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Vorheriges Kapitel: 1.1 Der Gegenstand der Soziologie
1.2 Natur - Kultur - Gesellschaft
verfasst von Theresa Fibich und Rudolf Richter
Das abendländische, europäische Denken ist gekennzeichnet durch Polarisierung, durch Entwicklung von Differenzen. So beherrscht der fundamentale Unterschied zwischen Natur und Gesellschaft [vgl. Kröll & Pesendorfer: Grundlagen sozialwissenschaftlicher Denkweisen[1] ] das Denken in der Wissenschaft.
Die Differenzierung von Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften (Letztere sind heute ausgefächert in Kultur- und Sozialwissenschaften) widerspiegelt diesen Gegensatz auch in der Organisation verschiedener Fakultäten in den Universitäten. „Natur erklären wir, Geist verstehen wir“ hat der deutsche Geisteswissenschaftler Wilhelm Dilthey um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20 Jahrhundert formuliert, und damit die Differenz festgeschrieben.
Heute wird diese Differenz zunehmend in Frage gestellt. Natur und Gesellschaft sind immer miteinander unauflöslich verbunden. Gene – so ein passendes Bild - sind das Papier und der Bleistift, schreiben müssen wir schon selber. Ohne Gene gäbe es kein menschliches Verhalten, und ohne gegenseitige Beziehung der Menschen zueinander würden Gene nicht wirksam werden. Der Mensch wäre nur von seiner biologischen Konstitution her nicht überlebensfähig, er braucht Gesellschaft. Die heutigen Sozialwissenschaften werden verstärkt mit den Naturwissenschaften zusammenarbeiten müssen, um die menschliche und damit auch gesellschaftliche Wirklichkeit zu erforschen. Der Gegensatz wird zunehmend fragwürdig.
Unterschieden wird auch zwischen Gesellschaft und Kultur. Während Gesellschaft mit Strukturen und Strukturelementen zu tun hat, gehört der ideelle Überbau zum Bereich der Kultur. Die Soziologie beschäftige sich mit der Sozialstruktur, mit Normen, sozialen Rollen, die Anthropologie mehr mit Werten, Mythen und den Bedeutungen von materiellen Dingen, so die disziplinäre Differenzierung. Heute wird auch dieser Gegensatz nicht mehr so spezifisch in den Wissenschaften organisiert. Die frühere Ethnologie hat sich an der Universität Wien in Kultur- und Sozialanthropologie umbenannt und die Soziologie verwendet im Bereich der qualitativen Sozialforschung ethnographische Methoden und analysiert Prozesse der Bedeutungsverleihung in der Gesellschaft.
Heute geht es weniger darum, Natur, Gesellschaft und Kultur voneinander abzugrenzen, als vielmehr die Wechselwirkungen zwischen den Bereichen zu beobachten. Es geht darum, interdisziplinär zu erforschen, wie sich konkretes Leben der Menschen auf der Erde durch biologische und geistige (kulturelle, soziale) Prozesse gestaltet.
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 2 der Lernunterlage Grundlagen sozialwissenschaftlicher Denkweisen (Soziologie)
Nächstes Kapitel: 1.3 Soziologie als Wissenschaft der Aufklärung