Difference between revisions of "Geschichte der Organisations- und Betriebsanthropologie/Formative"

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Vorheriges Kapitel: 2. Geschichte der Organisations- und Betriebsanthropologie

2.1 Formative Phase in den USA

Verfasst von Gerlinde Schein und Gertraud Seiser

Foto: Hawthorne Werke um 1910. Quelle aus: Warner, Sam Bass, Jr. The Urban Wilderness: A History of the American City. Berkeley: University of California Press, 1995. Quelle

Die 1920er und 1930er Jahre waren in den USA von riesigen interdisziplinären sozialwissenschaftlichen Projekten geprägt, die zum Großteil von privaten Stiftungen, wie der Rockefeller Foundation, finanziert wurden. Auf deren Initiative wurde 1923 das Social Science Research Council (SSRC) gegründet, um problemorientierte interdisziplinäre Forschung in den Sozialwissenschaften zu fördern (Patterson 2001: 72).

Im Rahmen dieser Großprojekte - das erste und berühmteste davon sind die Hawthorne Experiments - wurden auch AnthropologInnen in die empirische Erforschung moderner Gesellschaften einbezogen. Dies führte zu "what was perhaps the first anthropological study of industrial work" (Silverman 2005: 294).

Interdisziplinär formierte sich die Human-Relationsbewegung, die sich in Abgrenzung zum Taylorismus definierte. Diese Bewegung ging davon aus, dass nicht nur physische Arbeitsbedingungen, sondern auch die sozialen Rahmenbedingungen der Arbeit in der Fabrik Einfluss auf die Arbeitsergebnisse haben. Ausgangsort der Human-Relations Bewegung war der Pareto Circle in Harvard, der sich für ein Social Engineering of Sentiments, also für die soziale Steuerung der Gefühle durch das Management einsetzte. Auch in dieser Gruppe gehörten Anthropologen zu den Gründungsmitgliedern.

Die zentrale Figur auf Seiten der Anthropologie war in den 1930er bis 1960er Jahren William Lloyd Warner, ein sehr dynamischer Schüler von A.R. Radcliffe- Brown, der vor allem in seiner Chicagoer Zeit für die US-Business Anthropology konstitutiv war. Besonders interessant an Warner ist sein Klassenverständnis, da er Klasse nicht, wie die Marxisten, über das Eigentum an Produktionsmitteln, sondern über die Konsummuster definierte.

Warner und seine Schüler beschränkten sich nicht auf das Aktionsfeld Forschung und Lehre, sondern wollten die Sozialanthropologie vor allem als anwendungsorientierte Disziplin verstehen. Ihr Engagement für eine angewandte Anthropologie ist bis heute relevant:

  • Mitgründung der "Society for Applied Anthropology",
  • Gründung der Beratungsfirma “Social Research Incorporated”, die im Bereich der Markt- und Motivforschung tätig war.

Inhalt


2.1.1 William Lloyd Warner (1898-1970)

Abbildung: "Heirat und Klasse bei Warner" aus: Warner/Lunt 1941: 94

When I went to Australia, I told my friends, Professor Robert H. Lowie and Professor Alfred Radcliffe-Brown, that my fundamental purpose in studying primitive man was to get to know modern man better; that some day I proposed to investigate (just how I did not then know) the social life of modern man with the hope of ultimately placing the researches in a larger framework of comparison which would include the other societies of the world. (Warner/Lunt 1941: 3f)

William Lloyd Warner hat bei Robert Lowie an der University of California, Berkeley studiert, als er erstmals mit Bronislaw Malinowski und Alfred R. Radcliffe-Brown auf deren Amerikareisen 1926 zusammentraf. Radcliffe-Brown hat Warner für ein Forschungsstipendium nach Australien rekrutiert, wo letzterer drei Jahre Feldforschung zu Verwandtschaft und Ökonomie bei den Murngin durchführte (Partridge/Eddy 1987: 20). 1929 kehrte er in die USA zurück, um am Department of Anthropology der Harvard University eine Instruktorenstelle anzutreten. Dort traf er auf Elton Mayo, einen langjährigen Freund von Malinowski. Mayo holte Warner 1930 in das Hawthorne Projekt[1]. Unmittelbar danach hat sich Warner der Untersuchung von modernen amerikanischen Gemeinden mit kultur- und sozialanthropologischen Methoden zugewandt. Zwischen 1931 und 1934 führte er mit einer Gruppe von 18 weiteren WissenschafterInnen, AnthropologiestudentInnen aus Harvard, Untersuchungen in Newburyport, einer Kleinstadt in Massachussetts von knapp 17.000 Einwohnern, durch, die später als die Yankee City Studies bekannt wurden. Partridge und Eddy urteilen darüber: "Warner’s study was and remains the most comprehensive of its kind to be undertaken in American society" (Partridge/Eddy 1987: 22).

1936 wechselte Warner von Harvard nach Chicago und gründete dort 1943 gemeinsam mit Burleigh Gardner das Committee on Human Relations in Industry. Dieses Komitee unterstützte eine große Zahl von anthropologischen Untersuchungen in Industriebetrieben, Dienstleistungsunternehmen und öffentlichen Einrichtungen (Whyte 1987: 160).

1946 wurde Warner selbst zum Unternehmer. Gemeinsam mit seinem Schüler Burleigh Gardner und dem Psychologen William Henry gründete er die Beratungsfirma Social Research, Incorporated (SRI). Warners Geschäftstüchtigkeit und sein vielseitiges Engagement führten zu Problemen mit der Universität. In der Institutsgeschichte firmiert er als "one of the most dynamic figures in midtwentieth-century American social science" (Stocking 2007 (1979)).

Warner definierte sich selbst immer als social anthropologist, obwohl er sich dafür interessierte, wie Institutionen und kulturelle Werte in modernen Industriegesellschaften funktionieren (Stocking 2007 (1979)).

Warner und die große Gruppe von AnthropologInnen, die er beeinflusste, leisteten insoferne Pionierarbeit, als sie die Anthropologie weg von den historischen Rekonstruktionen der Kultur von "primitive people" hin zu einer modernen Sozialwissenschaft führten, die uns selbst einschließt. Sie konzentrierten sich nicht auf die traditionelle amerikanische Anthropologie des "Four Field Approach" (Linguistik, Archäologie, physische und kulturelle Anthropologie) sondern wandten sich der Soziologie, der Sozialpsychologie und der Psychologie zu (Partridge/Eddy 1987: 24).

Internetquellen:

Warner, William Lloyd I[2]

Warner, William Lloyd II[3]

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 2.1.2
[2] http://en.wikipedia.org/wiki/Lloyd_Warner
[3] http://www.adb.online.anu.edu.au/biogs/A120434b.htm



2.1.1.1 Yankee City Studies (1930-1934)

Foto: Geschichtsträchtig: Warner/Lunt an der UB Wien. Aus Schmutztitel Warner/Lunt 1941

Zwischen 1930 und 1934 hat William Lloyd Warner mit Unterstützung von 18 weiteren FeldforscherInnen Newburyport, Massachussets untersucht. Die Ergebnisse wurden in fünf Büchern, den Yankee City Series zwischen 1941 und 1959 publiziert. Warner ging es dabei ganz explizit darum, "the same techniques and viewpoints applied by them [social anthropologists] to the study of societies of simpler peoples are here subjected to empirical testing in a concrete case study in modern American society" (Warner/Lunt 1941: XIX). Auf methodischer Ebene wurde vorwiegend mit teilnehmender Beobachtung und unstrukturierten Interviews gearbeitet. Darüber hinaus sammelten die Feldforscher sämtliches quantitatives Material, dessen sie habhaft werden konnten. Ziel war die umfassende Darstellung der Sozialstruktur einer komplexen Gesellschaft. Für die Business Anthropology, wie sie heute in den USA verstanden wird, (Baba 2006, Jordan 2003) wurden folgende Ergebnisse relevant:

  • Klassenbegriff für den Bereich der Marktforschung;
  • Bedeutung der Mitgliedschaft in freiwilligen Vereinigungen (Clubs, Vereine) und in Firmen für die soziale Integration der US- AmerikanerInnen;
  • Für die Industrieanthropologie wurde besonders der Band "The Social System of a Modern Factory" (Warner/Low 1947) wichtig. Ein lang andauernder und erfolgreicher Streik in einer Schuhfabrik, der während der Feldforschungszeit stattfand, konnte detailreich auf seine Ursachen hin untersucht werden. Warner und Low zeigen, wie die Veränderung der Arbeitsprozesse in der Fabrik, nach einem Verkauf derselben an einen selten anwesenden Eigentümer im entfernten New York, aus stolzen Handwerkern Fließbandarbeiter machte. Die Identität der Arbeiter mit dem Beruf ging verloren aber auch die Loyalität gegenüber dem Management. Da das neu eingesetzte Management in der Kleinstadt keinen politischen Rückhalt hatte, war zudem die Solidarität der Bevölkerung mit dem Streik ungewöhnlich hoch (vgl. Baba 2006: 90).

