Ethnographische Feldforschung in Organisationen/Spezifika

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Vorheriges Kapitel: 6.2 Erkenntnisgewinnung durch Feldforschung

6.3 Spezifika der Feldforschung in Organisationen

Verfasst von Gerlinde Schein und Gertraud Seiser

Der Prozess einer ethnographischen Forschung lässt sich ganz grob in folgende Abschnitte unterteilen:

1. Projektentwicklung und Vorbereitung;

2. Prüfung der Durchführbarkeit und des Zugangs;

3. "Ins Feld gehen" oder Studiendurchführung;

4. Aufbereitung der Daten und Auswertung;

5. Schriftliche Ausarbeitung und Publikation.

Entlang dieser sehr allgemeinen Phasen des Forschungsprozesses soll nun auf einige Spezifika der Feldforschung in Organisationen hingewiesen werden.

Foto: Der Ethnograf unter den Säulen der Alma Mater (© EASA Local Committee, Vienna Conference, 2004)


Inhalt


6.3.1 Projektentwicklung

Am Anfang eines Forschungsprojekts steht meistens eine Idee, ein Thema oder eine Frage, der man sich widmen möchte. Davon ausgehend muss dann ein mehr oder weniger ausgefeiltes Projektexposé oder ein Projektantrag entwickelt werden (allgemein dazu: Beer 2003b: 15ff). Dieses Projektkonzept hat fast immer mehrere Adressaten. Es geht dabei darum,

  • seine eigenen Fragestellungen zu entwickeln und sich über die Vorannahmen klar zu werden;
  • falls es eine universitäre Arbeit ist, den Erwartungen der BetreuerInnen oder anderer relevanter universitärer Gremien zu entsprechen;
  • falls die Forschung nicht zur Gänze selbst finanziert werden soll, sind die Anforderungen und Vorgaben möglicher Geldgeber zu berücksichtigen;
  • in vielen Fällen und bei Forschungen in Organisationen in allen Fällen, ist eine Forschungsgenehmigung erforderlich. Auch diese ist nur unter Vorlage eines Projektentwurfs zu erlangen;
  • die Menschen, die man zu beforschen vor hat, fordern ebenfalls Erklärungen über Ziele, Inhalte und Absichten des Forschungsvorhabens ein.

Egal wie umfangreich ein Projektentwurf ist, es ist nie möglich, alle Adressaten mit einem einzigen Papier zufrieden zu stellen. Der zentrale Punkt ist der Zugang zum Feld. Niemand kann einem z.B. verbieten, in einer österreichischen Kleinstadt ein Zimmer zu mieten, die öffentlichen Orte wie Wirtshaus oder Kirche aufzusuchen und dort mit Menschen Kontakte zu knüpfen. In der Literatur wird dieser Zugang als "hanging around" bezeichnet.

Foto: Claudia Grill bei der Kontaktaufnahme (© Gertraud Seiser, 2005 (Projekt KASS))

Zielt man allerdings auf die teilnehmende Beobachtung des Managements eines multinationalen Konzerns ab oder der informellen Arbeitsorganisation der ArbeiterInnen eines Mittelbetriebs, dann wird eine entsprechende Abklärung des Zugangs bereits im Vorfeld nötig sein. Wahrscheinlich scheitern mehr Forschungsprojekte am Zugang zum Feld als an der Organisation der erforderlichen Finanzierung. "For the ethnographer, adaptability to the circumstances is essential, since as Buchanan et al. (1988:56) remark, ’negotiating access for the purposes of research is a game of chance, not of skill’." (Hirsch/Gellner 2001: 5).



6.3.1.1 Forschungsgenehmigung

Im Zugang zu Organisationen sind jedenfalls formale Schranken zu überwinden.

Für die Vorbereitung heißt dies: ein Projekt nicht erst vollständig auszuarbeiten und dann um Genehmigung anzusuchen, sondern bereits die Grobideen der Firma vorzustellen, um eine Forschungsgenehmigung zu erhalten und dann am Konzept weiterzuarbeiten.

Auf drei Fragen sollte man vorbereitet sein:

  • Wie lässt sich zeigen, dass man selbst oder das Forschungsvorhaben der Organisation keine Kosten verursacht?
  • Was hat die Organisation davon? Welche Nutzenargumente lassen sich vorbringen?
  • Inwieweit kann man entkräften, dass der Organisation ein materieller oder ideeller Schaden entstehen könnte?

