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'''[[Profit-Organisationen_-_Ausgewählte_Studien/Dunn#5.1 Elizabeth Dunn 2004 "Privatizing Poland. Baby Food, Big Business, and the Remaking of Labor"|Vorheriges Kapitel: 5.1 Elizabeth Dunn 2004 "Privatizing Poland. Baby Food, Big Business, and the Remaking of Labor"]]'''
 
  
= 5.2 Ailon-Souday/Kunda (2003) "The Local Selves of Global Workers. The Social Construction of National Identity in the Face of Organizational Globalization" =
 
<sup>Verfasst von Gerlinde Schein und Gertraud Seiser</sup><br />
 
  
[[File:organthro-114_1.jpg|frame|right|Foto: Tel Aviv, 2005  (© Bright Tal, Lizenz: CC BY-NC-SA [http://flickr.com Quelle])]]
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'''[[Profit-Organisationen_-_Ausgewählte_Studien#5. Profit-Organisationen: Ausgewählte Studien|Vorheriges Kapitel: 5. Profit-Organisationen: Ausgewählte Studien]]'''
  
'''Welche Bedeutung und welchen Einfluss hat nationale Identität im Kontext der Globalisierung von Unternehmen?'''
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= 5.1 Elizabeth Dunn (2004) &quot;Privatizing Poland. Baby Food, Big Business, and the Remaking of Labor&quot; =
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<sup>Verfasst von Gerlinde Schein und Gertraud Seiser</sup><br />
  
Galit Ailon-Souday und Gideon Kunda (2003) bieten mit ihrem Artikel &quot;The local selves of global workers&quot; einen Beitrag zur Beantwortung dieser Frage.
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[[File:organthro-106_1.jpg|frame|right|Abbildung: Landkarte Polen [http://www.lib.utexas.edu/maps/cia06/poland_sm_2006.gif Quelle]]]
  
Die empirische Basis für ihre Argumentation bildet ethnographisches Material aus dem in Tel Aviv angesiedelten High Tech-Unternehmen Isrocom (ein Pseudonym), das im Forschungszeitraum mit einem US-amerikanischen Konkurrenzunternehmen fusionierte.
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Was geschieht in einem ehemaligen sozialistischen Staatsbetrieb, der privatisiert und von einem US-Konzern gekauft wurde? Welche neuen, kapitalistischen Managementtechniken werden eingeführt? Wie verändern sich die Machtbeziehungen innerhalb des Betriebs und wie die Vorstellungen von Produktion, Arbeit und Erfolg? Welche Wirkung hat dies auf das Selbstbild der ArbeiterInnen? ...
  
Ailon-Souday und Kunda erkennen in nationaler Identität eine '''symbolische Ressource'''. Organisationsmitglieder können diese Ressource '''in den sozialen Kämpfen''' nutzen, die durch Globalisierungsprozesse in Organisationen ausgelöst werden.
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Diesen und weiteren Fragen geht die US-amerikanische Anthropologin '''Elizabeth Dunn''' in &quot;Privatizing Poland. Baby Food, Big Business, and the Remaking of Labor&quot; nach (2004; siehe auch Dunn 1999). Detailreich beschreibt und analysiert sie die '''Transformation des ehemaligen Staatsbetriebs Alima-Gerber in Rzeszów in ein kapitalistisch geführtes Unternehmen'''. Dunn porträtiert auf diese Weise anschaulich den '''gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Wandel im postsozialistischen Polen'''.
  
Die AutorInnen stellen sich damit gegen den Trend innerhalb der Organisationsforschung, nationale Identität als objektive, kognitive Essenz zu betrachten. Sie zeigen stattdessen die '''soziale Konstruiertheit nationaler Identität''' auf. Organisationsmitglieder können wählen, wie sie nationale Identität definieren und wie (und wofür) sie sie im Unternehmen einsetzen.
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Nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Partei 1989 war es zunächst darum gegangen, politische und wirtschaftliche Wahlmöglichkeiten zu schaffen. Bald jedoch schon wurden Stimmen laut, die eine neue &quot;Mentalität&quot; bzw. einen &quot;kulturellen Wandel&quot; verlangten. Das postsozialistische Subjekt sollte frei wählen, unabhängig und unternehmerisch agieren, risikofreudig und flexibel sein. Einer der Orte, an dem dieses Subjekt geformt werden sollte, war der Arbeitsplatz. Dunn liefert mit ihrer Analyse der Managementpraktiken, die bei Alima-Gerber eingeführt wurden, und den damit verbundenen Auseinandersetzungen und Konflikten im Betrieb daher auch einen '''Beitrag zur anthropologischen Diskussion um &quot;personhood&quot;''' (Dunn 2004).
  
 
'''Literatur:'''
 
'''Literatur:'''
  
'''Ailon-Souday, Galit, and Gideon Kunda'''
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'''Dunn, Elizabeth C.'''
  
<blockquote>2003 The local selves of global workers. The social construction of national identity in the face of organizational globalization. ''Organization Studies'' 24: 1073-1096.
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<blockquote>1999 Slick salesmen and simple people. Negotiated capitalism in a privatized Polish firm. In: Michael Burawoy and Katherine Verdery (eds.), Uncertain Transition: Ethnographics of Change in the Postsocialist World. Rowman &amp; Littlefield
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<blockquote>2004 Privatizing Poland. Baby Food, Big Business, and the Remaking of Labor. Ithaca; London: Cornell University Press
 
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'''Website:''' '''Elizabeth Dunn[http://www.elizabethcullendunn.com/ &#91;1&#93;]'''
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'''Verweise:'''<br />
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[http://www.elizabethcullendunn.com/ &#91;1&#93; http://www.elizabethcullendunn.com/]<br />
  
  
 