Die "Yankee City Studies" sind eine sehr frühe aber keineswegs die erste Untersuchung einer US-amerikanischen Kleinstadt durch KulturanthropologInnen. Die erste Stadtstudie wurde bereits 1929 von Robert und Helen Lynd unter dem Titel "Middletown" publiziert (Goldschmidt 1950: 484).



2.1.1.2 Soziale Klasse bei W. L. Warner

Warner sieht soziale Klasse als strukturierendes Prinzip der US- amerikanischen städtischen Gesellschaft. Klasse basiert bei ihm, nicht wie in der marxistischen Tradition auf der Art, wie Menschen zu Geld kommen, sondern eher darauf, wie sie es ausgeben. Nicht die Frage des Eigentums an den Produktionsmitteln bestimmt die Klassenposition der Individuen, sondern neben rein ökonomischen Faktoren, die Warner durchaus anerkennt, sind die Weltsicht, Werte, Verhaltensweisen und insbesondere auch das Konsumverhalten ausschlaggebend für die Klassenzugehörigkeit.

Foto: "Damentag im Casino Wien" (© Gertraud Seiser, 2005)

Warner und Lunt (1941: 81ff) schreiben, dass sie mit der Hypothese ins Feld gegangen wären, die grundlegende Struktur der amerikanischen Gesellschaft wäre ökonomisch determiniert und die Ökonomie bestimme letztendlich auch das Wertesystem. Unter sozialer Klasse verstehen sie "... two or more orders of people who are believed to be, and are accordingly ranked by the members of the community, in socially superior and inferior positions" (Warner/Lunt 1941: 82). Die Informanten konnten andere Personen sehr sicher einem bestimmten sozialen Rang zuordnen, wenn sie über folgende Informationen verfügten: Bildungsweg, Beruf, familiärer Hintergrund, enge Freunde, Club- und Vereinsmitgliedschaften, Besitz und Einkommen, genau so wie Umgangsformen, Sprache, Auftreten in der Öffentlichkeit und die Wohngegend.

Auf Basis dieses offenen und induktiven Zugangs "entdeckten" sie sechs soziale Klassen in Yankee City:

  • Upper-upper class: alteingesessene Familien, exklusive Clubs und Hobbies, durchgehend ethnisch weiß, kein demonstrativ verschwenderischer Umgang mit Geld;
  • Lower-upper class: neu zugezogene oder neureiche Familien, 5% ethnische Minderheiten, weiß, wie upper-upper class fast durchgängig selbstständig oder vollbeschäftigt und die Kinder gehen in Privatschulen außerhalb von Yankee City; Unterschied zu upper-upper: Kein Zutritt zu bestimmten noblen Clubs, demonstrativ verschwenderischer Umgang mit Geld;
  • Upper-middle class: zu 83% "Yankee", v.a. Geschäftsleute und höhere Beamte, Eigenheim, zu 80% vollbeschäftigt; im Unterschied zu "upper" Klassen gehen die Kinder in die lokale Highschool, Klasse mit der höchsten Bibliotheksbenützung und den meisten Zeitschriftenabos;
  • Lower-middle class: nur noch 67% "Yankee", ethnische Minderheiten, v.a. Iren, franz. Kanadier und Juden, v.a. mittlere Beamte, Facharbeiter und kleine Geschäftsleute, Arbeitslosigkeit 15%, im Gegensatz zu 1% in der upper- middle class; vorwiegend Mietwohnungen, bezahlen die Miete monatlich; Jugendliche sind berufstätig, besuchen nicht die Highschool;
  • Upper-lower class: mit 61% größter Anteil an ethnischen Minderheiten: Iren, Armenier, Italiener, Juden, Griechen, Russen und Polen, Arbeiter in Schuhfabriken und im Baugewerbe, 21% arbeitslos, gemietete Wohnungen, zahlen Miete monatlich, Jugendliche arbeiten;
  • Lower-lower class: 57% ethnische Minderheiten, alle Black Americans findet man in dieser Gruppe sowie einen Großteil der Polen und Russen; angelernte und Hilfsarbeiter in Fabriken und im Transportwesen, zahlen Miete wöchentlich, Arbeitslosigkeit bei einem Drittel, wenn Arbeit dann Teilzeit, höchster Anteil an Festnahmen, Jugendliche überwiegend arbeitslos; glauben im Gegensatz zu allen anderen Klassen nicht an die Möglichkeit des sozialen Aufstiegs.

Obwohl Warners Aufspaltung der Klassen in sechs Unterteilungen nicht unwidersprochen blieb (z.B. Goldschmidt 1950, der zwei bis max. vier Klassen für ausreichend hält), so war sein Ansatz der Verknüpfung von Einkommen und Besitz, Beruf und Bildung mit Werthaltungen und Konsumpräferenzen für die damalige Zeit sehr innovativ. Die Yankee City Studies sind aus heutiger Perspektive auch als Vorläufer der Lebensstilforschung und teilweise auch von Klassenanalysen wie Pierre Bourdieus "feinen Unterschieden" (Bourdieu 1982/1979) zu sehen.

Was an Warners Klassenbegriff aber zurecht kritisiert wurde und wird, ist, dass er ahistorisch ist und gesellschaftliche und ökonomische Machtverhältnisse ignoriert.



2.1.1.3 Social Research Incorporated

Die Firma Social Resarch, Inc., (Kurzform SRI), 1946 von William Lloyd Warner gemeinsam mit seinem Studenten Burleigh Gardner und William Henry, einem klinischen Psychologen, gegründet, war "the first management consulting firm run by anthropologists and using anthropological techniques and theory to analyze problems in organizations (Jordan 2003: 12).

Besonders erfolgreich war SRI in den Bereichen Marktforschung und Motivforschung. Marktforschung bestand nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem aus Statistiken über Verkaufszahlen einerseits und demografischen Daten zur Abschätzung, wie hoch die Nachfrage sein könnte, andererseits. Werbung setzte sich nicht damit auseinander, wie neue Nachfrage stimuliert werden könnte (Easton 2001). Genau da setzte SRI mit anthropologischen Methoden an, indem Tiefenstudien zum Konsum verschiedenster Produkte, von Seifen zu soap operas, von Alkohol über Zigaretten und schnelle Autos durchgeführt wurden.

Over the next two decades SRI helped to revolutionize the field of market research, transforming its assumptions, methods, goals, and consequences in ways that quickly redirected the world of advertising and slowly, very slowly, made consumption - "the most studied single phenomenon in American life," according to Andrew Abbott, chair of sociology at Chicago - a focus of purely academic inquiry. (Easton 2001: 2)

Die zentrale Frage, der mit kulturanthropologischen und psychologischen Methoden nachgegangen wurde, war "what was then a neglected topic: why people buy stuff" (Easton 2001:2).

In Chicago wurde beispielsweise eine Studie über den "user-code" von Bier durchgeführt und herausgefunden, dass regelmäßige Biertrinker nicht dazu neigen, die high society zu imitieren. Eingefleischte Biertrinker wechseln für ein Bier nicht die Kleidung, sie benötigen nicht einmal bestimmte Trinkgläser, denn Bier marks the absence of power relations, authority, or social striving,’ says the foremost study of the subject. Beer advertisements that cater to status seekers - depicting sophisticates in elegant settings and formal attire, sipping this chilled, golden beverage while basking in the good life - evoke only hostility among beer drinkers. (Easton 2001: 1)

Im SRI suchte man nach der sozialen Bedeutung von Bier und den Verhaltensweisen von verschiedenen sozialen Klassen gegenüber diesem Getränk. Was sind die emotionalen und intuitiven Faktoren, die einzelne soziale Gruppen mit bestimmten Objekten verbinden? Aus solchen Informationen konnten die Firmen, die Untersuchungen in Auftrag gaben, nun ganz neue Werbestrategien entwickeln.

