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Vorheriges Kapitel: 3.4 Macht und Herrschaft
3.5 Konflikt und Wandel
Verfasst von Friedhelm Kröll und Nicole Pesendorfer
Theorien des sozialen Wandels haben innerhalb der sozialwissenschaftlichen Theorielandschaft nie so recht ein prominentes Dasein geführt. Vielmehr sind die Fragen nach den Determinanten, Kräften und Verlaufsformen gesellschaftlicher Wandlungsprozesse eher stiefmütterlich behandelt worden.
- Ursprünglich sind die Probleme des Wandels eingekapselt gewesen in die evolutionistischen Erkenntnisstrategien[1],
- dann sind die Fragen nach den gesellschaftlichen Wandlungsprozessen transferiert worden in Modernisierungstheorien,
- darüber ist das Problem des sozialen Wandels thematisch geworden in Transformationstheorien.
In den angesprochenen Forschungsrichtungen liegt das dominante Erkenntnisinteresse in der Frage nach den Chancen und Hemmnissen bei der Assimilation der als "zurückgeblieben" eingestuften Gesellschaftsformen an die als Prämisse und Richtpunkt gesetzten westlichen Standards sozialer Evolution. Gilt für den älteren Strukturfunktionalismus[2] unter der Hegemonie Talcott Parsons[3] das Stabilitätsproblem als vorrangig, so für die neueren systemtheoretischen Konzeptualisierungen unter Niklas Luhmann[4] das Problem evolutionärer Differenzierung. Gilt bei Parsons der Konflikt eher als Störvariable, so ist er bei Luhmann zum Verschwinden gebracht.
Abgesehen von sozialwissenschaftlichen Forschungszweigen, die sich ausdrücklich mit Theorien der Revolution befassen, etwa der Politologie und politischen Soziologie, finden sich ansonsten in den Sozialwissenschaften nur wenige Ansätze, die sich explizit mit dem Zusammenhang von Wandel und Konflikt befassen.
Noch immer sind Konflikttheorien älteren Datums forschungswirksam, die vor allem mit den Namen Lewis A. Coser[5] und Ralph Dahrendorf verknüpft sind.
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 1.2
[2] Siehe Kapitel 1.3
[3] http://agso.uni-graz.at/lexikon/klassiker/parsons/39bio.htm
[4] http://agso.uni-graz.at/lexikon/klassiker/luhmann/26bio.htm
[5] Siehe Kapitel 4.1
Inhalt
3.5.1 Konflikt
In den sozialwissenschaftlichen Grundlagentheorien ist eine Scheu vorm Konflikt festzustellen. Beim Stichwort "Kampf" gibt es bei den heutigen Terminologien und Theorien sogar Absenz. Ganz anders die Klassiker der Sozialwissenschaften von Karl Marx[1] über Georg Simmel[2] bis zu Max Weber[3] :
Weber hat in seinem "Grundriß der Verstehenden Soziologie"[4] dem Begriff "Kampf" einen eigenen Paragraphen (§ 8) innerhalb der "Soziologischen Grundbegriffe" reserviert, dessen erste Bestimmung dahingeht, den Kampf als soziale Beziehung zu qualifizieren:
"Kampf soll eine soziale Beziehung insoweit heißen, als das Handeln an der Absicht der Durchsetzung des eignen Willens gegen den Widerstand des oder der Partner orientiert ist."
Vor diesem definitorischen Hintergrund definiert Weber ebendort das heute zentrale Organon des sozialen, ökonomischen, kulturellen und politischen Lebens: die Konkurrenz. Weber definiert Konkurrenz vom Einsatz der Mittel her:
"'Friedliche' Kampfmittel sollen solche heißen, welche nicht in aktueller physischer Gewaltsamkeit bestehen. Der 'friedliche' Kampf soll 'Konkurrenz' heißen, wenn er als formal friedliche Bewerbung [Wettbewerb - F.K.] um eigne Verfügungsgewalt über Chancen geführt wird, die auch andere begehren."
"'Geregelte Konkurrenz' soll eine Konkurrenz insoweit heißen, als sie in Zielen und Mitteln sich an einer Ordnung orientiert."
1965 erscheint in deutscher Übersetzung eine sozialtheoretische Studie von Lewis A. Coser: "Theorie sozialer Konflikte"[5], die noch immer als zentraler sozialwissenschaftlicher Entwurf in Sachen "Gesellschaft und Konflikt" gilt. Zwar haben Coser und in seiner Nachfolge einige weitere Sozialwissenschaftler einiges geleistet, um den "weißen Fleck" sozialwissenschaftlicher Konflikttheorie zu beseitigen, dennoch herrscht in den Sozialwissenschaften bis heute eine Neigung zum Konsensus vor. Nach wie vor dominieren Denkweisen und Forschungsperspektiven, die den Konflikt eher als Störung oder Abweichung beargwöhnen. Wenn Konflikt ins theoretisch-konzeptive Blickfeld gerät, dann als "Problem".