== Inhalt ==
 
== Inhalt ==
 
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[[Profit-Organisationen_-_Ausgewählte_Studien/Ailon-Souday-Kunda#5.2 Ailon-Souday/Kunda (2003) &quot;The Local Selves of Global Workers. The Social Construction of National Identity in the Face of Organizational Globalization&quot;|5.2 Ailon-Souday/Kunda (2003) &quot;The Local Selves of Global Workers. The Social Construction of National Identity in the Face of Organizational Globalization&quot;]]<br />
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[[Profit-Organisationen_-_Ausgewählte_Studien/Dunn#5.1 Elizabeth Dunn (2004) &quot;Privatizing Poland. Baby Food, Big Business, and the Remaking of Labor&quot;|5.1 Elizabeth Dunn (2004) &quot;Privatizing Poland. Baby Food, Big Business, and the Remaking of Labor&quot;]]<br />
:[[Profit-Organisationen_-_Ausgewählte_Studien/Ailon-Souday-Kunda#5.2.1 Ailon-Souday/Kunda (2003): Forschungsfeld und methodisches Vorgehen|5.2.1 Ailon-Souday/Kunda (2003): Forschungsfeld und methodisches Vorgehen]]<br />
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:[[Profit-Organisationen_-_Ausgewählte_Studien/Dunn#5.1.1 Dunn (2004): Das Forschungsfeld: Alima-Gerber in Rzeszów, Polen|5.1.1 Dunn (2004): Das Forschungsfeld: Alima-Gerber in Rzeszów, Polen]]<br />
:[[Profit-Organisationen_-_Ausgewählte_Studien/Ailon-Souday-Kunda#5.2.2 Ailon-Souday/Kunda (2003): Ergebnisse|5.2.2 Ailon-Souday/Kunda (2003): Ergebnisse]]<br />
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:[[Profit-Organisationen_-_Ausgewählte_Studien/Dunn#5.1.2 Dunn (2004): Methodisches Vorgehen: &quot;Fieldwork Is Work&quot;|5.1.2 Dunn (2004): Methodisches Vorgehen: &quot;Fieldwork Is Work&quot;]]<br />
::[[Profit-Organisationen_-_Ausgewählte_Studien/Ailon-Souday-Kunda#5.2.2.1 Ailon-Souday/Kunda (2003): Auszüge aus den Forschungsnotizen|5.2.2.1 Ailon-Souday/Kunda (2003): Auszüge aus den Forschungsnotizen]]<br />
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:[[Profit-Organisationen_-_Ausgewählte_Studien/Dunn#5.1.3 Dunn (2004): Ausgewählte Ergebnisse 1: Dichotomisierung von Produkten und Menschen|5.1.3 Dunn (2004): Ausgewählte Ergebnisse 1: Dichotomisierung von Produkten und Menschen]]<br />
::[[Profit-Organisationen_-_Ausgewählte_Studien/Ailon-Souday-Kunda#5.2.2.2 Ailon-Souday/Kunda (2003): Auszüge aus den Interviews|5.2.2.2 Ailon-Souday/Kunda (2003): Auszüge aus den Interviews]]<br />
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:[[Profit-Organisationen_-_Ausgewählte_Studien/Dunn#5.1.4 Dunn (2004): Ausgewählte Ergebnisse 2: Gegenstimmen aus der Produktionshalle|5.1.4 Dunn (2004): Ausgewählte Ergebnisse 2: Gegenstimmen aus der Produktionshalle]]<br />
:[[Profit-Organisationen_-_Ausgewählte_Studien/Ailon-Souday-Kunda#5.2.3 Ailon-Souday/Kunda (2003): Ausgewählte Schlussfolgerungen|5.2.3 Ailon-Souday/Kunda (2003): Ausgewählte Schlussfolgerungen]]<br />
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::[[Profit-Organisationen_-_Ausgewählte_Studien/Dunn#5.1.4.1 Zitat aus Dunn (2004): Produktion in der Division 4|5.1.4.1 Zitat aus Dunn (2004): Produktion in der Division 4]]<br />
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:[[Profit-Organisationen_-_Ausgewählte_Studien/Dunn#5.1.5 Dunn (2004): Ausgewählte Ergebnisse 3: Arbeitsplatzbewertung und Entlohnungssystem|5.1.5 Dunn (2004): Ausgewählte Ergebnisse 3: Arbeitsplatzbewertung und Entlohnungssystem]]<br />
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::[[Profit-Organisationen_-_Ausgewählte_Studien/Dunn#5.1.5.1 Abbildungen aus Dunn (2004): Faktoren der Arbeitsplatzbewertung und Kriterienbeschreibung|5.1.5.1 Abbildungen aus Dunn (2004): Faktoren der Arbeitsplatzbewertung und Kriterienbeschreibung]]<br />
 
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== 5.2.1 Ailon-Souday/Kunda (2003): Forschungsfeld und methodisches Vorgehen ==
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== 5.1.1 Dunn (2004): Das Forschungsfeld: Alima-Gerber in Rzeszów, Polen ==
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[[File:organthro-107_1.jpg|frame|right|Abbildung: Werbeplakat [https://web.archive.org/web/20061128101617/http://gerber.adv.wroc.pl/ Quelle]]]
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Die Nahrungsmittelfabrik '''Alima''' in '''Rzeszów''' war vor dem zweiten Weltkrieg gegründet worden und stellt Kindernahrung, Säfte, Marmeladen, Kompotte, Ketchup, Konserven und Tiefkühlgemüse her. 1992 war sie eine der ersten Staatsbetriebe Polens, die an westliche Konzerne verkauft wurden. Aus Sicht der polnischen Regierung sollten die Privatisierungen Finanzmittel und westliches Know How in die ehemaligen Staatsbetriebe bringen. Denn der neoliberale post- sozialistische Plan sah vor, Produktion und Distribution neu zu ordnen und global wettbewerbsfähige Unternehmen entstehen zu lassen.
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Mehrere westliche Konzerne interessierten sich für den Kauf von Alima. Den Zuschlag erhielt die im US-amerikanischen Fremont in Michigan angesiedelte '''Gerber Products Company'''. Ziel der Gerber Products Company war es, vom Produktionsstandort Rzeszów aus den Markt in Frankreich, Tschechien und Ungarn zu erschließen.
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Um dies zu erreichen, führte das Management des privatisierten Unternehmens, nun '''Alima-Gerber''' genannt, neue Funktionen (z.B. Marketing, Vertrieb, Personalmanagement) und ein aufwändiges System zur Qualitätskontrolle ein. Die verantwortlichen ManagerInnen schränkten die Produktpalette ein und nutzten das bis dahin in Polen kaum bekannte Nischenmarketing, um neue Produkte für neue Zielgruppen auf den Markt zu bringen. Im Bereich des Personalmanagements wurde ein System zur Arbeitsplatzbewertung und zur Leistungsbeurteilung entwickelt und an das Entlohnungs- und Prämiensystem gekoppelt. Ganze Unternehmensbereiche (z.B. Wäscherei, Wachdienst) wurden ausgelagert. Alima-Gerber reduzierte die Belegschaft um rund ein Drittel auf etwa 1000 MitarbeiterInnen. Im Vertriebsbereich wurde neues Personal aufgenommen. Zum Ausgleich saisonaler Produktionsspitzen zog das Unternehmen LeiharbeiterInnen heran. Kurz gesagt: Die Unternehmensführung von Alima-Gerber setzte auf '''westliche, post-fordistische Managementpraktiken''', um den Betrieb auf kapitalistische Profitorientierung hin auszurichten (Dunn 2004).
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== 5.1.2 Dunn (2004): Methodisches Vorgehen: &quot;Fieldwork Is Work&quot; ==
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Elizabeth Dunn verbrachte zwischen 1995 und 1997 sechzehn Monate in Rzeszów. Im Sinne '''teilnehmender Beobachtung''' arbeitete Dunn in dieser Zeit in der '''Produktion''' von Alima-Gerber. Sie bediente und überwachte Maschinen und Anlagen, verpackte Flaschen, putzte Böden, führte Tests zur Qualitätskontrolle durch, usw. &quot;It was often mind-numbing and always exhausting work, but it allowed me to understand the production process and to observe conflicts, negotiations, and employee discipline on the shop floor.&quot; (Dunn 2004: 24)
  
[[File:organthro-115_1.jpg|frame|right|Abbildung: Landkarte Israel [http://www.lib.utexas.edu/maps/cia06/israel_sm_2006.gif Quelle]]]
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Die Unternehmensbereiche '''Marketing und Vertrieb''' lernte Dunn näher kennen, indem sie VertreterInnen auf ihren Dienstreisen begleitete und an Ausbildungsseminaren für den Vertrieb teilnahm.
  
Der Artikel von Galit Ailon-Souday und Gideon Kunda (2003) basiert auf den Ergebnissen einer einjährigen Feldforschung im israelischen '''High Tech-Unternehmen Isrocom''' (ein Pseudonym). Im Forschungszeitraum beschäftigte Isrocom rund 1000 Mitarbeiterinnen.
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Im Bereich '''Human Resource Management''' arbeitete sie an einem Projekt mit, das Arbeitsplatzbewertungen und ein System zur Leistungsbeurteilung von MitarbeiterInnen entwickelte.
  
Isrocom war in Israel als ein besonders erfolgreiches israelisches Unternehmen bekannt. Anfang der 1980er Jahre in einem Bürogebäude in '''Tel Aviv''' gegründet, wuchs es zu einem Großunternehmen mit internationalen KundInnen und einem globalen Netz an Geschäftsniederlassungen heran.
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'''Formale Interviews''' führte Dunn ausschließlich mit dem oberen Management von Alima-Gerber, mit JournalistInnen und mit BeamtInnen relevanter Ministerien.
  