Michael Karesh, der 1995 im Rahmen seiner Masterarbeit eine Geschichte des SRI verfasst hat, weist darauf hin, dass die besondere Stärke des SRI darin bestand, informell über die Person Warner eng mit der Universität verbunden, aber formell von ihr unabhängig gewesen zu sein. Nur dadurch konnte SRI "acquire the latest conceptual and methodological tools in the social sciences and apply them to commercial ends" (Karesh 1995 zit. nach Easton 2001: 6).

Foto: Werbung in organisationsdichtem Raum (© Gertraud Seiser, 2007)

Ein Begriff, der in der Folge aus der Marktforschung und der Werbung nicht mehr wegzudenken ist, geht ebenso auf das SRI, konkret auf Sidney Levy und Burleigh Gardner zurück: "brand image", das Image einer Marke, verstanden als Gesamtheit aller Ideen, Gefühle und Verhaltensweisen, die KonsumentInnen einem bestimmten Markenartikel gegenüber haben und die zu einer symbolischen Einheit verschmelzen.

Den Begriff des "brand image" haben Levy und Gardner nach einer Vergleichsstudie von 18 Automarken geprägt, das den Cadillac, Amerikas Traumauto der damaligen Zeit als die Luxuskarosse der Neureichen, der lower-upper class entlarvte, die einen Statusboost benötigen, weil es ihnen an der entsprechenden Herkunft fehlt (Easton 2001: 10).

Mitte der 1960er Jahre wurde es still um das SRI. Die zentralen Personen konzentrierten sich entweder ganz auf die Geschäftswelt, indem sie selbst Marketingabteilungen von Firmen übernahmen oder ganz auf die Wissenschaft. Die dominante Rolle in der Marktforschung wurde nun von den Wirtschaftswissenschaften eingenommen.

2.1.2 Hawthorne Experiments

Foto: Autoproduktion am Fließband, Ford Company, Detroit, Michigan, 1913. Quelle

Die Hawthorne Experiments gehören zu den größten sozialwissenschaftlichen Studien, die jemals durchgeführt wurden. Durch den Einbezug eines Sozialanthropologen in der Schlussphase des Projekts gelten sie auch als Beginn der Organisations- und Betriebsanthropologie.

Begonnen hat das Projekt 1924 mit dem Versuch, die von Frederick W. Taylor 1911 postulierte "wissenschaftliche Betriebsführung" (Scientific Management) experimentell zu beweisen. Taylor plädierte für die Trennung von planender und durchführender Arbeit mit dem Ziel, die Arbeitsproduktivität zu steigern durch

a) die Vermeidung von unökonomischen Arbeitsprozessen und

b) "die Bekämpfung von Leistungszurückhaltungen der Arbeiter, der ’systematischen Bummelei’ in Taylors Worten" (Müller-Jentsch 2003: 51).

Bezüglich der durchführenden Arbeit schlug er vor, die Produktionsprozesse in möglichst kleine und vom Arbeitsablauf her effiziente Teilprozesse zu zerteilen. Die Details jeder Tätigkeit sollten zuerst untersucht, dann neu geplant und standardisiert werden. Wenn die physischen Bedingungen der Arbeit (Licht, Temperatur etc.) optimal sind, dann könne von den ArbeiterInnen die effiziente Durchführung der Tätigkeiten erwartet werden. Zusätzlich sei über entsprechende Kontrollen die "Leistungszurückhaltung" der ArbeiterInnen zu bekämpfen.

Das ist eine top-down Sicht der Organisation des industriellen Produktionssystems nach bestimmten Optimierungsvorstellungen, die Taylor klar formulierte:

Nur durch zwangsmäßige Einführung einheitlicher Arbeitsmethoden, durch zwangsmäßige Einführung der besten Arbeitsgeräte und Arbeitsbedingungen, durch zwangsmäßiges Zusammenwirken von Leitung und Arbeitern kann ein schnelleres Arbeitstempo gesichert werden. Die ’zwangsmäßige’ Einführung all dieser Dinge kann aber selbstredend nur Sache der Leitung sein. (...) Alle, die nach entsprechender Anweisung nicht nach den neuen Methoden und in schnellerem Tempo arbeiten wollen oder können, müssen für andere Arbeiten verwendet oder entlassen werden. (Taylor 1919: 86f zit. nach Müller-Jentsch 2003: 52)

Heute versteht man unter Taylorismus die Zerstückelung des Produktionsprozesses mit dem Ziel, Wissen beim Management zu konzentrieren und dadurch eine problemlose Ersetzbarkeit der Arbeitskräfte am Fließband zu ermöglichen. Die Anlernzeiten der ArbeiterInnen werden verkürzt, jede/r kennt nur noch Teilbereiche des Produktionsprozesses und ist dadurch jederzeit austauschbar.

Frederick W. Taylor forderte auch die wissenschaftliche Durchdringung der einzelnen Arbeitsprozesse und führte selbst umfangreiche Zeitstudien durch. Auf seine Anregung hin begannen viele Betriebe mit der Analyse und Rationalisierung der Produktionsprozesse und der physischen Produktionsbedingungen.

Das National Research Council (NRC) der National Academy of Sciences der USA gab ebenfalls eine entsprechende Studie in Auftrag. Das Western Electric Hawthorne Plant in Westchicago und Cicero, ein Zulieferbetrieb für die damals im rasanten Ausbau befindlichen Telefongesellschaften mit verschiedenen Standorten und über 50.000 Beschäftigten, wurde für diese Studie ausgewählt.

Man wollte herausfinden, unter welchen physischen Umweltbedingungen (Lichtverhältnissen) die ArbeiterInnen die besten Leistungen erbringen.



2.1.2.1 Hawthorne Experiments: Phase 1 (1924-1927)

Die Hawthorne Experiments waren keineswegs als sozialwissenschaftliches Vorhaben geplant. Es wurden Ingenieure des MIT (Massachussetts Institute of Technology) beauftragt, eine Serie von Experimenten durchzuführen um herauszufinden, unter welchen Lichtverhältnissen die Arbeitsleistungen in der Fabrik am besten sind. Dazu wurden z.B. zwei Gruppen von Arbeiterinnen, die in der Montage von Relais arbeiteten, in zwei gesonderten Räumen isoliert. Die eine Gruppe wurde unterschiedlichen Beleuchtungsintensitäten ausgesetzt, bei der zweiten Gruppe, der Kontrollgruppe, wurde die Beleuchtung des Arbeitsplatzes nicht verändert. Dann wurde laufend bei beiden Gruppen die Zahl der hergestellten Stücke gezählt.

This test resulted in very appreciable production increases in both groups and of almost identical magnitude. The difference in efficiency of the two groups was so small as to be less than the probable error of the values. Consequently, we were again unable to determine what definite part of the improvement in performance should be ascribed to improved illumination. (Roethlisberger/Dickson 1947: 16)
Foto: Beleuchtung (© Gertraud Seiser, 2006)

Die Wissenschafter gingen von der Hypothese aus, dass eine bessere Beleuchtung einen höheren Arbeitsertrag bringen würde. Das Ergebnis war überraschend: Egal welche Änderung vorgenommen wurde, die Frauen reagierten mit einer Outputsteigerung. Auch der Output der Kontrollgruppe, bei der ja die Umweltbedingungen gleich geblieben sind, hat sich erhöht.

Dies stand im Widerspruch zum von Taylor prognostizierten Erfolg des "Scientific Management", das die Arbeitsleistung als "mechanische" Folge der physischen Arbeitsbedingungen ansah. Es wurde nun angenommen, dass psychologische Faktoren wichtiger sind, als die physische Arbeitsumgebung. Insbesondere wurde vermutet, dass die Erhöhung des Outputs die Folge der Aufmerksamkeit, die den Frauen durch die Forscher zuteil wurde, wäre. Dieser Einfluss der Forscher auf das Ergebnis eines Experiments aufgrund der experimentellen Bedingungen selbst wird seither "Hawthorne Effekt" genannt (Wright 1994: 6; Jordan 2003: 10; Baba 2006).

Zur genaueren Untersuchung des Phänomens wurde nun die Studie ausgeweitet.



