Difference between revisions of "Ausgewaehlte Weiterentwicklungen der ethnographischen Feldforschung/Postmoderne"

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(5.4 Postmoderne Kritik, literal turn und die Krise der Repräsentation)
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Interpretationen als Vermutungen über Bedeutungen sind also etwas Gemachtes oder Hergestelltes. Geertz zu Folge sind sie also '''keine Fakten, sondern Fiktionen'''.
 
Interpretationen als Vermutungen über Bedeutungen sind also etwas Gemachtes oder Hergestelltes. Geertz zu Folge sind sie also '''keine Fakten, sondern Fiktionen'''.

Revision as of 19:04, 7 November 2019

Vorheriges Kapitel: 5.3 Dichte Beschreibung und interpretative Ethnographie

5.4 Postmoderne Kritik, literal turn und die Krise der Repräsentation

Verfasst von Ernst Halbmayer

Interpretationen als Vermutungen über Bedeutungen sind also etwas Gemachtes oder Hergestelltes. Geertz zu Folge sind sie also keine Fakten, sondern Fiktionen.

Geertz wird damit zum Wegbereiter der postmodernen Kritik und der writing culture-Debatte (Marcus und Fischer 1986; Clifford und Marcus 1986). Diese gehen davon aus, dass Anthropologie ihren Gegenstand nicht repräsentiert, sondern erfindet. Geertz beharrt allerdings auf der Vorstellung, dass Kultur eine gegebene und abgrenzbare Einheit sei, deren Bedeutung verstanden und erschlossen werden kann. Im Gegensatz dazu stellen postmoderne AutorInnen eine kulturelle Gesamtbedeutung in Frage und fokussieren vielmehr auf die Vielstimmigkeit und Polyphonie der Diskurse. D.h. sie gehen von widersprüchlichen Vorgängen kultureller Bedeutungsproduktion aus und wenden sich gegen "große Erzählungen", die eine Gesamtbedeutung unterstellen.

In weiterer Folge wurden die ethnographischen Beschreibungen selbst als solche Erzählungen gelesen und hinterfragt. Daraus resultierte z.B. die literaturwissenschaftlich inspirierte Frage, welche Strategien AutorInnen anwenden, um ihren Ethnographien Autorität zu verleihen. In den "künstlichen Wilden" (1990) untersucht Geertz diese Strategien in klassischen Ethnographien von Claude Lévi-Strauss, Bronislaw Malinowski, Evans-Pritchard und Ruth Benedict. Ethnographie wird aus dieser Leseweise zu einem Spiel mit unterschiedlichen Textverfahren und literarischen Strategien, welches in letzter Konsequenz mehr über den/die AutorIn, als über die Untersuchten aussagt. Geertz zu Folge gibt es bei der Ethnographie - ähnlich wie in der Kunst - keine Grenze zwischen Darstellungsweise und zugrunde liegendem Inhalt, was in weiterer Folge zu einer Kritik der klassischen Darstellungsweise anthropologischer Erkenntnisse in Form von Ethnographien führt. Insgesamt führte diese Entwicklung insbesondere innerhalb der US- amerikanischen Anthropologie zu einem Fokus auf die Politik des Schreibens, die Frage der Darstellung und der Repräsentation, während die Methodendiskussion in den Hintergrund rückte. Dies führte zur Forderung nach experimentellen Schreibstrategien und neuen Darstellungsformen jenseits der klassischen "großen Erzählungen".

In dieser Auffassung wird Ethnographie mit dem Schreiben gleich gesetzt und die Unterscheidung zwischen Feldforschung (der Teilnahme, dem Beobachten, der dabei generierten Erfahrung) und dem Aufschreiben bzw. zwischen ethnographischen Daten und der Theorie annulliert. Schreiben ist Theorie und die ethnographische Erfahrung und ihre Repräsentation im Schreiben sind aus einem Guss. (vgl. Silverman 2005: 324)

In diesem Sinne ist auch Stephen Taylors Definition der postmodernen Ethnographie zu verstehen: "a cooperatively evolved text consisting of fragments of discourse intended to evoke ... a emergent fantasy of a possible World of commonsense reality .... It is, in a word, poetry." (in Clifford und Marcus 1986: 125)

So wurden dialogisch-plurivoke Textstrategien sowie Strategien multipler Autorenschaft vorgeschlagen, welche die Polyphonie der Stimmen besser repräsentieren sollten. Kulturelle Phänomene und Prozesse sollten evoziert statt repräsentiert werden. Dabei wurde übersehen, dass die Anordnung dialogisch-plurivokaler Texte selbst wieder eine Schreib- und Darstellungsform ist, die in letzter Konsequenz wieder eine/n AutorIn und seine/ihre Selektionen erfordert. Noch wichtiger ist, dass die Versuche nicht autoritative plurivokale Texte zu produzieren nicht zur Aufhebung von Autoritäts-, Macht- und Ausbeutungsverhältnissen in der realen Welt führt. Die postmoderne Wende und literarische Kritik hat vielmehr dazugeführt, dass das Interesse weg von sozialen Institutionen, Machtverteilungen und materiellen Bedingungen einseitig auf die Ebene der Texte und Symbolik verschoben wurde. Dies führte zu einer mangelnden Beachtung des politisch- gesellschaftlichen Kontextes und zu einer radikalen Verabschiedung des Repräsentationsmodells, was in letzter Konsequenz zu einer Verunmöglichung der Erkenntnis von politischen Machtstrukturen führt. Nicht zu letzt deshalb wurden die Werke von Clifford, Marcus und Fischer radikal kritisiert, insbesondere auch von positivistischen WissenschaftlerInnen, wie etwa Marvin Harris[1], deren Ziel es ist, verifizierbare Wahrheiten zu erforschen. So bezeichnet Harris diese Gruppe von Autoren als "untrained would-be novelists and ego-tripping narcissists afflicted with congenial logo-diarrhea." (Silverman 2005: 325)

Gleichzeitig arbeitet eine Wissenschaft, die vorgibt nur Fiktionen zu produzieren, systematisch an ihrer eigenen Bedeutungslosigkeit. Das methodisch Zentrale an diesen Diskussionen ist aber die reflexive Einsicht, dass es sich bei ethnographischen Daten nicht um eins zu eins Abbildungen einer objektiven Realität handelt. Im Gegensatz zu solchen direkten Abbildungen erster Ordnung, sind ethnographische Daten solche zweiter oder höherer Ordnung. Es handelt sich also um Interpretationen von Interpretationen bzw. um Beobachtungen von Beobachtungen. Insofern beinhalten sie immer auch die Perspektive des/der EthnographIn. D.h. sie können sowohl darauf hin gelesen werden, was sie uns über einen bestimmten Ausschnitt der Welt sagen, wie was sie uns über den/die EthnographIn, seine/ihre Herkunft, seine/ihre theoretischen Annahmen und seine/ihre methodische Vorgangsweise vermitteln.

Erst aus diesem doppelten Charakter der Daten erschließt sich ihre Aussagekraft und Bedeutung. Die gilt für alle im Zuge sozialwissenschaftlicher Forschungen erhobenen/produzierten Daten, nicht nur für ethnographische Beschreibungen. Auch scheinbar harte statistische Daten können darauf hin befragt werden, was sie uns über einen bestimmten Ausschnitt der Welt berichten oder darauf hin, durch welche Form der Operationalisierung [2] und Fragebogenkonstruktion diese Daten zu Stande gekommen sind.

Das besondere Qualitätsmerkmal ethnographischer Daten besteht, im Gegensatz zu anderen sozialwissenschaftlichen Daten, darin, dass sie auf einer ethnographischen Erfahrung beruhen, die durch lang andauernde und intensive Beziehungen zum Feld generiert werden. Ihre Qualität liegt also in einer intimen persönlichen Kenntnis der Praxis und nicht nur in einem Sammeln verbaler Aussagen über diese. Die zentralen methodischen Probleme sind somit die Transformation der ethnographischen Erfahrung[3] in ethnographische Daten und Beschreibungen sowie deren Analyse [4].


Verweise:
[1] http://de.wikipedia.org/wiki/Marvin_Harris
[2] Siehe Kapitel 2.7.1.1
[3] http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/qualitative/qualitative-93.html
[4] Siehe Kapitel 6


Nächstes Kapitel: 5.5 Globale Welt und multi-sited Ethnography


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