Dennoch, betonen Ailon-Souday und Kunda, war Isrocom ein '''Unternehmen mit einem ausgeprägt lokalen Charakter'''. Fast alle der 1000 Beschäftigten waren Israelis, die in Israel lebten. Die Forschungs- und Entwicklungsabteilung sowie die Produktion waren in Tel Aviv angesiedelt. Marketing und Kundenservice wurden von der Zentrale aus gesteuert und international meist von Israelis umgesetzt. Isrocom galt als &quot;one of the few Israeli high tech companies to fulfill the dream of international status&quot; (aus einer israelischen Zeitschrift, zitiert nach Ailon- Souday/Kunda 2004: 1077). Ein Manager von Isrocom beschrieb das Unternehmen so: Isrocom verfolge einen Traum, &quot;a dream ... to be like Ericsson: a company from a small country that conquers the global market&quot; (Ailon-Souday/Kunda 2003: 1077).
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Zur teilnehmenden Beobachtung im Betrieb und den Interviews kam die '''Forschung außerhalb des Unternehmens'''. Dunn wurde von ArbeitskollegInnen zum Abendessen eingeladen, schloss Freundschaften auch mit deren FreundInnen und erweiterte so das Feld, in dem sie sich bewegte. Diese Forschungsstunden beschreibt Dunn so:
  
Ende 1998 fusionierte Isrocom schließlich mit einem US-amerikanischen Konkurrenzunternehmen (Amerotech, ebenfalls ein Pseudonym). Rechtlich durch einen Aktientausch zwischen dem Mutterunternehmen Com und Amerotech zustande gekommen, wurde die Transaktion innerhalb von Isrocom und in der israelischen Presse als Akquisition interpretiert: '''&quot;Isrocom kauft Amerotech&quot;'''.
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<blockquote>''Because most of the shop floor workers were women, our conversations went on around children demanding to be heard, husbands demanding dinner, and pots on the stove demanding attention. Much of my research time was spent giving piggybacks, playing Barbie, peeling potatoes, and making dumplings. No matter what was going on, the television was always blaring away. The quiet conversations over cups of coffee that I had envisioned rarely took place. Instead, I built rapport with my informants and understood their daily activities by participating in their tasks. Fieldwork was work.'' (Dunn 2004: 25)</blockquote>
  
Mit der Fusion veränderte sich der lokale Charakter von Isrocom. Die Büros in Tel Aviv konnten bspw. nun nicht mehr als Zentrale eines global agierenden Unternehmens gesehen werden. Wesentliche Entscheidungen wurden nicht mehr allein in Tel Aviv getroffen, und auch die Beschäftigtenstruktur sah plötzlich ganz anders aus: kaum die Hälfte der Beschäftigten waren Israelis (Ailon-Souday/Kunda 2003: 1076ff).
 
  
Die Forschung konzentrierte sich auf die '''israelische Perspektive in dieser internationalen Fusion''', die us- amerikanische Seite blieb aus pragmatischen Gründen ausgespart.
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== 5.1.3 Dunn (2004): Ausgewählte Ergebnisse 1: Dichotomisierung von Produkten und Menschen ==
  
Die ethnographische Forschung begann am ersten Tag der Fusion und endete ein Jahr später. An Methoden kam zum Einen '''teilnehmende Beobachtung''' zum Einsatz; und zwar bei Schulungen, internationalen Telefonkonferenzen und bei Besprechungen genauso wie bei informellen Begegnungen, z.B. in Kaffeepausen und im Aufzug. Darüber hinaus wurden mehr als 130 '''unstrukturierte Interviews''' mit MitarbeiterInnen aus den verschiedenen Aufgabenbereichen und Hierarchiestufen und gemeinsam mit den Beobachtungsdaten ausgewertet (Ailon-Souday/Kunda 2003: 1076ff).
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''&quot;’Frugo!’ intoned a disembodied voice speaking Polish. Then, set against a dynamic background of color and noise, a young kid dressed like a Los Angeles gang member appeared, wearing fashionably baggy clothes and spray painting graffiti. In the background, a voice whispered the Frugo slogan, ’Frugo without boundaries’ (Frugo bez ograniczeri). Suddenly there was a rupture: the commercial became quiet, and the scene jump-cut to a monotonous, drab setting.&quot;'' (Dunn 2004: 58f)
  
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So beschreibt Elizabeth Dunn den Beginn der TV-Werbung für ein neues Produkt, das Alima-Gerber Mitte der 1990er Jahre auf den Markt brachte. Zum ersten Mal setzte Alima-Gerber dabei '''Nischenmarketing''' ein; eine bis dahin in Polen unbekannte Marketingmethode. In den Worten des Marketingchefs von Alima-Gerber: &quot;A product for everybody is a product for nobody. Nobody identifies with it.&quot; (Dunn 2004: 58) Nischenmarketing hingegen bedeutet, für spezifische Zielgruppen spezifische Produkte zu entwickeln und zu vermarkten.
  
== 5.2.2 Ailon-Souday/Kunda (2003): Ergebnisse ==
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Das neue Produkt Frugo richtete sich an die Zielgruppe der 13 bis 18-Jährigen und wurde in vier Geschmacksrichtungen produziert. Für jede der vier Frugo-Sorten gab es eine eigene Fernsehwerbung. Jeder Spot begann mit der oben zitierten Szene und zeigte dann eine/n dicke/n, unbewegliche/n Erwachsene/n.
  
Der Fusionsprozess des israelischen Unternehmens Isrocom mit Amerotech war deutlich von '''zwei sozialen Kämpfen der Isrocom-MitarbeiterInnen''' geprägt. Sie kämpften '''um lokale Abgegrenztheit und um globalen Status'''.
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<blockquote>''&quot;In the commercial for red Frugo, for example, the hated adult was a fat woman in black cloths and a beret, sitting against a red background. She said, aggressively, ’Fruit? They want fruit? When I was young, we often lacked beets! And they are asking for fruit!’ In the orange ad, a dumpy older woman with dyed orange hair and long orange fingernails sat at a table decorated with fussy lace doilies. She said, tremulously, ’Fruit? Fruit is good for decorating tables. But of course, plastic fruit can be decorative, too’.&quot;'' (Dunn 2004: 59)</blockquote>
  
Nationale Identität nahm in diesem Prozess drei Bedeutungen an.
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'''Die Pointe verstanden?'''
  
* 1. Nationale Identität wurde in den '''alltäglichen Interaktionen''' als '''Mittel zur Abgrenzung vom Fusionspartner Amerotech''' eingesetzt. Die Isrocom-MitarbeiterInnen bezeichneten ihre KollegInnen von Amerotech pauschal als &quot;Americans&quot;, &quot;Jimmys&quot; o.ä., machten sich über deren Verhaltens- und Ausdrucksweisen lustig, usw. Sie nutzten außerdem die hebräische Sprache, um die Grenze &quot;zwischen den nationalen Identitäten&quot; symbolisch zu betonen. In all diesen Interaktionen erscheint die Grenze als &quot;natürlich&quot;, objektiv und unüberschreitbar.
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Das polnische Publikum bog sich vor Lachen, berichtet Dunn. Es war vertraut mit der Dichotomie, die in der Frugo-Werbung benutzt wurde, um '''das Produkt und seine KonsumentInnen''' '''von allem Sozialistischen abzugrenzen und als kapitalistisch zu definieren'''. Die Tabelle zeigt die Dichotomie und die Assoziationen, die zu der Zeit – Mitte der 1990er Jahre – mit Sozialismus bzw. Kapitalismus verknüpft wurden.
* 2. Die Mitglieder von Isrocom sprachen von nationaler Identität oft im Sinne eines '''kollektiven Charaktertyps'''. Die israelische nationale Identität würde sich im Arbeitskontext vor allem positiv – und nur in geringerem Maße negativ – zeigen. Sie konstruierten sich auf diese Weise nicht nur als &quot;anders als die AmerikanerInnen&quot;, sondern als '''&quot;anders und besser&quot;''' - fleißiger, zielorientierter, flexibler, ehrlicher und damit für das Unternehmen wertvoller - als ihre US-amerikanischen KollegInnen.
 