2.1.2.2 Hawthorne Experiments: Phase 2 (1927-1930)

Relay Assembly Test Room Experiments und Mica Splitting Test Group

Das National Research Council setzte die Experimente ab 1927 in Kooperation mit der Harvard School of Business Administration unter der Leitung des Industriepsychologen Elton Mayo fort. Die Weiterführung des Projekts erfolgte unter Einbezug einer großen Gruppe von ForscherInnen aus der Firma selbst und von der Universität, finanziert durch die Rockefeller Foundation und Western Electric.

In den Relay Assembly Test Room Experiments wurden die Auswirkungen von verschiedenen sozialen Rahmenbedingungen auf die Arbeitseffizienz getestet. Die Forscher variierten die Bezahlungsweise (verschiedene Prämiensysteme), die Länge des Arbeitstages und der Arbeitswoche, die Verteilung der Ruhepausen über den Arbeitstag, und auch mit der Versorgung der ArbeiterInnen mit Essen wurde experimentiert. Die Auswirkungen auf die Arbeitseffizienz bestanden wiederum in einer leichten Erhöhung des Outputs, wobei diese auch hier nicht ursächlich einem bestimmten der getesteten Faktoren zugeordnet werden konnten.

Bei der Mica Splitting Test Group wurde nun der Stücklohn der ArbeiterInnen konstant gehalten, während alle anderen Faktoren variiert wurden. Wieder bestand das Ergebnis im ersten Jahr in einer durchgängigen etwa 15%igen Erhöhung der Arbeitsleistung, und wieder konnte dieses Ergebnis keiner bestimmten der veränderten Variablen zugeordnet werden. Die Vermutung wurde immer stärker, dass soziale Prozesse unter den ArbeiterInnen entscheidend auf die Arbeitseffizienz wirken. Eine eigens gegründete interne "Industrial Research Division" führte nun eine fabrikweite Fragebogenerhebung durch. Insgesamt wurden 21.126 ArbeiterInnen befragt, und es wurde klar: "(...) social groups in shop departments were capable of exercising very strong control over the work behavior of their individual members" (Roethlisberger/Dickson 1947: 379).

Abbildung: Experimentanordnung "Menüplan" in Phase 2. Aus: Roethlisberger/Dickson (1947/1939): 52



2.1.2.3 Hawthorne Experiments: Phase 3 (1931-1932)

Elton Mayo, der Projektleiter, war ein enger Freund von Bronislaw Malinowski und A. R. Radcliffe-Brown. Diese haben ihm die Einbindung von Anthropologen angeraten, um über teilnehmende Beobachtung die soziale Organisation der Arbeitsgruppen zu erkunden und konkret William Lloyd Warner empfohlen. Warner hatte zu dem Zeitpunkt gerade drei Jahre Feldforschung über die Sozialstruktur der australischen Murngin hinter sich (Patterson 2001: 73f).

William Lloyd Warner hat das Konzept für das Beobachtungssetting entworfen und die Forschergruppe methodisch angeleitet und beraten (Roethlisberger/Dickson 1947: 389, FN 1).

Eine Gruppe von 14 Personen (Männer) wurde in einem Raum isoliert und von November 1931 bis Mai 1932 (teilnehmend) beobachtet. In diesem Experiment wurde getestet, wie die kollektive Arbeitsleistung der Gruppe zustande kommt. Das Abgeltungssystem, das sich aus Stundenlohn und Akkordzuschlägen zusammensetzte, war vom Management so designed, dass es den Individuen möglichst hohen Anreiz für individuelle Höchstleistungen bot.

Ergebnisse:

1. Das Management registrierte kontinuierlichen, gleich bleibenden Output.

2. Die Forscher konnten durch die lang andauernde Beobachtung zeigen, dass die Zahl der hergestellten Stücke tatsächlich täglich sehr verschieden war, aber die Arbeiter in ihren Meldungen entweder unter- oder übertrieben haben, um sie konstant zu halten. Insgesamt konnte belegt werden, dass "Each individual in the group was restricting his output" (Roethlisberger/Dickson 1947: 445). Dadurch konnte gezeigt werden:

3. Es existiert eine informelle Organisation der Arbeiter und diese steht in erheblichem Kontrast zu den formalen, vom Management vorgegebenen Regeln. Diese informelle Organisation richtet sich vor allem gegen Anreizsysteme, deren Ziel es ist, den Output kontinuierlich zu erhöhen. Die informelle Organisation der Arbeiter erfüllt eine klare Funktion: "This function could be characterized as that of resisting change" (Roethlisberger/Dickson 1947: 548).

4. Die Arbeiter teilen also eine gemeinsame Vorstellung über einen Standard-Tagesoutput. Die Forscher haben diesen Vorstellungen die Rationalität abgesprochen und sie „sentiments“, also Gefühle genannt. Über den ethnographischen Zugang konnte der erste solide empirische Beleg für "informal organization" - was wir heute berufliche Subkultur oder Gegenkultur nennen würden - erbracht werden (Baba 2006: 87). Elton Mayo, der Projektleiter und Psychologe vertrat die Interpretation, dass die Ursache für die geteilte Vorstellung der Arbeiter über einen Standard-Tagesoutput in einer psychologischen Fehlanpassung (maladjustment) begründet wäre. Seiner Ansicht nach würden die Arbeiter nicht in Übereinstimmung mit den eigenen ökonomischen Interessen handeln (Wright 1994: 7f; Diel-Khalil/Götz 1999: 29f).



2.1.2.3.1 Eigenschaften der informellen Organisation der Arbeiter

Die informelle Organisationsstruktur der ArbeiterInnen lässt sich wie folgt charakterisieren:

  • Sie ist eng mit der technisch-instrumentellen Arbeitsorganisation und mit der formellen Managementstruktur verwoben.
  • Auch die informelle Organisation entwickelt Regeln, Hierarchien und ein funktionierendes Belohnungs- und Bestrafungssystem. Roethlisberger und Dickson (1947: 511ff) nennen eine ganze Reihe von Schimpfwörtern und Spitznamen sowie von nonverbalen Handlungen, mit denen Gruppenkonformität eingefordert wird.
  • Die Hierarchie innerhalb der informellen Organisation ist von den beteiligten Personen abhängig, und die Autorität ist an persönliche Eigenschaften und nicht an formelle Rollen gebunden.
  • Sie baut auf persönlichen Freundschaften und Verwandtschaftsbeziehungen auf, die sich dem Zugriff expliziter Verhaltensanordnungen durch das Management entziehen.
  • Informelle Strukturen können nicht vollständig von der Organisationsleitung geplant, gesteuert und kontrolliert werden. Sie sind flexibler und oft auch organisationsübergreifend (Gewerkschaften).
Abbildung: Zuneigung und Abneigung im Bank Wiring Observation Room. Aus: Roethlisberger/Dickson (1947/1939: 507)



2.1.2.4 Würdigung und Kritik

Die Hawthorne Experiments wurden 1932, als die Western Electric in Folge der Weltwirtschaftskrise in Konkurs ging, eingestellt.

Eine Zusammenfassung der Hawthorne Experiments wurde erstmals 1939 von Fritz Roethlisberger und William Dickson (Roethlisberger/Dickson 1947 (1939)) publiziert. Die Anordnung der Experimente, die Interview- und Beobachtungsmethoden, sowie die Ergebnisse wurden unter dem Titel "Management and the Worker. An Account of a Research Program Conducted by the Western Electric Company, Hawthorne Works, Chicago" detailreich dokumentiert.

Der Einsatz kultur- und sozialanthropologischer Methoden in der letzten Phase der Hawthorne Experiments führte zu wichtigen Erkenntnissen, die aus der Organisationsforschung nicht mehr weg zu denken sind (vgl.: Gamst/Helmers 1991: 33ff; Baba 2006: 86f).

Von besonderer Bedeutung ist die Entdeckung der informellen Organisation der ArbeiterInnen, die sehr unterschiedlich strukturiert sein kann, die aber in jedem Fall existiert.

Diese Entdeckung stand in starkem Kontrast zu den von Taylor geprägten Management- Theorien der damaligen Zeit. Taylor ging davon aus, dass die ökonomischen Akteure Individuen wären, die den maximalen Eigennutzen verfolgen. Dies träfe auch auf jeden Arbeiter, jede einzelne Arbeiterin zu. Das Management müsse die Belohnungsstrukturen nur so setzen, dass jede/r einzelne ArbeiterIn zur maximalen Anstrengung angeregt wird und gleichzeitig auch die langsameren KollegInnen mitzieht, dann lasse sich optimaler Gewinn für das Gesamtunternehmen erreichen. Die Beobachtungsphase im Bank Wiring Observation Room zeigte hingegen, dass die Arbeiter nicht als Individuen auf Anreize reagierten, sondern als Gruppe. Darüber hinaus hatten die Arbeiter "... developed their own informal theory of management that was based on distrust of managers, not on an interest in economic gain" (Baba 2006: 87).

Kritik an den Hawthorne-Studien gab es fallweise schon in den 1940er Jahren, massiv ab Ende der 1950er Jahre:

  • Das Handeln der Arbeiter habe sehr wohl eine Logik: eine höhere Durchschnittsleistung führt früher oder später zur Anhebung der Gesamtdurchschnittsleistung, die für das Grundgehalt erwartet wird. Akkordzuschläge setzen dann auf einem höheren Niveau an.
  • Die Studie habe somit einen top-down Approach: Die Forscher standen klar auf Seiten des Managements und hielten nur deren Zugang für rational. Die Hawthorne Experiments zielten explizit darauf ab, Mittel und Wege zu finden, um die Arbeitsleistung der ArbeiterInnen zu erhöhen (Wright 1994: 8).
  • Auf methodischer Ebene wurde der massive Einfluss von Forschern und Management auf die Datengewinnung und - Interpretation bemängelt. Erhobene Daten, die sich nicht mit den Konzepten der Forscher vereinbaren ließen, blieben in der Interpretation unberücksichtigt. Es wurden sogar zwei Arbeiterinnen, die in Phase 2 nicht kooperieren wollten, d.h. ihren Output nicht erhöhten, entlassen (Gamst/Helmers 1991: 31f; Baba 2006).

In der kultur- und sozialanthropologischen Rezeption des Bank- Wiring- Observation-Room Experiments wird immer wieder betont, dass Warner die 14 beobachteten Männer wie eine kleine Gesellschaft behandelt hat, in der jeder Aspekt des Lebens zu einem sozialen System verknüpft ist. Warner brachte damit die Methode der teilnehmenden Beobachtung und den Funktionalismus von Malinowski sowie den Strukturfunktionalismus von Radcliffe-Brown in die Organisationsforschung ein (Gamst/Helmers 1991: 28; Wright 1994: 7).

Dem wird entgegengesetzt, dass die Fabrik aber kein geschlossenes, von der Gesamtgesellschaft isolierbares Ganzes sei. Man muss der Hawthorne- Publikation "Management and the Worker" (1939/1947) allerdings zugute halten, dass die Forscher dies sehr wohl gesehen haben. In ihrer Zusammenfassung verweisen sie auf viele Fragen, die auf Basis ihrer Erhebungen nicht beantwortbar sind, weil die ArbeiterInnen nur einen Teil ihrer Lebenszeit in der Fabrik verbringen und auch ihre privaten Umstände Einfluss auf das Verhalten während der Arbeit haben. Darüber hinaus stellen Roethlisberger und Dickson mehrfach klar, dass viele Ängste und Befürchtungen, die von den ArbeiterInnen geäußert wurden, in unmittelbarem Zusammenhang mit der globalen wirtschaftlichen Situation der damaligen Zeit, insbesondere der Weltwirtschaftskrise zu sehen sind. Ein Teil der Kritik, die an den Hawthorne Experiments immer wieder geäußert wurde, ist daher durchaus unfair.

Trotz aller Kritik gelten die Hawthorne Experiments bis heute als „eine der einschneidendsten Organisationsstudien und als Geburtsstunde der Human- Relations-Bewegung“ (Diel-Khalil/Götz 1999: 28).

2.1.3 Human Relations Movement

Das Human Relations Movement (HRM) ging unmittelbar aus den Hawthorne Experiments hervor und formierte sich zuerst an der Harvard School of Business Administration. Diese Bewegung steht einerseits für eine bestimmte wissenschaftliche Ausrichtung innerhalb der Industriesoziologie, andererseits versuchte sie explizit auch Lösungen für Unternehmen und Betriebe zu erarbeiten und auf das Management von Fabriken einzuwirken. Die VertreterInnen des Human Relations Movements verstanden sich selbst als Gegenbewegung zum Taylorismus, der optimale Arbeitsergebnisse ausschließlich als Ergebnis der Verbesserung der technischen und prozessablaufbedingten Rahmenbedingungen sah. Sie plädierten für eine Verbesserung der Motivation der ArbeiterInnen über eine Verbesserung ihrer sozialen Rahmenbedingungen. Aber genau so wie der Taylorismus sah sich auch das HRM als Unterstützung des Managements und wollte diesem dazu verhelfen, die Arbeitseffizienz der ArbeiterInnen zu erhöhen. Beide hatten eine Steigerung des Outputs im Sinn (Marshall 1998: 288f).

Foto: Hemdenfabrik. Aus: Zischka 1944: 325

Die Human Relations Bewegung war keine in sich geschlossene Schule, doch mehrere Annahmen wurden von allen geteilt:

  • Gemeinsame Basis war eine funktionalistische Gleichgewichtstheorie, die Organisationen als integrierte soziale Systeme betrachtete. Alle Teile wirken harmonisch zusammen um ein reibungslos funktionierendes Ganzes zu gewährleisten. Jedes Individuum hat seinen optimalen Platz und seine bestimmte Aufgabe in dieser funktionierenden Organisation. Auseinandersetzungen zwischen Management und ArbeiterInnen sind daher etwas Pathologisches, das das harmonische Zusammenwirken beeinträchtigt und das daher korrigiert werden muss. Die einzelnen Sozialwissenschaften können helfen heraus zu finden, was an der Interaktionsstruktur oder an einzelnen Personen dysfunktional ist und dem Management Ratschläge geben, wie das Gleichgewicht wieder erreicht werden kann. Ziel war dabei immer eine harmonische Management-ArbeiterInnen Beziehung mit dem Ergebnis einer maximalen Effizienz und Produktivität (Baba 2006: 87f).
  • Informelle Muster der Interaktion erzeugen Erwartungen und Zwänge, die nicht einfach mit Verweis auf die formale Organisationsstruktur oder dem finanziellen Belohnungssystem erklärt werden können.
  • Die Ansichten, Verhaltensweisen und Werte der ArbeiterInnen werden von diesen aus Nicht-Arbeitskontexten in die Firma mitgebracht und nehmen Einfluss auf die Weise, wie sie über sich selbst und die Organisation, in der sie beschäftigt sind, denken (Parker 2000: 32).

Im interdisziplinären Umfeld des HRM wurden zahlreiche Studien durchgeführt, die zur Etablierung der neuen Subdisziplinen Industriepsychologie (Elton Mayo), Industriesoziologie (Talcott Parsons) und der Industrieanthropologie (William Lloyd Warner) beitrugen. Die Suche nach erfolgreichen Managementmethoden, um die Arbeitszufriedenheit zu erhöhen und damit auch die Produktivität der ArbeiterInnen, wurde von einigen so explizit in den Vordergrund gestellt, dass die ganze Bewegung von Fachkollegen scherzhaft als "Cow Sociology" abgetan wurde, da ihre Grundannahme dem Sprichwort entspräche "Zufriedene Kühe geben die meiste Milch" (Marshall 1998: 289).

Marietta Baba weist auf die enge Verbindung der Human Relations Bewegung mit dem amerikanischen Wohlfahrtskapitalismus hin: "Not coincidentally, the Human Relations School often is associated with welfare capitalism, and with a tendency in managerial thought and action to resist unionization of the workforce" (Baba 2006: 88).

Die Vertreter der Human Relations Bewegung weisen dem gegenüber vehement darauf hin, dass die Fabriksstudien wesentlich mehr Ergebnisse brachten als eine Unterstützung des Managements, um die ArbeiterInnen glücklicher und gleichzeitig effizienter zu machen. Sie entdeckten auch die Bedeutung von Entfremdung, von Eigeninitiative und Spontanität für ArbeiterInnen wie Management und deren Implikationen für soziale Veränderungsprozesse (Arensberg 1987: 65).