Brian Moeran (2005: 92ff), der in einem Unternehmen der japanischen Werbebranche Feldforschung betrieben hat, weist darauf hin, dass für den Zugang zur Geschäftswelt persönliche Netzwerke unumgänglich sind. Dies träfe nicht nur auf Japan zu. Man benötigt Kontakte in eine Organisation, seien diese nun professioneller oder privater Natur, es braucht jemanden, der oder die einen mit der Managementebene zusammenführt und jemanden, der oder die einen dort unter die Fittiche nimmt. Dieser persönliche Kontakt "bürgt" auch für die Schadensvermeidung. Das Kostenargument lässt sich entkräften, indem man eine eigene Finanzierung mitbringt. Nutzenargumente können symbolisches Kapital für die Firma sein und bis zu konkreten Beiträgen zur Problemlösung reichen. Unabhängig davon, was im Vorfeld ausverhandelt wurde, muss man sich darüber im Klaren sein, dass in fast allen Ethnographien von der Einforderung von Reziprozität durch die Organisation berichtet wird. In den meisten Fällen wird der Zugang zu einer Organisation im Vorfeld sehr genau ausverhandelt, klar geregelt und limitiert. Das betrifft oft weniger die Inhalte als methodische Aspekte - wo man sich bewegen darf, wobei keinesfalls zu stören ist, wie lange und wann man die MitarbeiterInnen für Interviews, Gespräche beanspruchen darf.



6.3.1.2 Ethikfragen

Jede wissenschaftliche Untersuchung, jede kultur- und sozialanthropologische Feldforschung ist mit ethischen Fragen und vor allem auch mit Verantwortung verknüpft. Die Weigerung, sich damit auseinanderzusetzen - v.a. wer die Ergebnisse wie verwenden kann - ist entweder naiv oder zynisch und kann auch sehr karriereschädigende Folgen haben. Um späteren Missverständnissen vorzubeugen, empfiehlt es sich daher, die ethischen Dimensionen eines Projekts bereits vor Feldforschungsbeginn mit dem Auftraggeber abzuklären und in der Forschungsgenehmigung schriftlich fest zu legen.

Heikle Fragen (besonders bei Auftragsstudien für Unternehmen):

1. “Informed consent” der Untersuchten: Die wichtigen Berufsvereinigungen der Kultur- und Sozialanthropologie fordern in ihren ethischen Richtlinien den "informed consent" der Untersuchten. Darunter versteht man die Information der Menschen, die interviewt und beobachtet werden sollen, über Inhalte und Ziele des Forschungsvorhabens. Die Information soll so weitgehend sein, dass diese bei ihrer Zustimmung zum "beforscht werden" in der Lage sind, etwaige Konsequenzen abzuschätzen.

2. Schadensvermeidung: Jede Untersuchung soll grundsätzlich so angelegt werden, dass den Untersuchten dadurch kein Schaden entsteht. Sehr schwierig ist in diesem Zusammenhang die Anonymisierung von InterviewpartnerInnen oder Ereignissen, da eine einfache Umbenennung der Personen in vielen Fällen nicht ausreicht.

3. Verwertung der Ergebnisse: Verwertungsrechte sollten jedenfalls formell geklärt werden, was aber oft nicht davor schützt, wie Ergebnisse einer Untersuchung genutzt werden und wer sie wozu in Zukunft verwendet. Oft ist nicht abschätzbar, was passiert, wenn man z.B. beschreibt, dass ArbeiterInnen anders handeln als es die betrieblichen Richtlinien verlangen. Das Management kann verbessern oder bestrafen. Sehr heikel sind auch Grenzverletzungen, die fast unvermeidbar sind, wenn jemand mit den Menschen arbeitet, die er oder sie untersucht. Wie soll man als ForscherIn mit Informationen umgehen, die man als KollegIn und FreundIn, aber niemals als Forscherin erhalten hat?

Foto: Projektpräsentation (Lisa Anderl) vor der untersuchten Gemeinde (© Matthias Hartl, 2005 (Projekt KASS))

Ethische Probleme ergeben sich in fast jeder anthropologischen Forschung: Bewusstsein und Sorgfalt sind wichtig.