* 3. Die MitarbeiterInnen von Isrocom akzeptierten die in Israel weit verbreitete Haltung, die den USA ein höheres Prestige und Israel einen '''marginalen globalen Status''' zuschrieb. Aus ihrer Sicht unterstrich dies sogar ihre Leistung. Ailon-Souday und Kunda formulieren es so: ''&quot;Since it was Israelis who were on the acquiring side, they had defeated the undefeatable, conquered the conquerers ... Accordingly, rather than evading the issue of the general superiority of Americans, members emphasized it, perceiving it as an aggrandizement of their organizational value and achievements&quot;'' (Ailon-Souday/Kunda 2003: 1088).
 
  
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[[File:organthro-109_1.jpg|frame|right|Tabelle: Sozialismus/Kapitalismus-Dichotomie nach Dunn 2004: 64]]
  
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Die Sozialismus/Kapitalismus-Dichotomie wurde nicht nur auf Produkte und KonsumentInnen, sondern '''auch auf die ArbeiterInnen und Angestellten von Alima-Gerber angewandt'''. Die für die Auswahl und Einstellung neuen Personals verantwortliche Managerin bspw. wählte neue VertriebsmitarbeiterInnen danach aus, inwieweit sie den mit Kapitalismus assoziierten Eigenschaften &quot;jung, modern, dynamisch, gescheit, flink&quot; entsprachen.
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Dem gegenüber wurden die ProduktionsmitarbeiterInnen von Alima-Gerber gestellt. Ihnen wurde zugeschrieben, unbeweglich, verständnislos, nicht lernfähig, &quot;proste&quot; (polnisch: einfach, dumm) zu sein. So schien es der Personalmanagerin denn auch unmöglich, – und nicht nur ihr, sondern auch ihren KollegInnen im Verkauf, im Marketing und der Betriebsleitung – ArbeiterInnen aus der Produktion in den Vertrieb zu versetzen; selbst als in der Produktion Leute gekündigt und zur selben Zeit VertriebsmitarbeiterInnen gesucht wurden.
  
=== 5.2.2.1 Ailon-Souday/Kunda (2003): Auszüge aus den Forschungsnotizen ===
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Nicht nur in der '''Auswahl- und Einstellungspraxis''' wurde die ideologische Konstruktion der Sozialismus/Kapitalismus-Dichotomie bedeutsam. Sie schlug sich auch in der Arbeitsplatzbewertung und im darauf aufbauenden '''Entlohnungsschema''' nieder, das Mitte der 1990er Jahre bei Alima-Gerber eingeführt wurde (Dunn 2004; 1999).
  
'''Beispiel 1''' dokumentiert ein '''Gespräch''' zwischen Yossi und Rutti über einen Besuch einiger KollegInnen von Amerotech.
 
  
''Yossi: ’There were all the Jimmys [plural of Jimmy] .. who came here around January or February.’''
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== 5.1.4 Dunn (2004): Ausgewählte Ergebnisse 2: Gegenstimmen aus der Produktionshalle ==
  
''Rutti: ’When was Harold here with Rick?’''
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PersonalmanagerInnen, Marketingfachleute und VertreterInnen waren sich darin einig, dass die ArbeiterInnen in der Produktion von Alima-Gerber &quot;unflexibel&quot;, &quot;dumm&quot; und &quot;nicht lernfähig&quot;, kurzum &quot;einfache, schlichte Leute&quot; seien. Sie assoziierten die ArbeiterInnen mit &quot;Sozialismus&quot; und nutzten sie als Andere (&quot;Others&quot;), um sich selbst als &quot;kapitalistisch, dynamisch, modern, jung, flexibel&quot; zu definieren.
  
''Yossi: ’The Harolds are still with us. They haven’t left yet.’ [Rutti laughs.]''
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Die ProduktionsarbeiterInnen hatten ein anderes Bild von sich und der eigenen Tätigkeit im Betrieb. Sie argumentierten, dass gerade '''die Erfahrungen im Sozialismus sie zu besseren ArbeiterInnen im kapitalistisch geführten Unternehmen mache'''.
  
''Rutti: ’What was the name of the bold one.’''
+
Aus sozialistischer Zeit seien sie es gewohnt, flexibel und vielseitig einsetzbar zu sein. Alima habe damals hunderte verschiedene Produkte hergestellt: Säfte, Ketchup, Marmeladen, Konserven, Tiefkühlgemüse. Die Produktion sei dabei jeweils kurzfristig darauf abgestimmt worden, welches Obst und Gemüse in welcher Qualität und Quantität geliefert worden war. Außerdem mussten fehlende oder mangelhafte Anlagen kompensiert werden. ArbeiterInnen arbeiteten daher mal an diesem, mal an jenem Arbeitsplatz; sie erwarben dabei umfangreiche Fähigkeiten und lernten den Produktionsprozess sehr genau kennen.
  
''Yossi: ’Mike is a good name.’''
+
[[File:organthro-110_1.jpg|frame|right|Foto: Äpfel  (© robinhamman, 2007 Lizenz: CC BY-NC [http://flickr.com Quelle])]]
  
''Rutti: ’No, no ...''
+
Genau darin – in ihren sozialistischen Arbeitserfahrungen – begründeten die ArbeiterInnen ihre '''Flexibilität''' und den besonderen Wert ihrer '''Kompetenz''' für den Produktionsalltag bei Alima-Gerber. Denn Nischenmarketing bedeutet in der Produktion kleine Mengen herzustellen und die Anlagen immer wieder rasch zu reinigen und neu einzurichten. Dazu bedarf es kompetenter und gut aufeinander eingespielter ArbeiterInnen. Dunn beschreibt dies am '''Beispiel[[Profit-Organisationen_-_Ausgewählte_Studien/Dunn#5.1.4.1|[1]]]''' der Division 4 von Alima-Gerber.
  
<blockquote>''Yossi: ’It doesn’t matter, why does it matter?’'' (Auszug aus den Feldnotizen, Ailon- Souday/Kunda 2000: 1081)</blockquote>
+
'''&quot;Oh yes! These are universal people - they can do any job in the factory&quot;''' (eine Vorarbeiterin, zitiert in Dunn 2004: 84, Hervorhebung G.Sch.)
  
'''Beispiel 2''' schildert eine '''Situation''', die sich beim Fest zum ersten Jahrestag der Fusion zutrug.
+
Seit der Privatisierung hatten die ArbeiterInnen der Produktion deutlich an Macht und Einfluss verloren. Wenn sie nun ihre Vielseitigkeit, ihre Erfahrung und ihr Wissen hervorhoben, wollten sie damit ihre Position verbessern. So machten sie zum Einen deutlich, dass ihre Aufgaben kaum von kurzfristig eingestellten LeiharbeiterInnen erfüllt werden könnten – ein Versuch, die Arbeitsplätze abzusichern. Zum Anderen erhoben sie Anspruch darauf, einen Teil des erwirtschafteten Gewinns zu erhalten; sei es, indem der Sozialfonds des Unternehmens aufgestockt würde oder in Form von Lohnerhöhungen bzw. Prämienzahlungen (Dunn 2004; 1999).
  