2.1.3.1 Pareto Circle

In den 1930er Jahren traf sich in Harvard regelmäßig eine Gruppe von Wissenschaftern und Industriellen, um gemeinsam zu essen und anstehende Fragen zu diskutieren. Sie nannten sich „Pareto Circle Dining Club" und befassten sich ausgehend von den Hawthorne Experiments, in die einige von ihnen involviert waren, mit Problemen der sozialen Organisation der Arbeitswelt sowie mit den Möglichkeiten des Managements in die informellen Organisationsprozesse unter den ArbeiterInnen einzugreifen. Mitglieder dieser Runde waren u.a.: Elton Mayo, Talcott Parsons, Robert Merton, George Homans, Fritz Roethlisberger, Chester Barnard.

Martin Parker (2000: 32) hält den Einfluss dieser interdisziplinär zusammen gesetzten Gruppe von Wissenschaftern und Praktikern auf die Entwicklung der Organisationstheorie des 20. Jahrhunderts für substantiell.

Kultur- und SozialanthropologInnen oder VölkerkundlerInnen werden vor allem im deutschsprachigen Raum immer wieder mit Meinungen konfrontiert, die den Gegenstandsbereich der Disziplin auf nicht- industrialisierte, außer-europäische Gesellschaften beschränkt wissen wollen. Das sind Positionen, für die zutrifft, was Anthony Giddens feststellte, nämlich, dass damit dem Fach im 20. Jahrhundert der Gegenstand abhanden gekommen sei (Giddens 1995). Dem ist entgegenzuhalten, dass SozialanthropologInnen bereits in der Konsolidierungsphase der modernen Sozialwissenschaften methodisch wie theoretisch beteiligt waren. Ein Beispiel dafür ist der Pareto Circle in Harvard, von dem die Initiative für das Human Relations Movement ausging.



2.1.3.1.1 Vilfredo Pareto

Vilfredo Pareto (1848-1923): italienischer Ökonom und Sozialtheoretiker, für den das subjektive Entscheidungsverhalten der ökonomischen Akteure zentral war. Nach ihm ist das "Pareto-Prinzip" der Wohlfahrtsökonomik benannt, das auch die ethische Maxime der Human Relations Bewegung ist: Jede Handlung des Managements ist dann gut, wenn sie mindestens einer Person nützt und niemandem schadet.

Internet: Vilfredo Pareto [1]

Verweise:
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Vilfredo_Pareto



2.1.3.1.2 Elton Mayo

Elton Mayo (1880-1949): Australier, der an der Harvard University als Leiter der Hawthorne Experiments zum Begründer der Industriepsychologie wurde. Ging, wie seine Freunde Malinowski und Radcliffe-Brown von einem funktionalistischen, harmonistischen Gesellschaftsbild aus. Mitinitiator der Human Relations Bewegung.

Internet: Elton Mayo [1]

Verweise:
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Elton_Mayo



2.1.3.1.3 Robert Merton

Robert Merton (1910-2003): Soziologe und Begründer der Wissenschaftssoziologie, Studien zur Institutionalisierung und Professionalisierung von Wissenschaft; Zentralfigur in Bezug auf die Ausformulierung der qualitativen Methoden in der Soziologie, unter anderen auch stark von Paul Lazarsfeld beeinflusst.

Internet: Robert Merton[1]

Verweise:
[1] http://www.faculty.rsu.edu/~felwell/Theorists/Merton/



2.1.3.1.4 Talcott Parsons

Talcott Parsons (1902-1979): Primär theoretisch arbeitender Soziologe und dominante Figur der US-Soziologie der Nachkriegsjahre; hat die Ansätze Emil Durkheims und Max Webers in die USA gebracht, und strukturfunktionalistische und systemtheoretische Modelle entworfen. Einfluss auf Robert Redfield, Clifford Geertz und David Schneider.

Internet: Talcott Parsons[1]

Verweise:
[1] http://de.wikipedia.org/wiki/Talcott_Parsons



2.1.3.1.5 Chester Barnard

Chester Barnard (1886-1961): Industrieller und Manager mit starkem Interesse an vergleichender Organisationsforschung, sah Organisationen als kooperative Systeme. Dies stand in scharfem Kontrast zu vorhergehenden autoritären Zugängen und Regelsichten.

Internet: Chester Barnard [1]

Verweise:
[1] http://de.wikipedia.org/wiki/Chester_Barnard



2.1.3.1.6 George Homans

George Homans (1910-1989): Soziologe, Wirtschafts- und Verwandtschaftsethnologe, Formalist und bekannt für seine Kritik an Lévi-Strauss gemeinsam mit David Schneider; regte die Manchester Shop Floor Studies an. Sehr ungewöhnliche Karriere, schaffte es mit einem BA in englischer und amerikanischer Literatur (und dem Onkel) zum Harvard Professor für Soziologie.

Internet: Tilly, Charles. 1990. George Caspar Homans and the Rest of Us. Theory and Society. 19(3): 261-268.[1]

Verweise:
[1] https://www.jstor.org/stable/657695



2.1.3.1.7 Fritz Roethlisberger

Fritz Roethlisberger (1898-1974): Sozialwissenschafter, publizierte 1939 gemeinsam mit Dickson die Hawthorne Experiments; später an der Harvard Business School im Bereich der Managementwissenschaften tätig.

Internet: Fritz Roethlisberger[1]

Verweise:
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Fritz_Roethlisberger

2.1.4 1940er bis Mitte der 1960er Jahre in den USA

In der zweiten Hälfte der 1930er Jahre wurden nur wenige Studien in Auftrag gegeben oder durchgeführt, die der Industrieanthropologie zugeordnet werden können. Dies änderte sich mit dem Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg 1941. Die Produktivität wurde enorm angekurbelt und neue Konflikte zwischen Arbeiterschaft und Management entstanden. Es ging nun aber nicht mehr um Erhöhung oder Sicherung des Profits einzelner Firmen, sondern um die Aufrechterhaltung der nationalen Sicherheit (Baba 2006: 88). Eine ganze Gruppe von Industrieanthropologen, fast alle Schüler von William Lloyd Warner, wurde mit Studien beauftragt. Dazu gehören Conrad Arensberg, Elliot Chapple, Burleigh Gardner, Robert Guest, Solon Kimball, Frederick Richardson, Leonard Sayles und William Foote Whyte. Sie alle sind der Human Relations Bewegung zuzuordnen und untersuchten nun ArbeiterInnen und Management gleichermaßen, "with the goal of discovering factors and forces that could be manipulated to achieve an equilibrium state in the organizational system (that is, the elimination of conflict)" (Baba 2006: 88).

1941 wurde die „Society for Applied Anthropology“ von fast allen Schülern von Lloyd Warner, insbesondere Conrad Arensberg und Eliot Chapple gegründet. Die Gesellschaft gab die Zeitschrift "Applied Anthropology" heraus, die später in "Human Organization" umbenannt wurde (Partridge/Eddy 1978: 38f). Der Zeitpunkt der Gründung dieser Gesellschaft war kein Zufall: This stage in the development of applied anthropology started in the national crisis caused by the Great Depression and concludes in the crisis of war. The intensification of involvement in application caused by World War II is astounding. Mead (1977) estimates that over 95 percent of American anthropologists were involved with work in support of the war effort during the 1940s. (van Willigen 1986: 26)

In den 1940er und 1950er Jahren wurde daher eine Reihe von Studien über technischen Wandel, über die soziale Organisation der Arbeit in Fabriken, über Belohnungssysteme und deren Auswirkungen auf die Produktivität der ArbeiterInnen durchgeführt. Einige davon waren sehr feinkörnige und genaue Ethnographien, das ist eine Stärke der Humans Relations School.

Foto: Western Electric Assembly Line HAWTHORNE WORKS CHICAGO August 1945 Quelle



2.1.4.1 Beispiele für Untersuchungsfelder

Von einer ersten Blütezeit der Industrial Anthropology – wie sie damals vorwiegend genannt wurde – kann in den USA zwischen 1940 und Anfang der 1960er Jahre gesprochen werden. Eine große Zahl von Studien ist insbesondere im Umfeld von Chicago und Harvard erschienen, die meisten davon von Schülern Lloyd Warners.

Beispiele für konkrete Themen von Studien aus dieser Zeit:

  • Beziehungsstrukturen zwischen leitendem Personal, KellnerInnen, KöchInnen und Gästen in alteingesessenen Restaurants in Chicago (William Foote Whyte)
  • Werkmeister bzw. Vorarbeiter als Personen, gefangen in ihrer Rolle zwischen FließbandarbeiterInnen und höherem Management (Burleigh Gardner, W.F. Whyte)
  • Technischer Wandel am Fließband bei IBM (Frederick Richardson)

An diesen Studien wurde kritisiert, dass der ökonomische, soziale und politische Kontext zuwenig berücksichtigt wurde. Technologien und Eigentumsverhältnisse wurden als Konstanten gesehen und nicht hinterfragt, genau so wenig wie die asymmetrischen Machtverhältnisse in den Fabriken.