6.3.2 Abtesten des Projektes

You arrive, tape recorder in hand, with a grin rigidly planted on your face. You probably realize that you have no idea how the grin is being interpreted, so you stop and nervously attempt a relaxed pose. Then you realize that you have no idea how that is being interpreted. Soon you work yourself into the paralysis of the psychiatrist in a strip joint - she knows she can’t react, but she also knows she can’t not react. It is little wonder that people sometimes hide in a hotel room and read mysteries. (Agar 1996: 133)

Zwischen der Konzeptentwicklung, der Erledigung der notwendigen Formalitäten und der Feldforschung selbst - mit fließenden Übergängen in beide Richtungen - liegt eine Zwischenphase, die einerseits noch zur Vorbereitung gehört, andererseits bereits Teil der Feldforschung selbst ist. Insbesondere bei aufwändigen Forschungsvorhaben lohnt es sich, einen Vorabbesuch im Feld zu machen, um für die eigentliche Feldforschung noch Vorbereitungen treffen zu können. Die Forschungsgenehmigung ist entweder mit Behörden oder dem verantwortlichen Management vereinbart, es bedarf nunmehr auch einer erfolgreichen Kontaktaufnahme mit den Menschen, die man beforschen will. Auch hier gilt es, sich mit der Situation vertraut zu machen, die "gate keepers" ausfindig zu machen, die vorbereiteten Methoden zu testen und gegebenenfalls Adaptionen vorzunehmen. In Organisationen inkludiert dies fast immer eine Projektpräsentation vor der Belegschaft.

Eine Pause zwischen der ersten Kontaktaufnahme und dem Beginn der eigentlichen Feldforschung ist für den Forschungsprozess meist von Vorteil. Die benötigte Infrastruktur kann jetzt noch vervollständigt werden, und auf der Basis der ersten Eindrücke ist es möglich sich besser auf die Situation einzustellen.


6.3.3 Ins Feld gehen – Studiendurchführung

Zur Durchführung einer Feldforschung lässt sich einerseits sehr viel sagen, andererseits ist es kaum möglich, zu verallgemeinern. Wir können daher nur raten, statt Krimis manchmal Ethnographien zu lesen. Neuere Ethnographien beinhalten fast immer auch detaillierte Beschreibungen und Reflexionen des Forschungsprozesses. Ist man dann selbst in einer bestimmten Situation, erinnert man sich an ähnliche beschriebene Situationen und wie damit umgegangen wurde. Bei Feldforschungen in Organisationen, die auch teilnehmende Beobachtung mit einschließen, ist es wesentlich, eine Rolle zu finden, die von den KollegInnen dort nicht als störend oder beeinträchtigend empfunden wird.

Beispiele für Rollen im Feld:

Die Praktikantin

Die Professionistin

Der Forscher

Worauf sollte bei der Feldforschung in Organisationen besonders geachtet werden?

Unabhängig davon, was in der Forschungsgenehmigung vereinbart worden ist, sollte damit gerechnet werden, dass das Management, aber auch andere Mitglieder der Organisation versuchen werden, auf den Fortgang der Forschung einzuwirken.

Beispiele:

Die Organisationsleitung

  • begrenzt den Umfang der Interviewzeit mit Angestellten während der Arbeitszeit;
  • gibt eine Fülle von Informationen, aber alles unter dem Siegel der Verschwiegenheit und der Auflage, nichts davon zu verwenden;
  • gibt Ratschläge, mit wem unbedingt gesprochen werden soll und mit wem nicht.

Organisationsmitglieder

  • laden ForscherIn zum Essen ein, und fragen, was denn der Kollege/die Chefin so erzählt haben;
  • wollen von ForscherIn wissen, wie er oder sie bestimmte Situationen, z.B. eine Sitzung oder einen Streit empfunden hat;
  • fordern Ratschläge/Coaching/Reziprozität ein u.v.a.m.

Dies sind alles mehr oder minder bewusste Versuche, die Richtung der Forschung zu lenken oder deren Ergebnisse zu beeinflussen. Gleichzeitig sind es fast immer auch Bemühungen, den oder die ForscherIn in die mikropolitischen Machtspiele der Organisation hineinzuziehen. Und genau das sollte man tunlichst vermeiden. Informationen aus der Forschung zurückzuhalten erhöht langfristig auch das Vertrauen bei jenen, die diese einfordern.

