Difference between revisions of "Soziale Ungleichheit/Schwaechen des Schichtungsbegriffs"

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Vorheriges Kapitel: 9.2 Soziale Schichtung messen

9.3 Schwächen des Schichtungsbegriffs: Neue Theorien sozialer Ungleichheit

verfasst von Theresa Fibich und Rudolf Richter

Neuere Theorien sozialer Ungleichheit sprechen weniger von sozialen Schichten, sondern von sozialen Milieus und Lebensstilen, die den Schichten quasi quergelagert sind. Sie treffen keine Schichteinteilungen anhand weniger objektiver Merkmale (z.B. Einkommen und Berufsposition), sondern rücken die Lebensbedingungen und Handlungschancen in den Vordergrund.

Inhalt

9.3.1 Schelsky: nivellierte Mittelstandsgesellschaft

Vor dem Hintergrund der Auf- und Abstiegsprozesse nach dem 2. Weltkrieg in Deutschland spricht Helmut Schelsky (1920-1984) von einer nivellierten Mittelstandsgesellschaft. Die wirtschaftliche Lage der Menschen hätte sich vereinheitlicht und die große Interessenskluft, die laut Marx zwischen Bourgeoisie und Proletariat[1] bestehe, gäbe es nicht mehr. Es kommt zu einer "Herausbildung einer nivellierten kleinbürglicher-mittelständischen Gesellschaft, die ebensowenig proletarisch wie bürgerlich ist, d.h. durch den Verlust der Klassenspannung und sozialen Hierarchie gekennzeichnet wird" (Schelsky 1954: 218). Es herrsche eine einheitliche Möglichkeit der Teilhabe am modernen Zivilisationskomfort durch die florierende Massenproduktion. Keiner hätte mehr das Gefühl nicht am Luxus teilhaben zu können (vgl. Abels 2009a: 294ff). Diese These ließ sich allerdings empirisch nicht halten.

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 9.1.2


9.3.2 Beck: Individualisierung

Foto: Ulrich Beck (*1944), Quelle: http://wikimedia.org/

Auch Ulrich Beck (*1944) kritisiert den Schichtungsbegriff. Er spricht von einer Individualisierung von Lebenslagen und Stilen, dem der Schichtungsbegriff nicht gerecht werden kann. In einer Gesellschaft „jenseits von Stand und Klasse“ (wie er sagt) bestünden diese Strukturen nach wie vor, nur träten sie in den Hintergrund: Zwar würden die Verteilungsrelationen relativ konstant bleiben, die Lebensbedingungen der Menschen würden sich dennoch drastisch ändern. Durch „Niveauverschiebungen (Wirtschaftsaufschwung, Bildungsexpansion usw.) [würden] subkulturelle Klassenidentitäten zunehmend weggeschmolzen, „ständisch“ eingefärbte Klassenlagen enttraditionalisiert und Prozesse einer Diversifizierung und Individualisierung von Lebenslagen und Lebenswegen ausgelöst (…) [werden], die das Hierarchiemodell sozialer Klassen und Schichten unterlaufen und in seinem Realitätsgehalt zunehmend in Frage stellen“ (Beck 1983: 38). Individualisierungsprozesse stehen daher im Zentrum. Der Lebensverlauf eines Individuums sei nicht mehr von seiner Schicht bestimmt, da die eigentlichen Umstände höchst heterogen sind.


9.3.3 Bourdieu: Kapitalsorten und Geschmack

Pierre Bourdieu[1] (1930-2002) stimmt mit Marx überein[2], dass die ökonomische Komponente bei der Platzierung des Individuums in der Gesellschaft zentral ist. Bourdieu identifiziert daneben aber noch zwei andere Kapitalsorten, die entscheidend für die Stellung des Individuums in der gesellschaftlichen Hierarchie (er nennt es den „sozialen Raum“) sind. Je nach Kombination und Gesamtumfang der Kapitalsorten positioniert sich das Individuum im sozialen Raum (Bourdieu 1985: 9ff). „Ausgehend von den Stellungen im Raum, lassen sich Klassen (…) herauspräparieren, das heißt Ensembles von Akteuren mit ähnlichen Stellungen, und die da ähnlichen Konditionen und ähnlichen Konditionierungen unterworfen, aller Voraussicht nach ähnliche Dispositionen und Interessen aufweisen (…)" (Borudieu 1985: 12).

Laut Bourdieu gibt es drei Kapitalsorten:

  • Ökonomisches Kapital: Geld, Eigentum, Besitz
  • Kulturelles Kapital: Wissen, Bildung, Bildungstitel
  • Soziales Kapital: Beziehungsnetze (formell und informell), „Ressourcen, die auf der Zugehörigkeit einer Gruppe beruhen“ (Bourdieu 1983: 190f).

Die Kombination der Kapitalsorten werden verinnerlicht und formen die Handlungs- und Denkstrukturen des Individuums: den Habitus. Der Habitus bezeichnet NICHT die Handlungen selbst, sondern ist ein System von Dispositionen und Gewohnheiten, die den Handlungen zu Grunde liegen, die Handlungen wahrscheinlich machen. „Der Sinn für die eigene soziale Stellung als Gespür dafür was man „sich erlauben“ darf und was nicht, schließt ein das stillschweigende Akzeptieren der Stellung, einen Sinn für Grenzen („das ist nichts für uns“),(…), einen Sinn für Distanz, für Nähe und Ferne, die es zu signalisieren, selber wie von Seiten der anderen einzuhalten und zu respektieren gilt (…)" (Bourdieu 1985: 18). Die Distanzen zwischen den Positionen im sozialen Raum spiegeln sich also in der Praxis der Lebensführung wieder. Vermittelt durch den Habitus entstehen unterschiedliche Geschmäcker (Essen, Kleidung, Kunst, Wohnungseinrichtung etc.), Vorlieben für sportliche Aktivitäten, Geselligkeiten etc., nach denen die Zugehörigkeiten zu bestimmten sozialen Gruppen angezeigt wird. Dadurch werden Strukturen (re)produziert. Es erfolgt also ein permanentes Wechselspiel zwischen Strukturen und Handlungen.

Bourdieu fächert in einem seiner bekanntesten Werke „Die feinen Unterschiede“ (1984) diese Geschmacksarten auf (vgl. dazu Abels 2009a: 312ff):

  • Legitimer Geschmack der herrschende Klasse: dies sind Personen mit großem ökonomischen Kapital (wie Bänker oder Unternehmer) oder Personen mit großem kulturellen Kapital (wie Intellektuelle). Bsp.: Klavier, kennen viele Komponisten, Werke und Interpreten; philosophische Essays, Museumsbesuche, Golf, Jachtsegeln, Springreiten etc.
  • Mittlerer oder prätentiöser Geschmack der Mittelklasse: altbewährte Klassik, sie kennen die wichtigsten Komponisten mit Namen, lesen populärwissenschaftliche Zeitschriften, Besuch von Schlössern und historischen Stätten, asketischer Sport („Leib für den anderen“ wie beispielsweise Gymnastik)
  • Volkstümlicher oder barbarischer Geschmack der Classe populair: Habitus auf Funktionalität hin gerichtet, praktisch, naturalistisches Schönheitsideal; an der schönen blauen Donau, La Traviata, