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Eine weitere Herausforderung für eine aktuelle Ethnographie ergibt sich aus den '''Prozessen der Globalisierung''' und den daraus folgenden Konsequenzen für das Verständnis von Kultur. In den 90er Jahren wurde die '''räumliche Verortung von Kultur kritisiert''', hinterfragt und neu konzeptioniert (z.B. Gupta und Ferguson 1997). Die Vorstellung von Kulturen als abgrenzbare, homogene Ganzheiten, die mit bestimmten Orten oder Regionen in einem ursächlichen Zusammenhang stehen, wurde verworfen und machte einem '''dynamischen nicht- essentialistischen Kulturverständnis''' Platz, welches versucht lokale Subjekte und Gesellschaften in ihren '''vielfältigen Beziehungen mit dem Weltsystem''' in Verbindung zu bringen und in seine Strukturen einzubetten. Dies führte auch zu einer Neudefinition des ethnographischen Feldes und der Feldforschung jenseits einer lokal verankerten Örtlichkeit. Das Feld ist somit nichts mehr Gegebenes, Einheitliches und an einem Ort Lokalisierbares, sondern muss im Zuge der Feldforschung erst '''konstruiert und konstituiert werden''' (Amit 2000). | Eine weitere Herausforderung für eine aktuelle Ethnographie ergibt sich aus den '''Prozessen der Globalisierung''' und den daraus folgenden Konsequenzen für das Verständnis von Kultur. In den 90er Jahren wurde die '''räumliche Verortung von Kultur kritisiert''', hinterfragt und neu konzeptioniert (z.B. Gupta und Ferguson 1997). Die Vorstellung von Kulturen als abgrenzbare, homogene Ganzheiten, die mit bestimmten Orten oder Regionen in einem ursächlichen Zusammenhang stehen, wurde verworfen und machte einem '''dynamischen nicht- essentialistischen Kulturverständnis''' Platz, welches versucht lokale Subjekte und Gesellschaften in ihren '''vielfältigen Beziehungen mit dem Weltsystem''' in Verbindung zu bringen und in seine Strukturen einzubetten. Dies führte auch zu einer Neudefinition des ethnographischen Feldes und der Feldforschung jenseits einer lokal verankerten Örtlichkeit. Das Feld ist somit nichts mehr Gegebenes, Einheitliches und an einem Ort Lokalisierbares, sondern muss im Zuge der Feldforschung erst '''konstruiert und konstituiert werden''' (Amit 2000). |
Latest revision as of 14:25, 24 September 2020
Vorheriges Kapitel: 5.4 Postmoderne Kritik, literal turn und die Krise der Repräsentation
5.5 Globale Welt und multi-sited Ethnography
Verfasst von Ernst Halbmayer
Eine weitere Herausforderung für eine aktuelle Ethnographie ergibt sich aus den Prozessen der Globalisierung und den daraus folgenden Konsequenzen für das Verständnis von Kultur. In den 90er Jahren wurde die räumliche Verortung von Kultur kritisiert, hinterfragt und neu konzeptioniert (z.B. Gupta und Ferguson 1997). Die Vorstellung von Kulturen als abgrenzbare, homogene Ganzheiten, die mit bestimmten Orten oder Regionen in einem ursächlichen Zusammenhang stehen, wurde verworfen und machte einem dynamischen nicht- essentialistischen Kulturverständnis Platz, welches versucht lokale Subjekte und Gesellschaften in ihren vielfältigen Beziehungen mit dem Weltsystem in Verbindung zu bringen und in seine Strukturen einzubetten. Dies führte auch zu einer Neudefinition des ethnographischen Feldes und der Feldforschung jenseits einer lokal verankerten Örtlichkeit. Das Feld ist somit nichts mehr Gegebenes, Einheitliches und an einem Ort Lokalisierbares, sondern muss im Zuge der Feldforschung erst konstruiert und konstituiert werden (Amit 2000).