<blockquote>''A young engineer at the table makes a small parody of the American handshake by fiercely tilting his friend’s hand, saying in English, ’very nice to meet you’ ... I ask a secretary who sits next to me what she is thinking about all this. She grins. With a cynical imitation of an American accent she says, ’Oh ... it is a great opportunity!’'' (Auszug aus den Feldnotizen, Ailon-Souday/Kunda 2000: 1081)</blockquote>
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'''Verweise:'''<br />
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[[Profit-Organisationen_-_Ausgewählte_Studien/Dunn#5.1.4.1|[1] Siehe Kapitel 5.1.4.1]]<br />
  
  
 
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=== 5.2.2.2 Ailon-Souday/Kunda (2003): Auszüge aus den Interviews ===
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=== 5.1.4.1 Zitat aus Dunn (2004): Produktion in der Division 4 ===
  
MitarbeiterInnen von Isrocom fassten israelische Identität als Cluster kollektiver Eigenschaften, wie die folgenden Auszüge aus Interviews veranschaulichen.
+
<blockquote>''&quot;The Division 4 line could produce either baby foods or Frugo. Baby foods for Russia, Saudia Arabia, Israel, and Kuwait as well as Poland came off the line on days when we made baby food. In the course of one shift on a baby food day, we often made four or five different kinds of baby food, each destined for a different market. Even if we made only one flavor of baby food all day, the recipe and the packaging had to be changed between batches, since, as everyone assured me, each nationality has ’different taste’, and Polish babies won’t eat food made for American babies. Often, we had to do more than change recipes for the same thing all day. We had to shut down the line after a small batch of fourty or fifty thousand jars, wash everthing, reset all the machinery, and begin production of a completely new product. Depending on the degree of change, we could have the line down and back up again in under thirty minutes.&quot;'' (Dunn 2004: 83)</blockquote>
  
* ''Most people [here] have 10 to 20 extra work hours a week. Managers have 30 to 40 extra hours a month. There are also people who work 260 hours a month. They work differently ... only 9.00 to 6.00. This is the Americans, this is their work style. In Israel we are crazy when it comes to work ...'' (Ailon-Souday/Kunda 2003: 1084)
 
* ''[Americans] are very submissive to authority. The word of the boss is the word of God. ... Our perception is that what the manager says is important and that is has to be seriously considered, but if he does not seem reasonable or if we think that he is wrong then it is legitimate to come out and say that it isn’t right, or that it doesn’t seem right. ... That is the Israeli character. It doesn’t exist as much in their character.'' (Ailon-Souday/Kunda 2003: 1085)
 
* ''The typical American is more bounded ... here everything is flexible, flexible schedules, contacts, everything. If something isn’t working I will get there and I will take care of it and over there everything is more rigid.'' (Ailon-Souday/Kunda 2003: 1085)
 
* ''We work here like we worked in the army. We have a goal and we have to accomplish it, the quicker the better. ... It is an Israeli characteristic. All of us together for a very clear, marked- off goal. For Americans the process is important, how things will be managed, ordered. The goal is clear but they don’t fight for it. They approach it, but they do not charge toward it.'' (Ailon- Souday/Kunda 2003: 1085)
 
* ''I think we are a little too pushy. We overrun them a little too much ... it doesn’t grant us the love and respect of the Americans ... there are times in meetings in which I simply squirm in my chair, in which I feel uncomfortable. I am Israeli born, a'' tzabar ''[native Israeli], but it still bothers me - our attitude and all that.'' (Ailon-Souday/Kunda 2003: 1087)
 
  
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== 5.1.5 Dunn (2004): Ausgewählte Ergebnisse 3: Arbeitsplatzbewertung und Entlohnungssystem ==
  
== 5.2.3 Ailon-Souday/Kunda (2003): Ausgewählte Schlussfolgerungen ==
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Mitte der 1990er Jahre wurde bei Alima-Gerber – neben vielen anderen Veränderungen – auch ein neues '''Lohn- und Gehaltssystem''' eingeführt. Das Management wollte ein transparentes und objektives System einführen, nach dem die Höhe der Entlohnung festgesetzt wird. Die Zusammensetzung des Projektteams, das bei Alima-Gerber damit beauftragt wurde, und die interne Kommunikationspolitik waren gleichermaßen darauf ausgerichtet, die wissenschaftliche Fundiertheit und Objektivität des Systems zu demonstrieren. Damit sollte u.a. erreicht werden, dass alle Organisationsmitglieder und die GewerkschaftsvertreterInnen das neue Entlohnungssystem akzeptieren. In der internen Unternehmenszeitung argumentierte der Leiter des Personalmanagements im Oktober 1995 so:
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<blockquote>''An employer can’t ignore the situation in the labor markets if he wants to remain attractive to competent specialists and if he wants to maintain a relatively stable workforce and prevent a high rate of turnover among employees. This proves that a change in the structure and proportion of pay has to evolve over time on the basis of principles and differences specified in advance. ... What we can say to those who are crying ’unfair!’ is that this simply has to happen at this stage of the firm’s - and the market’s - growth.'' (Aktualino&quot;7;ci 1995, zitiert in Dunn 2004: 110)</blockquote>
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Mit den &quot;principles and differences specified in advance&quot; sind die '''Arbeitsplatzbewertung''' und der dafür entwickelte Kriterienkatalog gemeint. '''Abbildung 1[[Profit-Organisationen_-_Ausgewählte_Studien/Dunn#5.1.5.1|[1]]]''' zeigt den Kriterienkatalog im Gesamten; '''Abbildung 2[[Profit-Organisationen_-_Ausgewählte_Studien/Dunn#5.1.5.1|[2]]]''' beispielhaft die Detailbeschreibung eines Kriteriums. Jeder Arbeitsplatz von Alima- Gerber wurde anhand von Aufgabenbeschreibungen bewertet, d.h. mit Punkten versehen, und fand sich entsprechend im neuen Entlohnungssystem wieder. Ein zweiter Aspekt des neuen Entlohnungssystems sah leistungsabhängige Bezahlung vor; dazu wurde ein '''Leistungsbeurteilungssystem''' eingeführt.
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Dunn analysiert die Zusammenhänge und Effekte der Einführung dieser Personalmanagement- Systeme bei Alima-Gerber. Auf zwei dieser Aspekte sei hier hingewiesen:
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* Die Arbeitsplatzbewertung spiegelte die Haltung wieder, dass Produktionsarbeit wenig Kompetenz brauche. Eine empirische Analyse hätte jedoch das Ausmaß des '''Praxiswissens''' gezeigt, das ProduktionsarbeiterInnen einbrachten, damit die Produktion reibungslos laufen konnte. Dieses Praxiswissen schlug sich weder in der Arbeitsplatzbewertung, noch in der darauf aufbauenden Entlohnung nieder.
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* Die Systeme waren mit der deklarierten Absicht entwickelt worden, eine objektive Möglichkeit für Gehalts- und Lohnentscheidungen zu haben. Weder sozialistische Ideologie noch persönliche Beziehungen sollten Einfluss auf die Entlohnung haben, sondern ausschließlich Ausbildung, Erfahrung und individuelle Leistung. Dies hatte zur Folge, dass die neuen Systeme '''jene Unterschiede reproduzierten und kodifizierten, die seit der Privatisierung entstanden waren''': die Produktion hatte an Macht, Einfluss und Prestige verloren; Marketing und Vertrieb – zu einem geringeren Teil auch die Labors der Qualitätskontrolle – hatten nun die internen Machtpositionen inne. ''&quot;This system thus effectively codified emergent hierarchies and legitimated the fact that some members of the corporation made salaries comparable to those of managers of the West, drove Toyotas and Fords provided by the company, and lived in houses that the firm paid for, while others made less than two dollars an hour.&quot;'' (Dunn 2004: 112)
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'''Literatur:'''
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<blockquote>Aktualinosci 1995. Employee Newsletter, Alima-Gerber S.A., Oktober 1995
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'''Verweise:'''<br />
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[[Profit-Organisationen_-_Ausgewählte_Studien/Dunn#5.1.5.1|[1] Siehe Kapitel 5.1.5.1]]<br />
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[[Profit-Organisationen_-_Ausgewählte_Studien/Dunn#5.1.5.1|[2] Siehe Kapitel 5.1.5.1]]<br />
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Ailon-Souday und Kunda ziehen aufgrund der Analyse ihrer empirischen Daten mehrere Schlussfolgerungen:
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=== 5.1.5.1 Abbildungen aus Dunn (2004): Faktoren der Arbeitsplatzbewertung und Kriterienbeschreibung ===
  
* In vielen, wenn nicht allen, Fusionen spielen soziale Kämpfe um Abgegrenztheit und Status eine bedeutende Rolle. Isrocom ist diesbezüglich keine Ausnahme. Im Fall einer internationalen Fusion steht mit der nationalen Identität '''ein besonders machtvolles Instrument''' zur symbolischen Produktion von Differenz zur Verfügung.
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[[File:organthro-113_1.jpg|frame|right|Abbildung 1: Faktoren und Subfaktoren der Arbeitsplatzbewertung<br />
* Organisationsmitglieder setzen ihre Konstruktion nationaler Identität ein, um soziale Ziele zu erreichen. Sie schaffen und nutzen '''positive Stereotype'''. Kulturvergleichende Management- und OrganisationsforscherInnen müssten diesen Aspekt mit berücksichtigen: &quot;[...] '''national difference may be socially essentialized''' no less than it is a cognitive essence&quot; (Ailon- Souday/Kunda 2003: 1090; Hervorhebung G.Sch.).
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Abbildung nach Dunn 2004: 106]]
* Diese Einsicht müsse sich auch in der Praxis '''interkulturellen Trainings''' wieder finden, die Theorien und Modelle der kulturvergleichenden Management- und Organisationsforschung verwenden.
 