In hierarchischen Situationen, in denen mit Genehmigung des Managements die Belegschaft untersucht werden soll, ist mit verschiedenen Abwehrreaktionen von deren Seite zu rechnen. Eine häufige Verdächtigung besteht darin, SpionIn des Managements zu sein. Diese Anschuldigungen erfolgen meist verdeckt, und trotzdem ist es nötig, sich damit auseinanderzusetzen. Man muss unterscheiden lernen, ob es sich um einen Scherz handelt oder ob durch die Anspielungen der Forschungsprozess bereits ernsthaft in Gefahr gerät. Alle hierarchischen Ebenen haben ihre "gate keeper" (z.B. Betriebsrat, gewählte oder informelle Vertrauenspersonen), die informiert und einbezogen werden sollten.

Sind in einer Organisation mehrere politische Fraktionen erkennbar, sollte man vorschnelle Instrumentalisierungen durch eine Seite vermeiden. Das bedeutet nicht, dass man jede Positionierung vermeiden kann. Ich bin in meinen Forschungen bisher immer gefragt worden, welche Partei ich wähle, wie es mit meiner Religionszugehörigkeit und -Ausübung aussieht, warum ich nicht verheiratet bin und Kinder habe, etc. Ich halte es für das Vernünftigste, diese Fragen halbwegs ehrlich und ohne ideologische Prinzipienreiterei zu beantworten. Offene ethnographische Feldforschung stößt fast immer auf Skepsis durch die Beforschten, weil unklar bleibt, was man sucht und herausfindet, und wie dieses Wissen verwendet werden kann. Je höher die formale Ausbildung der Beforschten, umso häufiger der Vorwurf, nicht objektiv zu messen und irgendwie ein nicht kalkulierbares Geheimwissen anzusammeln. Feldforschung im eigenen Land und in Organisationen verlangt der EthnographIn viel Zeit und Geduld zur Rechtfertigung des methodischen Zugangs und der Sinnhaftigkeit von ethnographischer Forschung ab.

Nowak (1994) weist unter vielen anderen darauf hin, dass die Funktionalisierung des Forschers durch das Feld integraler Bestandteil eines jeden Forschungsprozesses ist. Diese Funktionalisierungen, Vereinnahmungen, Manipulationen sind der Regelfall, nicht die Ausnahme.




6.3.3.1 Rollen im Feld: die Praktikantin

Heike Wieschiolek (1999) hat als Westdeutsche einen ehemals ostdeutschen Betrieb zu einer Zeit untersucht, zu der ArbeiterInnen in ostdeutschen Produktionsstätten in ständiger Furcht vor Entlassung lebten. Nach längerem Hin und Her hat sie sich für die Rolle einer Praktikantin entschieden. In den 1990er Jahren waren PraktikantInnen, die von den Arbeitsämtern hin und her geschickt wurden, eine alltägliche Erscheinung im ehemaligen Osten, an die sich die verbliebene Stammbelegschaft gewöhnt hatte. Diese Rolle hatte ihr auch gestattet, verschiedenste Bereiche der Firma mit etwa 80 MitarbeiterInnen kennen zu lernen, da sie immer dort eingesetzt wurde, wo gerade "Not am Mann" war. Sie konnte so ihre beiden Wünsche, den nach Integration und den nach Bewegungsfreiheit vereinbaren (Wieschiolek 1999: 50).

Foto: Graffiti aus der Nähe von Leipzig (© Gertraud Seiser, 1993)



6.3.3.2 Rollen im Feld: die Professionistin

Melissa Parker (2001) wurde als Anthropologin in ein interdisziplinäres Projekt geholt, in dem es um die Verbreitungswege von ansteckenden Geschlechtskrankheiten ging. Die Untersuchung fand in einer Klinik für Haut- und Geschlechtskrankheiten statt, die neben dem normalen Patientenbetrieb auch Forschung und Lehre durchführt. Um Zugang zu den entsprechenden PatientInnen zu erhalten - sie sollte herausfinden, mit wem diese in den letzten Monaten sexuellen Kontakt hatten, und auch diese Personen kontaktieren und ebenfalls interviewen - wurde sie zuerst mehrere Wochen lang zur Gesundheitsberaterin ausgebildet.

