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Vorheriges Kapitel: 1.2 Physiokratie
Contents
1.3 Klassische ökonomische Theorie
Verfasst von Gertraud Seiser und Elke Mader
Die "klassische" und ab 1870 die "neoklassische" ökonomische Theorie prägen bis heute die Grundannahmen der Volkswirtschaftlehre (Makroökonomik) und der Betriebswirtschaftslehre (Mikroökonomik).
Als Begründer der Klassischen Nationalökonomie gelten neben anderen Adam Smith und David Ricardo. Ihre Werke waren für die damalige Zeit ausgesprochen visionär. Sie sind sowohl für Neoklassiker als auch für die Marxisten, die ganz entgegen gesetzten Theorien entwickelt haben, von grundlegender Bedeutung. Für die Ökonomische Anthropologie sind sie wichtig, um die Konzepte der Formalisten und Marxisten sowie deren Auseinandersetzungen zu verstehen.
Inhalt
1.3.1 Historischer Kontext
Zeit zwischen 1770 und 1830:
Die Phase der 'enclosures', der Einfriedungen ist in England nach etwa drei Jahrhunderten Auseinandersetzung zwischen Lords/Grundherrn und Bauern abgeschlossen. Das Gemeindeland, das zuvor gewohnheitsrechtlich allen zur Nutzung zur Verfügung stand, wurde zum Privateigentum weniger. Die Mehrheit der Landbevölkerung wurde dadurch ihrer Ackerflächen, ihrer Produktionsmittel, beraubt: "Die Einfriedungen sind zutreffend als eine Revolution der Reichen gegen die Armen bezeichnet worden" urteilt der Wirtschaftshistoriker Karl Polanyi (1979: 61).
- Vorabend der französischen Revolution und 1789 franz. Revolution, anbrechende Freiheitsbestrebungen; Bürgertum beginnt sich gegen den Adel zu formieren.
- Zeitalter der Aufklärung und bahnbrechender Erfindungen;
- Beginn der Industrialisierung in England wird von Eric Wolf auf etwa 1780 datiert (erste maschinelle Spinnereien und Webereien mit Dampfantrieb).
- Agrarquote in Europa um 1800 durchschnittlich noch bei 80 %; beginnende Agrarrevolution: z.B. Josef II führt in Österreich die 4-Felderwirtschaft und den Kleeanbau ein: Vervielfachung des Bodenertrags.
- Institut der Leibeigenschaft ist durchwegs in Kraft: In den meisten europäischen Ländern darf die Landbevölkerung die Grenzen ihrer Gemeinden nur mit Zustimmung der Grundherrschaft verlassen.
- Bevölkerungswachstum beginnt rapide zu steigen; die Kartoffel wird aus Amerika importiert und beginnt ihre Verwandlung von einer Schnittblume in Klostergärten zu einer effizienten Nahrungsquelle; 1780 existiert noch keine Arbeiterklasse im Sinne einer größeren Gruppe von Menschen, die ihre Arbeitskraft gegen einen Geldlohn verkauft; die Landarmut ist in manchen Gebieten extrem.
- Captain Cook umsegelt die Welt und wird 1779 auf Hawaii ermordet.
- Um 1817 ist die englische Arbeiterklasse bereits in aller Munde, aus kleinen Städtchen wurden riesige Industrieslums, der Kampf um den 13 Stundentag beginnt, erste Streiks lösen die alte Maschinenstürmerei in England ab.
- 1835: frühe Eisenbahnzeit: Man war davon überzeugt, dass das Maximum an Geschwindigkeit, das ein Transportmittel wie die Eisenbahn über längere Strecken im Durchschnitt je erreichen wird können, bei 30 km/h liegt.
Die Industrialisierung wird daher auch als ungeheurer Prozess der Beschleunigung beschrieben.
1.3.2 Adam Smith
Adam Smith (1723 -- 1790)
Moralphilosoph aus Glasgow
Hauptwerk: An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations (1776)
Ausgangspunkt für Smith waren die Merkantilisten und Physiokraten. Von den drei Produktionsfaktoren -- Arbeit, Grund und Boden, Kapital -- ist die Arbeit für Smith die wesentlichste Quelle des Volkswohlstandes (Ausbau des Arbeitsbegriffes durch Marx). Er sieht auch die Wichtigkeit der Kapitalbildung und die Vorteile der Arbeitsteilung.