* Zielorientierung, Zeitdisziplin, persönliche Einsatzbereitschaft, Fleiß und Effizienz – '''kollektive israelische Eigenschaften''' (laut den MitarbeiterInnen von Isrocom) '''und global dominante Ideale''' zugleich. Die Grenze zwischen &quot;uns&quot; (Isrocom, Israelis) und &quot;ihnen&quot; (Amerotech, AmerikanerInnen) basiert stärker auf dem Gemeinsamen als auf dem Trennenden (vgl. Barth 1969). Die stereotypen Charakteristika werden als gegensätzlich verstanden, gerade weil sie aus einer einzigen Bedeutungswelt (&quot;world of meaning&quot;) stammen (Ailon- Souday/Kunda 2003: 1091).
 
* Die Ergebnisse sprechen gegen die These, dass die Globalisierung von Unternehmen die symbolische Kraft nationaler Identität verringern und die Entstehung transnationaler Identitäten fördern würde (vgl. Hannerz 1996). Die MitarbeiterInnen von Isrocom verstanden sich als bessere Organisationsmitglieder gerade wegen – und nicht trotz– ihrer nationalen Identität (Ailon-Souday/Kunda 2003: 1089-1092).
 
  
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[[File:organthro-113_2.jpg|frame|right|Abbildung 2: Beschreibung des Kriteriums &quot;Innovation und Kreativität&quot;<br />
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Abbildung nach Dunn 2004: 106]]
  
'''[[Profit-Organisationen_-_Ausgewählte_Studien/Parker#5.3 Parker 2000 &quot;Organizational Culture and Identity. Unity and Divison at Work&quot;|Nächstes Kapitel: 5.3 Parker (2000) &quot;Organizational Culture and Identity. Unity and Divison at Work&quot;]]'''
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'''[[Profit-Organisationen_-_Ausgewählte_Studien/Ailon-Souday-Kunda#5.2 Ailon-Souday/Kunda 2003 &quot;The Local Selves of Global Workers. The Social Construction of National Identity in the Face of Organizational Globalization&quot;|Nächstes Kapitel: 5.2 Ailon-Souday/Kunda (2003) &quot;The Local Selves of Global Workers. The Social Construction of National Identity in the Face of Organizational Globalization&quot;]]'''
 
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[[#5.2 Ailon-Souday/Kunda 2003 &quot;The Local Selves of Global Workers. The Social Construction of National Identity in the Face of Organizational Globalization&quot;|&uarr; Nach oben]]
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[[#5.1 Elizabeth Dunn 2004 &quot;Privatizing Poland. Baby Food, Big Business, and the Remaking of Labor&quot;|&uarr; Nach oben]]

Revision as of 12:20, 17 December 2019


Vorheriges Kapitel: 5. Profit-Organisationen: Ausgewählte Studien

5.1 Elizabeth Dunn (2004) "Privatizing Poland. Baby Food, Big Business, and the Remaking of Labor"

Verfasst von Gerlinde Schein und Gertraud Seiser

Abbildung: Landkarte Polen Quelle

Was geschieht in einem ehemaligen sozialistischen Staatsbetrieb, der privatisiert und von einem US-Konzern gekauft wurde? Welche neuen, kapitalistischen Managementtechniken werden eingeführt? Wie verändern sich die Machtbeziehungen innerhalb des Betriebs und wie die Vorstellungen von Produktion, Arbeit und Erfolg? Welche Wirkung hat dies auf das Selbstbild der ArbeiterInnen? ...

Diesen und weiteren Fragen geht die US-amerikanische Anthropologin Elizabeth Dunn in "Privatizing Poland. Baby Food, Big Business, and the Remaking of Labor" nach (2004; siehe auch Dunn 1999). Detailreich beschreibt und analysiert sie die Transformation des ehemaligen Staatsbetriebs Alima-Gerber in Rzeszów in ein kapitalistisch geführtes Unternehmen. Dunn porträtiert auf diese Weise anschaulich den gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Wandel im postsozialistischen Polen.

Nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Partei 1989 war es zunächst darum gegangen, politische und wirtschaftliche Wahlmöglichkeiten zu schaffen. Bald jedoch schon wurden Stimmen laut, die eine neue "Mentalität" bzw. einen "kulturellen Wandel" verlangten. Das postsozialistische Subjekt sollte frei wählen, unabhängig und unternehmerisch agieren, risikofreudig und flexibel sein. Einer der Orte, an dem dieses Subjekt geformt werden sollte, war der Arbeitsplatz. Dunn liefert mit ihrer Analyse der Managementpraktiken, die bei Alima-Gerber eingeführt wurden, und den damit verbundenen Auseinandersetzungen und Konflikten im Betrieb daher auch einen Beitrag zur anthropologischen Diskussion um "personhood" (Dunn 2004).

Literatur:

Dunn, Elizabeth C.

1999 Slick salesmen and simple people. Negotiated capitalism in a privatized Polish firm. In: Michael Burawoy and Katherine Verdery (eds.), Uncertain Transition: Ethnographics of Change in the Postsocialist World. Rowman & Littlefield
2004 Privatizing Poland. Baby Food, Big Business, and the Remaking of Labor. Ithaca; London: Cornell University Press

Website: Elizabeth Dunn[1]

Verweise:
[1] http://www.elizabethcullendunn.com/


Inhalt


5.1.1 Dunn (2004): Das Forschungsfeld: Alima-Gerber in Rzeszów, Polen

Abbildung: Werbeplakat Quelle

Die Nahrungsmittelfabrik Alima in Rzeszów war vor dem zweiten Weltkrieg gegründet worden und stellt Kindernahrung, Säfte, Marmeladen, Kompotte, Ketchup, Konserven und Tiefkühlgemüse her. 1992 war sie eine der ersten Staatsbetriebe Polens, die an westliche Konzerne verkauft wurden. Aus Sicht der polnischen Regierung sollten die Privatisierungen Finanzmittel und westliches Know How in die ehemaligen Staatsbetriebe bringen. Denn der neoliberale post- sozialistische Plan sah vor, Produktion und Distribution neu zu ordnen und global wettbewerbsfähige Unternehmen entstehen zu lassen.

Mehrere westliche Konzerne interessierten sich für den Kauf von Alima. Den Zuschlag erhielt die im US-amerikanischen Fremont in Michigan angesiedelte Gerber Products Company. Ziel der Gerber Products Company war es, vom Produktionsstandort Rzeszów aus den Markt in Frankreich, Tschechien und Ungarn zu erschließen.