Trotzdem sind drei wichtige Ergebnisse festzuhalten, die heute aus der Organisations- und Betriebsanthropologie nicht mehr wegzudenken sind:

  • Verfeinerung und Diversifizierung des Konzepts der informellen Organisationsstruktur;
  • Konzepte des Organisationsklimas und -Charakters, die teilweise als Vorläufer der späteren Organisationskulturansätze gesehen werden können;
  • Methodisch die teilnehmende Beobachtung, aber auch andere spezifizierte Beobachtungsverfahren und der holistische Zugang, die sich immer wieder als enorm fruchtbar erwiesen haben.



2.1.4.2 Theoretische Schwerpunkte

Foto: Filiale einer großen Fastfoot-Kette (© Gertraud Seiser, 2007)

Auf theoretischer Ebene versuchte man Modelle zu entwickeln, die den formalen und den informellen Bereich in Organisationen verbinden. Das Konzept des Organisationsklimas und - Charakters entstand. Es schließt das Verhalten von Organisationsmitgliedern in formaler wie informaler Weise mit ein und umfasst den Führungsstil und die Weiterentwicklung der gesamten Belegschaft. Das Organisationsklima wurde dabei oft ähnlich gesehen, wie ab etwa 1980 die „Organisationskultur“.

Kulturellen Phänomenen wie z.B. den Mythen über Firmengründer, Symbolen der Identität und Zugehörigkeit aber auch der Abgrenzung im offiziellen wie im inoffiziellen Kommunikationsverhalten zwischen Management und Belegschaft wurde zunehmend mehr Aufmerksamkeit geschenkt.



2.1.4.3 Methodische Weiterentwicklungen

Alle Studien dieser Zeit beruhten auf Feldforschung mit mehr oder minder teilnehmender Beobachtung von kleinen, informellen Gruppen und von Netzwerken in großen Institutionen und Unternehmen. Die Einheiten, die für eine Feldforschung ausgewählt wurden, diversifizierten sich. Es war nicht mehr unbedingt ein einzelner Betrieb, der beforscht wurde, sondern z.B. Berufsgruppen, Statusgruppen oder mehrere kleine Familienbetriebe auf einmal. Untersucht wurden Ärzte, Ingenieure, PatientInnen, ArbeiterInnen, Management etc. Gerade die Erforschung der kulturellen Unterschiede zwischen den verschiedenen Berufs- und Statusgruppen und die daraus folgenden Dynamiken stellten laut Arensberg (1987: 60ff) das theoretische und empirische Potenzial der Kultur- und Sozialanthropologie unter Beweis.

Hence, social science discovered in that early anthropological fieldwork of modern culture not only some psychology of industrial morale, incentive, and productivity (or alienation and impersonalization, if you prefer) but also important dynamics of large- scale human organization. (Arensberg 1987: 65)

Auf empirischer Ebene wurden Malinowkis Feldforschungsansatz mit teilnehmender Beobachtung und holistischem Zugang zum Markenzeichen der Industrieanthropologie. Er ist das, was die meisten OrganisationsforscherInnen aus anderen Disziplinen von der Ethnologie wissen und was sie für wichtig halten (Diel- Khalil/Götz: 20ff, 34).

  • Beobachtung: Die üblichen Interviewverfahren und Fragebogenerhebungen erfassen, was über Sprechen zugänglich ist. Menschen handeln aber oft anders als sie sprechen. Sie können sich dabei dessen bewusst sein oder auch nicht – so ist z.B. aus den Interviews in den Hawthorne Experiments nicht hervorgegangen, dass die Arbeiter ihre Arbeitsergebnisse manipulieren, das konnte erst durch genaue teilnehmende Beobachtung festgestellt werden.
  • Holismus: Die klassischen qualitativen und quantitativen Methoden sind hypothesengesteuert. Sie gehen von bestimmten Annahmen aus, die sie testen wollen. In einem holistischen Ansatz ist das nicht der Fall. Die/der Forscher/in versucht alles, was ihm oder ihr auffällt zu registrieren und zu notieren. Dabei sollen keineswegs nur die spektakulären Ereignisse aufgezeichnet werden, sondern besonders auch die Alltagshandlungen. Daraus ergeben sich neue Zusammenhänge und Rückschlüsse auf die Struktur des Ganzen.

Elliot Chapple, Conrad Arensberg und andere Anthropologen dieser Zeit haben sich insbesondere auf die detaillierte und strukturierte Beobachtung spezialisiert. Die beobachteten Interaktionen wurden minutiös aufgezeichnet, und Chapple forderte, ArbeiterInnen, Manager und andere soziale Gruppen genau so zu beobachten, wie der Naturforscher das Verhalten von Tieren in freier Wildbahn (Richardson 1987: 99; Baba 2006: 89). Qualitative und quantitative Zugänge wurden kombiniert, insbesondere in der "interactional analysis" versuchte man, quantifizierbare Kriterien zur Messung von menschlichen Interaktionshandlungen zu entwickeln (Jordan 2003: 11). Baba (2006: 89) sieht darin die Vorläufer der späteren Technik der Videoanalysen von Arbeitsplatzinteraktionen. Arensberg selbst (1987: 61) sah die methodischen Innovationen von Warner, Chapple, Kimball und sich selbst als Vorläufer der späteren Netzwerkanalyse.

2.1.5 1960er und 1970er Jahre: Einfluss der Ethikdebatte auf die Industrial Anthropology

Hatte es zu Beginn der 1960er Jahre noch so ausgesehen, als würde sich die industrial anthropology als bedeutendes Teilgebiet der Anthropologie an Universitäten etablieren, so spricht Baba (2006: 90) von einem starken Rückgang, Ann Jordan (2003: 14ff) sogar von einem Schließungsprozess der Anthropologie gegenüber Unternehmen. Der wichtigste Grund für diesen Rückzug waren ethische Fragen.

Marietta Baba (2006: 90ff) nennt aber weitere Gründe für den Niedergang der industrial anthropology in den 1960er Jahren:

  • Veränderungen im akademischen Umfeld: Der wirtschaftliche Aufschwung brachte auch mehr Geld für die Forschung. Feldforschungsstipendien und Reisemittel führten zu mehr Feldforschung außerhalb der USA, und Feldforschung im eigenen Land verlor damit innerhalb des Faches an Prestige. Die von William Lloyd Warner ausgebildeten Industrieanthropologen gingen entweder ganz in die Privatwirtschaft (wie Burleigh Gardner oder Eliot Chapple) oder erhielten Professuren an Business Schools (wie Frederick Richardson, William Foote Whyte oder Leonard Sayles). Sie bildeten jedenfalls keine neuen SchülerInnen innerhalb der Kultur- und Sozialanthropologie aus.
  • Veränderungen in der sozialwissenschaftlichen Theorienbildung: Die Human Relationsbewegung konnte die Veränderungen in der amerikanischen Gesellschaft nicht mehr erklären. Mit ihrem Management-Bias und harmonistischen Modellen hatte sie keinen Zugang und keine Erklärung für die erstarkenden Gewerkschaften.

Eine Befassung mit industriellen Prozessen erfolgte ab etwa 1960 in drei neuen Feldern:

  • Marxistische und neomarxistische Kritik des Industriekapitalismus in und außerhalb der USA;
  • Ethnographien über einzelne Berufsgruppen und Beschäftigungsfelder;
  • Untersuchung der Industrialisierungsprozesse in den Ländern der Dritten Welt.

Ab Mitte der 1960er Jahre wurde die akademische Kultur- und Sozialanthropologie in den USA von einer heftigen Ethikdebatte erschüttert (vgl. Patterson 2001: 123ff). Auslöser waren das Project Camelot und das Thailand Project, die beide in unmittelbaren militärischen Zusammenhängen standen. Diese Ethikdebatte erschütterte auch deswegen die Disziplin so stark, weil alle wesentlichen FachvertreterInnen und Institute in der 1902 gegründeten American Anthropological Association (AAA) organisiert sind und die Ethikdebatte auf den jährlichen Tagungen und in den Publikationen der AAA ausgetragen wurde. 1971 verabschiedete die AAA die "Principles of Professional Responsibilities”, einen Ethik-Kodex, der gerade auf die industrial anthropology massive Auswirkungen hatte, da er Auftragsforschung mehr oder minder verunmöglichte.