Ein Vorschlag der Konstitution eines solchen multiplen Feldes stammt von George Marcus und wurde unter dem Begriff der multi-sited ethnography bekannt. Ziel der multi-sited ethnography ist es, transnational und global agierende Lebenswelten ethnographisch erforschen zu können und sie geht von der Annahme aus, dass „any ethnography of a cultural formation in the world system is also an ethnography of the system, and therefore cannot be understood only in terms of the conventional single site mise-en-scène of ethnographic research ..." (Marcus 1995:83). Das Objekt der Untersuchung ist unter diesen Bedingungen mobil und mehrfach verortet. Ziel des Verfahrens ist es, diese vielfachen Verortungen, die oft als getrennte Welten wahrgenommen werden, miteinander in Beziehung zu setzten. Das Objekt der Untersuchung wird also an unterschiedlichen Örtlichkeiten erforscht, was dazu führt, dass diesem Verfahren eine vergleichende Dimension inhärent ist, ohne jedoch im Vorfeld von abgeschlossenen oder homogenen Einheiten auszugehen.
George Marcus schlägt sechs Strategien vor, die zu einer Verknüpfung von Feldern im Sinne einer multi-sited ethnography führen. Dazu gehören die Aufforderungen
- Follow the people: Damit ist die Ausrichtung der ethnographischen Recherche entlang der Entwicklungen und Bewegungen von bestimmten Personen und Gruppe gemeint, z. B. im Zuge von Migrationsprozessen.
- Follow the Thing: Hier ist das Nachspüren von Zirkulationsprozessen von Dingen wie beispielsweise Waren, Geschenken, Geldflüssen oder Kunst gemeint, welche ein multipel verortetes Feld konstituieren. Als klassisches Beispiel kann hier etwa Sidney Mintz kulturhistorische Analyse des Zuckers (1985) genannt werden.
- Follow the Metapher: Wenn sich das Objekt der Untersuchung innerhalb von Diskursen und Arten und Weisen zu denken manifestiert, dann spielt die Zirkulation von Zeichen, Symbolen und Metaphern eine zentrale Rolle und kann die Konstitution eines multiplen Feldes anleiten. Marcus nennt in diesem Zusammenhang etwa Martins Untersuchung "Flexible Bodies" (1994), welche darauf abstellt, die Arten und Weisen, wie über das menschliche Immunsystem an verschiedenen Orten innerhalb der amerikanischen Gesellschaft gedacht wird ethnographisch abzubilden. Dabei verknüpft sie Darstellungen in den Massenmedien, auf der Straße im Zusammenhang mit der Behandlung von Aids im Bereich alternativer Therapietechniken und unter WissenschaftlerInnen.
- Follow the Plot, Story, or Allegory: Hier werden Geschichten oder Erzählung, die an einem Feldforschungsort in Erfahrung gebracht werden, als Ausgangspunkt genommen, um ein multipel situiertes, ethnographisches Forschungsprojekt zu entwickeln. Marcus schreibt: "Reading for the plot and then testing this against the reality of ethnographic investigation that constructs its sites according to a compelling narrative is an interesting, virtually untried mode of constructing multi-sited research." (1998 [1995]: 93)
- Follow the Life or Biography: Hier wird die Lebensgeschichte einer Person dazu verwendet, unterschiedliche Örtlichkeiten und ethnographische Felder miteinander in Beziehung zu setzten und die Lebensgeschichte entlang und durch diese verschiedenen Felder verfolgt.
- Follow the Conflict: Eine weitere Form, Felder miteinander zu verknüpfen, besteht darin, den unterschiedlichen Parteien in Konflikten zu folgen, wie es auch innerhalb der Extended-Case Method [1] bereits gemacht wurde. (vgl.: Marcus 1995: 90ff)
Der Vorteil der multi-sited ethnography besteht also in der systematischen Verknüpfung unterschiedlicher und geographisch und sozial oft sehr weit entfernter Felder. Die Schwierigkeit dieser Strategie ergibt sich daraus, dass die einzelnen Felder bei einer insgesamt gleich bleibenden Feldforschungsdauer nur vergleichsweise kurz und oberflächlich untersucht werden können. Dadurch besteht die Gefahr, dass eine zentrale Stärke der ethnographischen Feldforschung verloren geht und dies führte auch zur Kritik an den resultierenden "traveling anthropologists".
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.1
Nächstes Kapitel: 5.6 Transnationale Forschungen