Das Projekt, das Kontaktfeld von Personen mit chronischen Geschlechtskrankheiten zu erforschen, ist gescheitert. Die Personen mit wiederholten Reinfektionen von Gonorrhoe waren schlicht nicht bereit, eine Anthropologin in ihr privates Kontaktumfeld eindringen zu lassen. Aus der medizinanthropologischen Forschung ist mit Einverständnis der Klinikleitung eine organisationsanthropologische Untersuchung geworden. Die Klinik besteht aus einer frei zugänglichen Ambulanz für Personen mit Geschlechtskrankheiten, einer Spezialklinik für AIDS- PatientInnen und einer anderen für chronische Geschlechtskrankheiten. Parker beschäftigte sich nun mit dem Verhältnis des Personals der verschiedenen Teilkliniken zueinander und zu den jeweiligen PatientInnen. Während der zweijährigen Forschungszeit wurde - mit kurzer Unterbrechung - die Doppelrolle Gesundheitsberaterin/Forscherin beibehalten.

I had not been employed to write an ethnography of a clap clinic and I probably would not have kept an on-going account of events, conversations and conflicts at the clinic if the project I had planned to work on had not been such a failure. However, the clinic proved to be an extraordinary place to work and while the culture of work undoubtedly contributed to the difficulties of identifying sexual networks and understanding the transmission of gonorrhoea, it also proved to be a fruitful avenue of research in ist own right. (Parker 2001: 140f)

Der Artikel von Melissa Parker zeigt auch sehr eindrücklich, dass eine Forschungsgenehmigung und selbst massive Unterstützung durch die Leitung einer Organisation keineswegs hinreichen, um Zugang zu den Personen zu erhalten, die man untersuchen möchte.



6.3.3.3 Rollen im Feld: der Forscher

Jede Feldforschung wirft auch ethische Fragen auf, denn "we, as researchers are parasites on our subjects" (O’Neill 2001:229).

Foto: Rettungswagen in der Karpato-Ukraine (© Gertraud Seiser, 2007)

Wie schwer wiegend diese ethischen Dilemmatas sein können, in die man als ForscherIn gerät, hängt vom Feld ab, in dem man sich bewegt. Matin O’Neill wirft die Komplexität ethischer Fragen am Beispiel seiner Feldforschung unter britischen Rettungsfahrern auf. O’Neill hatte selbst vor seinem Anthropologiestudium sieben Jahre bei einem Rettungsdienst gearbeitet und wollte nunmehr seinen PhD auf Basis einer organisationsanthropologischen Untersuchung bei seinem ehemaligen Team machen.

Da er dort gut bekannt war, erhielt er auch sofort die Genehmigung zur Forschung inklusive der Erlaubnis, bei allen täglichen Abläufen einschließlich Rettungsausfahrten dabei zu sein. Die Auflage war, keinen Patienten und auch keine Gerätschaften des Ambulanzwagens anzurühren. Aus rechtlichen und versicherungstechnischen Gründen wurde Beobachtung ermöglicht, Teilnahme allerdings unter keinerlei Umständen. Der "informed consent" der KollegInnen war herstellbar, jener der PatientInnen ist in Notfallsituationen unmöglich. Bereits in den ersten Forschungswochen wurden sie zu einem fünf Tage alten Baby gerufen, das zu atmen aufgehört hatte. Ohne Chance, nachdenken zu können, ist er in die Rolle des Notfallssanitäters geschlüpft. Als er nachher das forschungsethische und rechtliche Problem mit einem Kollegen erörterte, unterbrach dieser:

Foto: Alles Müll? (© Gertraud Seiser, 2007)
’ We worked as a team and who gives a fuck as long as the baby is alright?’ I realized then that that said it all. Whatever my role or responsibility as a researcher these were secondary to my roles and responsibilities as a human being. If I could help, I had a duty to help, regardless of any arguments concerning research ethics; the ethical issues in this situation were a lot deeper. (O’Neill 2001: 227)

Dieses Beispiel zeigt folgendes: Auch wenn wir uns im Rahmen einer Feldforschung auf eine Rolle, und zwar auf die der Forscherin/des Forschers begrenzen, werden wir in die Dynamik des Feldes involviert. Abhängig davon, welche Gruppe in welchem Umfeld untersucht wird, ergeben sich fast immer Situationen, in denen wir als Menschen gefordert sind.