Verweise:
[1] https://web.archive.org/web/20050303124515/http://www.econ.duke.edu/Economists/Gifs/Smith.gif
1.3.2.1 Wert bei Adam Smith
Smith präsentiert zwei Werttheorien, die er nicht zueinander in Bezug setzt:
a) Arbeit als Quelle allen Reichtums: Der "natürliche" oder "reale" Wert eines Guts resultiert aus der zur Produktion erforderlichen Arbeit. Er ist "etwas dem Materiellen durch Bearbeitung Hinzugefügtes" (Priddat 2002:71). Dieser Ansatz wird "Arbeitswertlehre" oder "objektive Werttheorie" genannt. Nach Smith ist die Arbeit vor allem in so genannten "primitive" societies der Maßstab für Wert.
b) In zivilisierten Gesellschaften wird der Preis über den Austausch bestimmt, dh über das freie Spiel der Kräfte zwischen Angebot und Nachfrage. Diese "Preistheorie des Werts" oder "subjektive Wertlehre" geht von der Wertentstehung durch die subjektive Nützlichkeit aus, die ein Gut für ein Individuum hat.
Seine berühmteste Ausformulierung finden diese zwei Werttheorien im so genannten "Wasser-Diamanten-Paradoxon":
"The word value, it is to be observed, has two different meanings, and sometimes expresses the utility of some particular object, and sometimes the power of purchasing other goods which the possession of that object conveys. The one may be called 'value in use'; the other 'value in exchange'". The things which have the greatest value in use have frequently little or no value in exchange; and, on the contrary, those which have the greatest value in exchange have frequently little or no value in use. Nothing is more useful than water: but it will purchase scarce anything; scarce anything can be had in exchange for it. A diamond , on the contrary, has scarce any value in use; but a very great quantity of other goods may frequently be had in exchange for it."(Smith 1776: 28)
In ökonomischen Standardlehrbüchern wird häufig darauf hingewiesen, dass Adam Smith diese zwei Werttheorien noch nicht zueinander in Bezug setzen konnte, dass erst die neoklassische Grenznutzentheorie Smith's berühmtes Wasser-Diamanten-Paradoxon gelöst hätte. Dem wird in letzterer Zeit zunehmend widersprochen: Adam Smith war Professor für Moralphilosophie, Ökonomie war für ihn ein Teilgebiet der Ethik. Er interessierte sich daher für den "gerechten Preis" eines Guts (Graeber 2005: 440ff), den "gerechten Lohn" und das Verhältnis zwischen Arm und Reich (Priddat 2002: 39ff), wobei es ihm um die Hebung des Wohlstands der Armen ging.
Adam Smith ist für mehrere Theorierichtungen von grundlegender Bedeutung. An seine Theorie der individuellen Entscheidung (subjektive Werttheorie) hat ab den 1870er Jahren die Neoklassik angeschlossen. Auf die Arbeitswertlehre und die Bedeutung der ökonomischen Klassen im Sinne einer Kapital -- Arbeit -- Differenz hat Karl Marx aufgebaut.
1.3.2.2 Smith's moralische Ableitung des Marktprinzips
Wirtschaftender Akteur: Homo oeconomicus
Ein rationales Individuum wird angenommen, das ständig kalkuliert um seinen maximalen Nutzen zu finden. Seine Hauptmotivation ist der Eigennutzen, dieser ist der zentrale Antrieb des wirtschaftlichen Prozesses. Das Interagieren dieser Individuen findet am Markt statt. Die nach Eigennutz strebenden Individuen wollen mit minimalem Aufwand maximale Bedürfnisbefriedigung erreichen. Eigennutz ist die Triebfeder für den freien Wettbewerb.
Rationalitätsprinzip (Wirtschaftlichkeitsprinzip)
Kommt aus dem Denken der Aufklärung. Es geht um die Zuteilung knapper Mittel zum optimalen Erreichen gesetzter Zwecke. Nach der Auffassung der Klassiker steht der Natur des Menschen die Natur der Dinge gegenüber.
- Natur des Menschen ist bestimmt durch ständige Bedürfnisexpandierung. Auslöser ist der Sexualtrieb und die Tendenz zur Vermehrung bei Verbesserung der Lebensverhältnisse.
- Natur der Dinge: Ist die Gegenkraft zur Natur des Menschen; Die natürlichen Ressourcen sind begrenzt, "Geiz der Natur", Knappheit der Mittel und Dinge.
Der Gegensatz zwischen der Natur der Menschen und jener der Dinge bedingt den freien Wettbewerb, der aber nicht anarchisch verlaufen soll, sondern durch Institutionen und Moral (Staat und Kirche als Schiedsrichter) geregelt werden muss.