Um dies zu erreichen, führte das Management des privatisierten Unternehmens, nun Alima-Gerber genannt, neue Funktionen (z.B. Marketing, Vertrieb, Personalmanagement) und ein aufwändiges System zur Qualitätskontrolle ein. Die verantwortlichen ManagerInnen schränkten die Produktpalette ein und nutzten das bis dahin in Polen kaum bekannte Nischenmarketing, um neue Produkte für neue Zielgruppen auf den Markt zu bringen. Im Bereich des Personalmanagements wurde ein System zur Arbeitsplatzbewertung und zur Leistungsbeurteilung entwickelt und an das Entlohnungs- und Prämiensystem gekoppelt. Ganze Unternehmensbereiche (z.B. Wäscherei, Wachdienst) wurden ausgelagert. Alima-Gerber reduzierte die Belegschaft um rund ein Drittel auf etwa 1000 MitarbeiterInnen. Im Vertriebsbereich wurde neues Personal aufgenommen. Zum Ausgleich saisonaler Produktionsspitzen zog das Unternehmen LeiharbeiterInnen heran. Kurz gesagt: Die Unternehmensführung von Alima-Gerber setzte auf westliche, post-fordistische Managementpraktiken, um den Betrieb auf kapitalistische Profitorientierung hin auszurichten (Dunn 2004).

5.1.2 Dunn (2004): Methodisches Vorgehen: "Fieldwork Is Work"

Elizabeth Dunn verbrachte zwischen 1995 und 1997 sechzehn Monate in Rzeszów. Im Sinne teilnehmender Beobachtung arbeitete Dunn in dieser Zeit in der Produktion von Alima-Gerber. Sie bediente und überwachte Maschinen und Anlagen, verpackte Flaschen, putzte Böden, führte Tests zur Qualitätskontrolle durch, usw. "It was often mind-numbing and always exhausting work, but it allowed me to understand the production process and to observe conflicts, negotiations, and employee discipline on the shop floor." (Dunn 2004: 24)

Die Unternehmensbereiche Marketing und Vertrieb lernte Dunn näher kennen, indem sie VertreterInnen auf ihren Dienstreisen begleitete und an Ausbildungsseminaren für den Vertrieb teilnahm.

Im Bereich Human Resource Management arbeitete sie an einem Projekt mit, das Arbeitsplatzbewertungen und ein System zur Leistungsbeurteilung von MitarbeiterInnen entwickelte.

Formale Interviews führte Dunn ausschließlich mit dem oberen Management von Alima-Gerber, mit JournalistInnen und mit BeamtInnen relevanter Ministerien.

Zur teilnehmenden Beobachtung im Betrieb und den Interviews kam die Forschung außerhalb des Unternehmens. Dunn wurde von ArbeitskollegInnen zum Abendessen eingeladen, schloss Freundschaften auch mit deren FreundInnen und erweiterte so das Feld, in dem sie sich bewegte. Diese Forschungsstunden beschreibt Dunn so:

Because most of the shop floor workers were women, our conversations went on around children demanding to be heard, husbands demanding dinner, and pots on the stove demanding attention. Much of my research time was spent giving piggybacks, playing Barbie, peeling potatoes, and making dumplings. No matter what was going on, the television was always blaring away. The quiet conversations over cups of coffee that I had envisioned rarely took place. Instead, I built rapport with my informants and understood their daily activities by participating in their tasks. Fieldwork was work. (Dunn 2004: 25)


5.1.3 Dunn (2004): Ausgewählte Ergebnisse 1: Dichotomisierung von Produkten und Menschen

"’Frugo!’ intoned a disembodied voice speaking Polish. Then, set against a dynamic background of color and noise, a young kid dressed like a Los Angeles gang member appeared, wearing fashionably baggy clothes and spray painting graffiti. In the background, a voice whispered the Frugo slogan, ’Frugo without boundaries’ (Frugo bez ograniczeri). Suddenly there was a rupture: the commercial became quiet, and the scene jump-cut to a monotonous, drab setting." (Dunn 2004: 58f)

So beschreibt Elizabeth Dunn den Beginn der TV-Werbung für ein neues Produkt, das Alima-Gerber Mitte der 1990er Jahre auf den Markt brachte. Zum ersten Mal setzte Alima-Gerber dabei Nischenmarketing ein; eine bis dahin in Polen unbekannte Marketingmethode. In den Worten des Marketingchefs von Alima-Gerber: "A product for everybody is a product for nobody. Nobody identifies with it." (Dunn 2004: 58) Nischenmarketing hingegen bedeutet, für spezifische Zielgruppen spezifische Produkte zu entwickeln und zu vermarkten.

Das neue Produkt Frugo richtete sich an die Zielgruppe der 13 bis 18-Jährigen und wurde in vier Geschmacksrichtungen produziert. Für jede der vier Frugo-Sorten gab es eine eigene Fernsehwerbung. Jeder Spot begann mit der oben zitierten Szene und zeigte dann eine/n dicke/n, unbewegliche/n Erwachsene/n.

"In the commercial for red Frugo, for example, the hated adult was a fat woman in black cloths and a beret, sitting against a red background. She said, aggressively, ’Fruit? They want fruit? When I was young, we often lacked beets! And they are asking for fruit!’ In the orange ad, a dumpy older woman with dyed orange hair and long orange fingernails sat at a table decorated with fussy lace doilies. She said, tremulously, ’Fruit? Fruit is good for decorating tables. But of course, plastic fruit can be decorative, too’." (Dunn 2004: 59)

Die Pointe verstanden?

Das polnische Publikum bog sich vor Lachen, berichtet Dunn. Es war vertraut mit der Dichotomie, die in der Frugo-Werbung benutzt wurde, um das Produkt und seine KonsumentInnen von allem Sozialistischen abzugrenzen und als kapitalistisch zu definieren. Die Tabelle zeigt die Dichotomie und die Assoziationen, die zu der Zeit – Mitte der 1990er Jahre – mit Sozialismus bzw. Kapitalismus verknüpft wurden.

Tabelle: Sozialismus/Kapitalismus-Dichotomie nach Dunn 2004: 64

Die Sozialismus/Kapitalismus-Dichotomie wurde nicht nur auf Produkte und KonsumentInnen, sondern auch auf die ArbeiterInnen und Angestellten von Alima-Gerber angewandt. Die für die Auswahl und Einstellung neuen Personals verantwortliche Managerin bspw. wählte neue VertriebsmitarbeiterInnen danach aus, inwieweit sie den mit Kapitalismus assoziierten Eigenschaften "jung, modern, dynamisch, gescheit, flink" entsprachen.

Dem gegenüber wurden die ProduktionsmitarbeiterInnen von Alima-Gerber gestellt. Ihnen wurde zugeschrieben, unbeweglich, verständnislos, nicht lernfähig, "proste" (polnisch: einfach, dumm) zu sein. So schien es der Personalmanagerin denn auch unmöglich, – und nicht nur ihr, sondern auch ihren KollegInnen im Verkauf, im Marketing und der Betriebsleitung – ArbeiterInnen aus der Produktion in den Vertrieb zu versetzen; selbst als in der Produktion Leute gekündigt und zur selben Zeit VertriebsmitarbeiterInnen gesucht wurden.

Nicht nur in der Auswahl- und Einstellungspraxis wurde die ideologische Konstruktion der Sozialismus/Kapitalismus-Dichotomie bedeutsam. Sie schlug sich auch in der Arbeitsplatzbewertung und im darauf aufbauenden Entlohnungsschema nieder, das Mitte der 1990er Jahre bei Alima-Gerber eingeführt wurde (Dunn 2004; 1999).


5.1.4 Dunn (2004): Ausgewählte Ergebnisse 2: Gegenstimmen aus der Produktionshalle

PersonalmanagerInnen, Marketingfachleute und VertreterInnen waren sich darin einig, dass die ArbeiterInnen in der Produktion von Alima-Gerber "unflexibel", "dumm" und "nicht lernfähig", kurzum "einfache, schlichte Leute" seien. Sie assoziierten die ArbeiterInnen mit "Sozialismus" und nutzten sie als Andere ("Others"), um sich selbst als "kapitalistisch, dynamisch, modern, jung, flexibel" zu definieren.