6.3.4 Datenaufbereitung

Die Datenaufbereitung folgt je nach Art des gesammelten Materials den üblichen methodischen Regeln. Wichtig ist zu bedenken, dass anders als bei der sprichwörtlichen Dorfstudie in der Ferne, sich hier Auftraggeber, Untersuchte und das Publikum der Ethnographie viel stärker überschneiden. Es können zumindest alle das Produkt des Forschungsprozesses lesen. Das hat vor allem Konsequenzen für die Frage der Anonymisierung: Werden z.B. Konfliktsituationen genauer beschrieben, so nützt es unter Umständen nichts, wenn die Firma und die beteiligten Personen andere Namen erhalten. Wird der Text intern gelesen, sind die einzelnen Positionen konkreten Personen zuzuordnen. Dies kann beispielsweise arbeitsrechtliche Folgen haben. Es ist daher eine erhöhte Sensibilität gegenüber den möglichen Folgen des Geschriebenen angebracht. Das kann sogar den Verzicht auf die Auswertung von besonders aussagekräftigem und wissenschaftlich interessantem Material erforderlich machen.

Organisationsanthropologische Untersuchungen werden daher nicht nur aufgrund von entsprechenden Vereinbarungen mit der Organisationsleitung erst lange nach der eigentlichen Feldforschung publiziert, sondern auch, um die InformantInnen zu schützen.


6.3.5 Schriftliche Ausarbeitung / Publikation

In der Forschungsgenehmigung sollte bereits vertraglich festgelegt werden, ob etwas, was und wie viel publiziert werden darf. Dies hängt auch von der Art der Forschung ab:

  • Auftragsforschung im Bereich der angewandten Ethnologie: Auftraggeber und meist auch Geldgeber ist die Organisation selbst - in diesem Fall sind Publikationsverbote zumindest über einen bestimmten Zeitraum fast immer Bestandteil des Vertrags. Es wird empfohlen, sich vor Ausverhandlung des Auftrags über die nationalen gesetzlichen Regelungen zum Schutz geistigen Eigentums zu informieren. AutorInnenrechte können je nach Land unterschiedlich gekauft oder verkauft werden. Am Ende einer Auftragsforschung steht ein Bericht an den Auftraggeber, aber nicht unbedingt eine Publikation.
  • Auftragsforschung für nationale oder internationale Behörden (z.B. EU-Projekte): In diesem Fall sind Geldgeber und Auftraggeber eine Organisation und die Untersuchte(n) Organisation(en) davon verschieden. Es ist darauf zu achten, dass die Interessen von Auftraggeber, beforschter Organisation und ForscherIn miteinander kompatibel und vertraglich abgesichert sind. Der/die ForscherIn darf keine Auflagen für die Forschungsgenehmigung akzeptieren, welche die Vertragserfüllung gegenüber dem Auftraggeber gefährden. Auch hier ist das Resultat ein Bericht an den Auftraggeber und in Hinblick auf eine Publikation ist eher mit zwei als mit keiner Zensurinstanz zu rechnen.
  • Forschung im Rahmen einer wissenschaftlichen Institution (Universität, Forschungsfonds etc.) oder selbst finanzierte Forschung im Rahmen einer akademischen Abschlussarbeit: Eine Forschungsgenehmigung mit massiven Auflagen und Restriktionen in Bezug auf die Publikation der Ergebnisse ist in diesem Fall wertlos und selbstschädigend. Da in vielen Ländern die AutorInnenrechte bereits sehr stark gesichert sind, kann man natürliche schon die Auflagen akzeptieren, trotzdem publizieren und eine Klage der Firma auf Einhaltung der Vertragspflichten riskieren. Es ist aber fast immer besser, sich ein anderes Forschungsfeld oder eine andere Firma zu suchen. Im Falle von akademischen Abschlussarbeiten ist ein Zulassen von Forschungsrahmenbedingungen, die den Abschluss gefährden ein klarer Betreuungsfehler.

Egal wie die Vereinbarungen mit der beforschten Organisation sind, sie entbinden nicht von der Pflicht sich zu fragen: Was kann ich ethischerweise schreiben und was nicht. Viele meiner Informationen habe ich auf Vertrauensbasis erhalten, und ich sollte dieses Vertrauen auch rechtfertigen.


Nächstes Kapitel: 6.4 Qualitätskriterien für "gute" Ethnographie


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