinge handelt, sollte die Darstellung so erfolgen. Analog können auch andere Mehrfachgeburten dargestellt werden.

In vielen genealogischen Darstellungen ist es nötig, eine bestimmte Person als Ego [> 2.2] zu identifizieren. Dies ist immer dann erforderlich, wenn der Verhältnisaspekt von Verwandtschaft im Vordergrund steht, etwa bei der Darstellung von Verwandtschaftstermini im Verhältnis zu Ego. Ego wird markiert, indem das betreffende Symbol ausgefüllt wird.

File:Image Ego (weiblich)
File:Image Ego (männlich)
File:Image Beispiel 7
File:Image Beispiel 8


Die beiden Diagramme zeigen die Kintypen [> 7] in einer hypothetischen Kernfamilie von zwei unterschiedlichen Bezugspunkten aus.

Wenn eine Genealogie auf Ego bezogen dargestellt oder beschrieben wird, dann werden häufig die Generationen in Relation zu Ego nummeriert. Egos Generation ist 0, die Generation seiner/ihrer Eltern heißt die erste aufsteigende Generation (+1), die der Großeltern die zweite aufsteigende Generation (+2) usw. Die Generation von Egos Kindern ist die erste absteigende Generation (-1), die der Enkel die zweite absteigende Generation usw.

Mehrfache Ehen einer Person – ob gleichzeitig oder aufeinanderfolgend – werden durch die Kombination der bereits bekannten Zeichen dargestellt. Diese Kombination kann allerdings auf unterschiedliche Arten erfolgen.

File:Image Beispiel 9
File:Image Beispiel 10


Beide Diagramme vermitteln die gleiche Information. Sie zeigen einen Mann, der mit zwei Frauen durch Heiratsbeziehungen verbunden ist. Da beide Verbindungen aufrecht sind und alle Beteiligten noch am Leben sind, handelt es sich um eine polygyne Familie.

File:Image Beispiel 11
File:Image Beispiel 12
File:Image Beispiel 13


Wenn wir das zweite Verbindungszeichen für Ehe verwenden, dann kann die Situation in den Beispielen 9 und 10 auf diese Arten dargestellt werden.

File:Image Beispiel 14
File:Image Beispiel 15


Im Gegensatz zu den vorangegangenen Beispielen sind diese beiden Darstellungen uneindeutig und können nur mit einer näheren Erklärung richtig interpretiert werden. In Beispiel 14 handelt es sich entweder um eine geschiedene erste Ehe und eine nachfolgende zweite, oder aber um eine polygyne Familie, in der die erste Ehe geschieden wurde. Die gleiche Unklarheit besteht bei Beispiel 15, wo eine der beiden Ehefrauen verstorben ist. Bei der Reihung mehrerer Ehen einer Person von links nach rechts sollte – ähnlich wie bei Geschwistern – nach Möglichkeit die Chronologie beachtet werden, wobei hier die zeitliche Abfolge der Eheschließungen relevant ist.

File:Image Beispiel 16
File:Image Beispiel 17


Eine polyandrische Familie, in der die beiden Ehemänner je ein Kind mit der gemeinsamen Ehefrau haben, kann so dargestellt werden. Analog hat die Darstellung von Halbgeschwistern auch zu erfolgen, wenn wir es mit aufeinanderfolgenden Ehen zu tun haben.

Grundsätzlich wird, wie in Abschnitt 5.3.1 ausgeführt, Filiation durch eine vertikale Linie dargestellt, Geschwisterschaft durch eine horizontale und Ehe durch ein Ist gleich-Zeichen oder durch eine horizontale Linie. Wenn es die Platzverhältnisse in einem Diagramm erfordern, kann eine Filiationsbeziehung aber auch – wie in den Beispielen 16 und 17 – durch einen horizontalen Strich verlängert werden.