Die ProduktionsarbeiterInnen hatten ein anderes Bild von sich und der eigenen Tätigkeit im Betrieb. Sie argumentierten, dass gerade die Erfahrungen im Sozialismus sie zu besseren ArbeiterInnen im kapitalistisch geführten Unternehmen mache.

Aus sozialistischer Zeit seien sie es gewohnt, flexibel und vielseitig einsetzbar zu sein. Alima habe damals hunderte verschiedene Produkte hergestellt: Säfte, Ketchup, Marmeladen, Konserven, Tiefkühlgemüse. Die Produktion sei dabei jeweils kurzfristig darauf abgestimmt worden, welches Obst und Gemüse in welcher Qualität und Quantität geliefert worden war. Außerdem mussten fehlende oder mangelhafte Anlagen kompensiert werden. ArbeiterInnen arbeiteten daher mal an diesem, mal an jenem Arbeitsplatz; sie erwarben dabei umfangreiche Fähigkeiten und lernten den Produktionsprozess sehr genau kennen.

Foto: Äpfel (© robinhamman, 2007 Lizenz: CC BY-NC Quelle)

Genau darin – in ihren sozialistischen Arbeitserfahrungen – begründeten die ArbeiterInnen ihre Flexibilität und den besonderen Wert ihrer Kompetenz für den Produktionsalltag bei Alima-Gerber. Denn Nischenmarketing bedeutet in der Produktion kleine Mengen herzustellen und die Anlagen immer wieder rasch zu reinigen und neu einzurichten. Dazu bedarf es kompetenter und gut aufeinander eingespielter ArbeiterInnen. Dunn beschreibt dies am Beispiel[1] der Division 4 von Alima-Gerber.

"Oh yes! These are universal people - they can do any job in the factory" (eine Vorarbeiterin, zitiert in Dunn 2004: 84, Hervorhebung G.Sch.)

Seit der Privatisierung hatten die ArbeiterInnen der Produktion deutlich an Macht und Einfluss verloren. Wenn sie nun ihre Vielseitigkeit, ihre Erfahrung und ihr Wissen hervorhoben, wollten sie damit ihre Position verbessern. So machten sie zum Einen deutlich, dass ihre Aufgaben kaum von kurzfristig eingestellten LeiharbeiterInnen erfüllt werden könnten – ein Versuch, die Arbeitsplätze abzusichern. Zum Anderen erhoben sie Anspruch darauf, einen Teil des erwirtschafteten Gewinns zu erhalten; sei es, indem der Sozialfonds des Unternehmens aufgestockt würde oder in Form von Lohnerhöhungen bzw. Prämienzahlungen (Dunn 2004; 1999).

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.1.4.1



5.1.4.1 Zitat aus Dunn (2004): Produktion in der Division 4

"The Division 4 line could produce either baby foods or Frugo. Baby foods for Russia, Saudia Arabia, Israel, and Kuwait as well as Poland came off the line on days when we made baby food. In the course of one shift on a baby food day, we often made four or five different kinds of baby food, each destined for a different market. Even if we made only one flavor of baby food all day, the recipe and the packaging had to be changed between batches, since, as everyone assured me, each nationality has ’different taste’, and Polish babies won’t eat food made for American babies. Often, we had to do more than change recipes for the same thing all day. We had to shut down the line after a small batch of fourty or fifty thousand jars, wash everthing, reset all the machinery, and begin production of a completely new product. Depending on the degree of change, we could have the line down and back up again in under thirty minutes." (Dunn 2004: 83)


5.1.5 Dunn (2004): Ausgewählte Ergebnisse 3: Arbeitsplatzbewertung und Entlohnungssystem

Mitte der 1990er Jahre wurde bei Alima-Gerber – neben vielen anderen Veränderungen – auch ein neues Lohn- und Gehaltssystem eingeführt. Das Management wollte ein transparentes und objektives System einführen, nach dem die Höhe der Entlohnung festgesetzt wird. Die Zusammensetzung des Projektteams, das bei Alima-Gerber damit beauftragt wurde, und die interne Kommunikationspolitik waren gleichermaßen darauf ausgerichtet, die wissenschaftliche Fundiertheit und Objektivität des Systems zu demonstrieren. Damit sollte u.a. erreicht werden, dass alle Organisationsmitglieder und die GewerkschaftsvertreterInnen das neue Entlohnungssystem akzeptieren. In der internen Unternehmenszeitung argumentierte der Leiter des Personalmanagements im Oktober 1995 so:

An employer can’t ignore the situation in the labor markets if he wants to remain attractive to competent specialists and if he wants to maintain a relatively stable workforce and prevent a high rate of turnover among employees. This proves that a change in the structure and proportion of pay has to evolve over time on the basis of principles and differences specified in advance. ... What we can say to those who are crying ’unfair!’ is that this simply has to happen at this stage of the firm’s - and the market’s - growth. (Aktualino"7;ci 1995, zitiert in Dunn 2004: 110)

Mit den "principles and differences specified in advance" sind die Arbeitsplatzbewertung und der dafür entwickelte Kriterienkatalog gemeint. Abbildung 1[1] zeigt den Kriterienkatalog im Gesamten; Abbildung 2[2] beispielhaft die Detailbeschreibung eines Kriteriums. Jeder Arbeitsplatz von Alima- Gerber wurde anhand von Aufgabenbeschreibungen bewertet, d.h. mit Punkten versehen, und fand sich entsprechend im neuen Entlohnungssystem wieder. Ein zweiter Aspekt des neuen Entlohnungssystems sah leistungsabhängige Bezahlung vor; dazu wurde ein Leistungsbeurteilungssystem eingeführt.

Dunn analysiert die Zusammenhänge und Effekte der Einführung dieser Personalmanagement- Systeme bei Alima-Gerber. Auf zwei dieser Aspekte sei hier hingewiesen:

  • Die Arbeitsplatzbewertung spiegelte die Haltung wieder, dass Produktionsarbeit wenig Kompetenz brauche. Eine empirische Analyse hätte jedoch das Ausmaß des Praxiswissens gezeigt, das ProduktionsarbeiterInnen einbrachten, damit die Produktion reibungslos laufen konnte. Dieses Praxiswissen schlug sich weder in der Arbeitsplatzbewertung, noch in der darauf aufbauenden Entlohnung nieder.
  • Die Systeme waren mit der deklarierten Absicht entwickelt worden, eine objektive Möglichkeit für Gehalts- und Lohnentscheidungen zu haben. Weder sozialistische Ideologie noch persönliche Beziehungen sollten Einfluss auf die Entlohnung haben, sondern ausschließlich Ausbildung, Erfahrung und individuelle Leistung. Dies hatte zur Folge, dass die neuen Systeme jene Unterschiede reproduzierten und kodifizierten, die seit der Privatisierung entstanden waren: die Produktion hatte an Macht, Einfluss und Prestige verloren; Marketing und Vertrieb – zu einem geringeren Teil auch die Labors der Qualitätskontrolle – hatten nun die internen Machtpositionen inne. "This system thus effectively codified emergent hierarchies and legitimated the fact that some members of the corporation made salaries comparable to those of managers of the West, drove Toyotas and Fords provided by the company, and lived in houses that the firm paid for, while others made less than two dollars an hour." (Dunn 2004: 112)

Literatur:

Aktualinosci 1995. Employee Newsletter, Alima-Gerber S.A., Oktober 1995

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.1.5.1
[2] Siehe Kapitel 5.1.5.1



5.1.5.1 Abbildungen aus Dunn (2004): Faktoren der Arbeitsplatzbewertung und Kriterienbeschreibung

Abbildung 1: Faktoren und Subfaktoren der Arbeitsplatzbewertung
Abbildung nach Dunn 2004: 106
Abbildung 2: Beschreibung des Kriteriums "Innovation und Kreativität"
Abbildung nach Dunn 2004: 106

Nächstes Kapitel: 5.2 Ailon-Souday/Kunda (2003) "The Local Selves of Global Workers. The Social Construction of National Identity in the Face of Organizational Globalization"


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