2.1.5.1 Anlass

1964 schrieb das "Special Operations Research Office" (SORO) der US-Armee das Project Camelot aus. Die für die damalige Zeit unglaublich hohe Summe von 6 Mio. US Dollar sollte an sozialwissenschaftliche Forschung gehen, für Studien, deren Ziel es war, Armeeinformationen über die Wahrscheinlichkeit interner Revolutionen in Lateinamerika zu liefern. Das Projekt wurde nach dem energischen Protest Chiles zurückgestellt. Die Möglichkeit, dass sich AnthropologInnen in Geheimdienstrecherchen engagieren könnten, schockte die gesamte Profession. Die ethische Maxime, den Menschen, die man untersucht, nicht zu schaden, war damals bereits Mehrheitskonsens im Fach (van Willigen 1986: 49f).

1968 erschien ein Stellenangebot der US-Regierung in Publikationen der American Anthropological Association, in dem ein/e AnthropologIn gesucht wurde um in Vietnam die "Feindpropaganda" und die US-Gegenpropaganda zu evaluieren. Das führte zum Aufruhr in der AAA und löste eine massive Ethikdiskussion aus, vor allem als dann 1970 noch bekannt wurde, dass Anthropologen in Thailand zwischen 1967 und 1969 kriegsbezogene Feldforschungen durchgeführt haben (Jordan 2003:15; van Willigen 1986: 50f).

Die AAA setzte eine Ethikkommission ein und 1971 wurde ein sehr strikter Ethik- Kodex verabschiedet, die "Principles of Professional Responsibilities”.



2.1.5.2 “Principles of Professional Responsibilities”

Die 1971 beschlossenen “Principles of Professional Responsibilities” enthielten zwei Bestimmungen, die AnthropologInnen von Forschungen in Betrieben etwa 10 Jahre lang abhielten: “... no reports should be provided to sponsors that are not available to the general public. ... The anthropologist ... should enter into no secret agreement with the sponsor regarding the research, the results or the final report” (Jordan 2003: 15).

Egal ob eine Firma eine Studie direkt in Auftrag gibt und bezahlt, oder ob sie die Untersuchung dem/der AnthropologIn nur gestattet, sind Restriktionen darüber, was wann und in welcher Form publiziert werden darf, üblich. Eine Forschungsgenehmigung[1] wird in der Regel nur unter bestimmten Auflagen erteilt und ohne Forschungsgenehmigung ist es nicht möglich, in Organisationen Feldforschungen durchzuführen.

Mit ethischen Vorgaben, die sich gegen die Mitarbeit von AnthropologInnen in Geheimdiensten, militärischen und paramilitärischen Einheiten außerhalb der USA richteten, wurde daher auch die Forschung im privatwirtschaftlichen Sektor und öffentlichen Einrichtungen im Land selbst stark beeinträchtigt. Dieser Effekt war nicht gewollt.

Zu Beginn der 1980er Jahre wurden daher die Principles of Professional Responsibility neu debattiert und dahingehen abgemildert, dass Auftragsforschung wieder möglich wurde, sofern sie nicht mit Geheimdienstarbeit oder der Armee in Zusammenhang steht.

Inzwischen verfügen alle größeren Berufsorganisationen in der Anthropologie über ausformulierte ethische Richtlinien. Der derzeit gültige Ethik-Kodex der AAA steht unter folgendem Link zur Verfügung: Ethik-Kodex der AAA[2]

Foto: Offener Zugang? (© Gertraud Seiser, 2007)

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 6.3.1.2
[2] http://ethics.americananthro.org/

2.1.6 Weiterführende Literatur und Quellen

Arensberg, Conrad M.

1987 Theoretical Contributions of Industrial and Development Studies. In: Elizabeth M. Eddy and William L. Partridge (eds.), Applied Anthropology in America; pp. 59-88. New York: Columbia University Press

Baba, Marietta L.

2006 Anthropology and Business. In: H. James Birx (ed.), Encyclopedia of Anthropology; pp. 83-117. Thousand Oaks: Sage Publications

Bourdieu, Pierre

1982 Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp

Diel-Khalil, Helga, und Klaus Götz

1999 Ethnologie und Organisationsentwicklung. 2. Auflage. München: Rainer Hampp Verlag (Management-Konzepte, 3)

Easton, John

2001 Consuming Interests: The University of Chicago Magazine

Eddy, Elizabeth M., und William L. Partridge (eds.)

1987 Applied Anthropology in America. New York: Columbia University Press

Gamst, Frederick C., und Sabine Helmers

1991 Die kulturelle Perspektive und die Arbeit: Ein forschungsgeschichtliches Panorama der nordamerikanischen Industrieethnologie. Zeitschrift für Ethnologie 116: 25-41.

Geertz, Clifford

1973 The Interpretation of Cultures: Basic Books
1987 Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt a. M.: Suhrkamp

Giddens, Anthony

1995 Epiloque: Notes on the Future of Anthropology. In: Akbar Ahmed and Cris Shore (eds.), The Future of Anthropology; pp. 272-277. London: The Athlone Press

Goldschmidt, Walter

1950 Social Class in America - A Critical Review. American Anthropologist 52: 483-498.

Götz, Irene

2000 Unternehmensethnographie. Bemerkungen zur Debatte um Kultur(alisierung) und zur kulturwissenschaftlichen Betrachtungsperspektive. In: Irene Götz and Andreas Wittel (eds.), Arbeitkulturen im Umbruch. Zur Ethnographie von Arbeit und Organisation; pp. 55-74. Münster; New York; München; Berlin: Waxmann

Götz, Irene, und Andreas Wittel (eds.)

2000 Arbeitkulturen im Umbruch. Zur Ethnographie von Arbeit und Organisation. Münster, New York, München, Berlin: Waxmann

Jahoda, Marie, Paul F. Lazarsfeld, und Hans Zeisel

1975 Die Arbeitslosen von Marienthal. Ein soziographischer Versuch über die Wirkungen langandauernder Arbeitslosigkeit. Frankfurt am Main: Suhrkamp

Jordan, Ann T.

2003 Business Anthropology. Long Grove, Illinois: Waveland Press

Marshall, Gordon (ed.)

1998 Oxford Dictionary of Sociology. Oxford, New York: Oxford University Press

Müller-Jentsch, Walther

2003 Organisations-Soziologie. Eine Einführung. Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag (Sozialwissenschaftliche Studienbibliothek, 1)

Parker, Martin

2000 Organizational Culture and Identity. Unity and Division at Work. London: Sage Publications

Partridge, William L., und Elizabeth M. Eddy

1987 Introduction: The Development of Applied Anthropology in America. In: Elizabeth M. Eddy and William L. Partridge (eds.), Applied Anthropology in America; pp. 3- 55. New York: Columbia University Press

Patterson, Thomas C.

2001 A Social History of Anthropology in the United States. Oxford, New York: Berg

Petermann, Werner

2004 Die Geschichte der Ethnologie. Wuppertal: Peter Hammer Verlag

Richardson, Frederick L.W.

1987 The Elusive Nature of Cooperation and Leadership: Discovering a Primitive Process that Regulates Human Behavior. In: Elizabeth M. Eddy and William L. Partridge (eds.), Applied Anthropology in America; pp. 97-122. New York: Columbia University Press

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1947 Management and the Worker. Cambridge, Mass.: Harvard Univ. Press

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2007 (1979) Anthropology at Chicago. Case 11: Getting to Know Modern Man. Chicago: The University of Chicago, Department of Anthropology

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1995 The Urban Wilderness: A History of the American City. Berkeley: University of California Press

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1947 The Social System of the Modern Factory: The Strike: A Social Analysis. New Haven: Yale University Press

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1987 Organizational Behavior Research: Changing Styles of Research and Action. In: Elizabeth M. Eddy and William L. Partridge (eds.), Applied Anthropology in America; pp. 571. New York: Columbia University Press

Wright, Susan (ed.)

1994a Anthropology of Organizations. London and New York: Routledge

1994b Culture in Anthropology and Organizational Studies. In: Susan Wright (ed.), Anthropology of Organizations; pp. 1- 31. London and New York: Routledge

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