File:Image Filiationsbeziehung




5.3.3 Ergänzende Zeichen



Anhand der fünf grundlegenden Zeichen (für Filiation, Ehe, Geschwisterschaft, Person männlich, Person weiblich) [> 5.3.1] und ihre Kombinationen lassen sich alle Verwandtschaftsverhältnisse in der hypothetischen Kernfamilie und ein großer Teil der realen Verwandtschaftsverhältnisse in vielen Gesellschaften darstellen. Dazu zählen auch von der hypothetischen Kernfamilie abweichende Familienformen wie etwa polygame Familien [> 6.3]. Es gibt jedoch – auch im Bereich genealogischer Verwandtschaft – unterschiedliche Arten von Beziehungen, für die das nicht gilt.

Für diese sind zusätzliche Zeichen entwickelt worden, die größere deskriptive Präzision erlauben. Da die Kinship Studies lange durch die idealisierte Darstellung struktureller Verwandtschaftsrollen dominiert waren und die realen Verwandtschaftsverhältnisse realer Personen demgegenüber erst spät in den Vordergrund traten, gibt es jedoch z.B. für Partnerschaften ohne Ehe keine eindeutig standardisierten Zeichen.

Für eine uneheliche Beziehung („sexual relationship“) verwendet Linda Stone das folgende Zeichen:

File:Image uneheliche Beziehung (Stone 1998: 7)


Fischer differenziert hier genauer. Er unterscheidet zu Recht zwischen einer außerehelichen Beziehung ohne Partnerschaft (die in der Regel nur dann genealogisch relevant ist, wenn es Nachkommen gibt) und einer Partnerschaft. Er schlägt dafür die folgenden Zeichen vor:

File:Image außereheliche (illegitime) Beziehung
File:Image Partnerschaft (Fischer 1996: 22 f.)


Für wieder andere Arten von Verwandtschaftsverhältnissen vor allem im Bereich der nichtgenealogischen Verwandtschaft wurden überhaupt keine Zeichen entwickelt, oder es besteht zumindest keine Einhelligkeit über ihre Verwendung. Die einzige Ausnahme bildet die quasi-filiative Verbindung, die durch Adoption hergestellt wird.

File:Image | adoptive Verbindung


Bei aller Nützlichkeit der grafischen Darstellung von Verwandtschaftsverhältnissen müssen wir uns auch der Grenzen dieser Methode und ihrer blinden Flecken bewusst sein. Methoden und Theorien sind Instrumente der Wahrnehmung, Fenster auf die empirische Welt, die uns bestimmte Zusammenhänge zeigen, andere aber zugleich unsichtbar machen.

Im Fall der Darstellungskonventionen, die im Rahmen der genealogischen Methode entwickelt worden sind, betreffen diese blinden Flecken vor allem zwei Bereiche. Zum einen hat sich keine verbindliche Darstellungweise etabliert, die eine systematische Unterscheidung zwischen physischer und sozialer Verwandtschaft [> 2.1] erlauben würde. Das ist umso erstaunlicher, als diese Unterscheidung fast seit den Anfängen der Kinship Studies als essentiell angesehen wird.

Zum anderen setzt die genealogische Methode insgesamt eine klare Geschlechterdichotomie voraus, die als universell und „natürlich“ angenommen wird. Selbst wenn diese Annahme in den meisten Gesellschaften anzutref fen ist, entspricht sie nicht dem aktuellen Stand in den Kinship Studies, sondern reflektiert ein älteres theoretisches Verständnis. Zudem gibt es eine ganze Reihe von ethnografisch dokumentierten Genderrollen, die nicht in die binäre Logik von Mann und Frau passen. Aber auch in den westlichen Gesellschaften sind wir uns zunehmend der Tatsache bewusst, dass andere Geschlechtsidentitäten die als „natürlich“ empfundene Grenze zwischen männlich und weiblich in Frage stellen [> 5.6].

5.4 Komplexe grafische Darstellungen


Die Möglichkeit der grafischen Darstellung genealogischer Zusammenhänge kann für sehr unterschiedliche Zwecke herangezogen werden. Am Anfang stand sicherlich die Absicht, die Genealogien konkreter Personen exakt und übersichtlich darzustellen (vgl. Rivers 1900). Dies ist nach wie vor ein Hauptanwendungsgebiet der konventionellen Zeichen, die im Abschnitt 5.3 beschrieben werden.