Von Ausnahmen abgesehen,neigen struktur-funktionale Denkweisen[6] zur Pathologisierung des Konflikts, der als illegitime Devianz gilt. Evolutionstheoretische Erkenntnisstrategien[7] tendieren dazu, das Phänomen des Konflikts im Paradigma "sozialer Differenzierung" zum Verschwinden zu bringen.
Das Konzept der sozialen Differenzierung hat ältere Modelle abgelöst. Konflikt erscheint im Paradigma von Differenzierung, Interpedendenz und Komplexität eher als Friktion, als Reibungsverlust denn als Ausdruck von Kollisionen. In den evolutionstheoretischen Erkenntnisstrategien ist rastlose Differenzierung selbst als einheitsstiftendes Prinzip gedacht (vgl. Spencer 1876[8]). Im Sozialevolutionismus löst sich das Phänomen des Konflikts im Modus sozialer Differenzierung auf.
Verständigungsdefinition: Sozialer Konflikt
- Sozialen Konflikten liegen Interessenspannungen zwischen Kollektiven innerhalb eines gegebenen gesellschaftlichen Kontextes zugrunde.
- Von sozialen Konflikten ist zu reden, wenn die sozialen Spannungen aus dem Zustand der Latenz (latente Konfliktlagen) in offene Auseinandersetzungen (manifeste Konflikte) übergehen.
- Soziale Konflikte stellen eine spezifische Form der Interaktion dar.
Die Erforschung sozialer Konflikte umfasst:
- Ursachenkonstellation der Interessensspannungen,
- Kräftekonstellation,
- Verwandlung der Spannungen in manifeste Konflikte,
- Verlaufsformen der Konfliktaustragung,
- Konfliktausgang.
Verweise:
[1] http://agso.uni-graz.at/lexikon/klassiker/marx/30bio.htm
[2] http://agso.uni-graz.at/lexikon/klassiker/simmel/42bio.htm
[3] http://agso.uni-graz.at/lexikon/klassiker/weber/49bio.htm
[4] Siehe Kapitel 4.1
[5] Siehe Kapitel 4.1
[6] Siehe Kapitel 1.3
[7] Siehe Kapitel 1.2
[8] Siehe Kapitel 4.2
3.5.2 Wandel
L.A. Coser[1], der den Zusammenhang von "Konflikt und Wandel" thematisiert, deutet Konflikt als Chance für soziokulturellen Wandel bis hin zum Wandel der Sozialstruktur. Coser unterscheidet zunächst die funktionalen Dimensionen[2] der Bedeutung des Sozialen Konflikts für Prozesse des sozialen Wandels:
- Funktionen von Konflikten innerhalb sozialer Systeme (von der Mikro- bis zur Makro-Ebene)
- Konflikte und Wandel des sozialen Systems (von der Mikro- bis zur Makro-Ebene)
Zentrale Thesen:
- Jedes soziale System enthält Spannungen, d.h. Konfliktpotenziale
- Soziale Systeme unterscheiden sich im Ausmaß der Spannungsmomente bzw. Konfliktpotenziale.
- Die sozialen Spannungs- und Konfliktpotenziale nehmen zu, wenn die Zahl der Anspruchsträger die Zahl der Erfüllungsmöglichkeiten übersteigt (strukturelle Diskrepanz).
- Soziale Systeme sterben nicht wie biologische Organismen. Sie entwickeln und transformieren sich.
- Ob aus Konfliktpotenzialen Anomie hervorgeht oder Neues entsteht, ist eine offene, empirische Frage.
Funktionen von Konflikten innerhalbsozialer Systeme:
- Soziale Konflikte erzeugen neue Normen, Institutionen und Lebensformen.
- Soziale Konflikte stimulieren die ökonomisch-technische Entwicklung.
- Konflikte wirken als Heilmittel gegen "lähmenden Ritualismus" sowohl auf der Ebene der sozio-kulturellen Praxen wie der der Mentalitäten.
- Konflikte sind Initialzündungen und Antriebsmodus für soziale Produktivität (im Sinne von Popitz).
Konflikt und Wandel dessozialen Systems (vgl. Jäger / Weinzierl 2007[3]):
Wandel des Systems bedeutet, dass drastische Veränderungen zu verzeichnen sind und kann auf zwei Wegen erfolgen:
- Plötzliche und gleichzeitige Veränderung der strukturellen, institutionellen und legitimatorischen Grundlagen (Typus: offene Revolution)
- Sukzessive Transformation der Sozialstruktur, des Institutionensystems und der Legitimationsgrundlagen (Typus: "silent Revolution")
Die Grundformen des Wandels sind abhängig vom Charakter des Strukturtyps eines Gesellschaftssystems:
- Starre Systeme, die Konflikte unterdrücken, fördern die Entstehung explosiver Konfliktpotenziale, begünstigen die Intensität der manifesten Konflikte und ebnen den Weg für gewaltsame Konfliktformen.
- Elastische Systeme, welche die offene und direkte Austragung von Konflikten zulassen und veränderungsfähig sind, sind weniger anfällig für explosive Ausbrüche von Spannungspotenzialen in manifeste, gewaltsame Konflikte.
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 4.1
[2] Siehe Kapitel 3.3.2
[3] Siehe Kapitel 4.2