Aus diesem Gegensatz ergibt sich auch das "Gesetz" von Angebot und Nachfrage, das wie eine unsichtbare Hand wirkt und über den Preismechanismus das Marktgeschehen und auch die Produktion bestimmt. Überangebot: Preise sinken, Produktion wird verlagert oder aufgegeben. Der Nachfrage steht kein entsprechendes Angebot mehr gegenüber, Preise steigen, neue Produzenten steigen ein: Kreislauf beginnt von vorne.
Markt: Eine sich selbst regulierende Institution, die den Individuen und der Gemeinschaft nur zum Guten dient. Aus dem Ausbalancieren zwischen Angebot und Nachfrage ergibt sich der perfekte Preis. Und so wird aus dem Eigennutzen des Einzelnen das maximale Wohl aller.
Nach Priddat (2002: 50) ist Adam Smith's Wealth of Nations "eine Theorie der moralischen Effizienz".
1.3.3 David Ricardo
David Ricardo (1772 -- 1817)
Londoner Bankier und Parlamentarier
Hauptwerk: On the Principles of Political Economy and Taxation (1817)
David Ricardo formalisierte die Ideen und Gedanken von Adam Smith und entwickelte sie zu einem geschlossenen Gesamtsystem.
Zudem betont Ricardo die Notwendigkeit und die Vorteile von Investitionen für die Kapitalisten. Außerdem weist er darauf hin, dass Lohnsteigerungen auch für Kapitalisten interessant sind, weil diese zu einer Erhöhung der Nachfrage und in der Folge zu einer Erhöhung des Absatzes führen. Dies ergibt wiederum eine Möglichkeit zur Steigerung des Gewinns.
- Theorie der komparativen Kosten im Außenhandel: Zwei Länder können beide aus dem Austausch von Gütern Vorteile ziehen. Ricardos Beispiel: englisches Tuch gegen portugiesischen Wein: jedes Land hat gegenüber dem anderen relative Produktionskostenvorteile, bedingt durch Klima und vorhandene Infrastruktur, Arbeitskräfte etc. Es kommt in diesem Fall nicht auf die absoluten, sondern auf die komparativen Kostenvorteile an.
Verweise:
1.3.4 Bibliographie und weiterführende Literatur
Braudel, Fernand 1985: 'Sozialgeschichte des 15.-18. Jahrhunderts'. Der Alltag. München: Kindler.
--- 1986a: *Sozialgeschichte des 15.-18. Jahrhunderts. Aufbruch zur Weltwirtschaft*. München: Kindler.
--- 1986b: 'Sozialgeschichte des 15.-18. Jahrhunderts. Der Handel'. München: Kindler.
Graeber, David 2005: Value: anthropological theories of value. In J. Carrier (Hg.): 'A Handbook of Economic Anthropology'. Cheltenham/UK, Northampton/USA: Edward Elgar, S. 439-471.
Polanyi, Karl 1978: *The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen*. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Pribam, Karl 1992: 'Geschichte des ökonomischen Denkens', 2 Bände. Frankfurt am Main.
Priddat, Birger P. 2002: 'Theoriegeschichte der Wirtschaft'. Neue Ökonomische Bibliothek. München: Wilhelm Fink.
Quesnay, François 1758: *Tableau économique. Remarques sur les variations de la distribution des revenus annuels d'une nation*. Versailles.
Ricardo, David 1817: *On the Principles of Political Economy, and Taxation*. London.
Smith, Adam 1970 (1776): *An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations*. London: Everyman.
--- 1999 (1776): *Der Wohlstand der Nationen. Eine Untersuchung seiner Natur und seiner Ursachen*. Vollständige Ausgabe nach der 5. Auflage (letzter Hand), London 1789. Für die Taschenbuchausgabe revidierte Fassung. München.
Söllner, Fritz 2001: 'Die Geschichte des ökonomischen Denkens'. Berlin.
Thompson, Edward P. 1987: *Die Entstehung der englischen Arbeiterklasse*. 2 Bände. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Walter, Rolf 2003: *Wirtschaftsgeschichte. Vom Merkantilismus bis zur Gegenwart*. Köln, Weimar, Wien: Böhlau.
Wolf, Eric R. 1991 (1982): *Die Völker ohne Geschichte. Europa und die andere Welt seit 1400*. Frankfurt/New York: Campus Verlag.