Ein Beispiel wäre diese anonymisierte persönliche Genealogie, die das genealogische Wissen von „Eva Schnur“ darstellt.

File:Image --- Abb. 1. Anonymisierte persönliche Genealogie (aus Fischer 1996: 43)

In solchen komplexen Diagrammen kann, wenn sie über viele Generationen reichen, die Zeitachse auch horizontal statt vertikal angelegt werden (vgl. Barnes 1967: 121). Die Grundregel, dass Filiation durch eine vertikale und Ehe sowie Geschwisterschaft durch horizontale Linien dargestellt werden [> 5.3.1], ist in diesem Fall umgekehrt. Die Generationenabfolge wird dann statt von oben nach unten von links nach rechts gelesen.

Ein anderer Anwendungszweck als jener der persönlichen Genealogie sind schematische Darstellungen, die sich nicht auf konkrete Personen beziehen. Sie dienen dazu, formale Zusammenhänge anschaulich zu machen. Das folgende Diagramm zeigt alle logisch möglichen Kintypen [> 7] der näheren Blutsverwandten Egos sowie (in den Generationen 0 und +1) deren EhepartnerInnen. Ein Diagramm dieser Art ist keine Genealogie im eigentlichen Sinn (vgl. Fischer 1996: 87); es eignet sich dagegen gut z.B. für einen Überblick über die Verwandtschaftstermini, die in einer bestimmten Sprache verwendet werden.

File:Image --- Abb. 2. Egos nähere Blutsverwandte und deren EhepartnerInnen (in Anlehnung an Schusky 1965: 10)

Eine besonders abstrahierte Form solcher schematischer Darstellungen bilden die Modelle der Struktur von Heiratssystemen, die auf der „Präferenzheirat“ (Lévi-Strauss 1993) mit bestimmten Verwandten beruhen.

[[File:image --- Abb. 3. Heirat mit der MBD (langer Zyklus) (aus Lévi Strauss 1993 [1949]: 608)]]

Wenn Sie die Abschnitte 5.3.1 bis 5.3.3 durchgearbeitet haben, dann sollten Sie jetzt imstande sein, eine Genealogie Ihrer eigenen Verwandtschaft (so wie in Abb. 1 oben) zu zeichnen. Sie sollten mindestens bis zu Ihren Großeltern zurückgehen und nach Möglichkeit auch deren Geschwister und alle ihre Nachkommen erfassen. Sie werden sehen, dass Sie für eine übersichtliche Darstellung auf einer Seite höchstwahrscheinlich mehr als einen Versuch brauchen werden. Detaillierte Anweisungen für die Erstellung der eigenen und anderer Genealogie gibt Fischer (1996).

Für diese Aufgabe ist eine Überprüfung leider nicht möglich. Sie können jedoch anhand der Übungsaufgaben [> 10; noch nicht verfügbar!] zugleich Ihre Beherrschung des Handwerkszeugs der genealogischen Methode und Ihr Verständnis diverser technischer Begrifflichkeiten überprüfen.

5.5 Unterschiedliche Formen von Genealogie


Noch nicht verfügbar!

5.6 Kritik an der genealogischen Methode


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6. Grundlegende Konzepte


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6.1 Grundarten verwandtschaftlicher Verbindung


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6.1.1 Blutsverwandtschaft


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6.1.2 Affinalverwandtschaft


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6.1.3 Nichtgenealogische Verwandtschaft


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6.2 Kategorien von Verwandtschaftsverhältnissen


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6.3 Familie und Haushalt


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6.4 Postmaritale Residenz


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7. Terminologische Systeme


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7.1 Dimensionen terminologischer Differenzierung


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7.2 Murdocks Typologie


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8. Deszendenz


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8.1 Deszendenz vs. Verwandtschaft


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8.2 Was ist Deszendenz?


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8.3 Deszendenzgruppen


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8.4 Andere Verwandtschaftsgruppen


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9. Allianz


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10. Übungsaufgaben


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11. Literatur



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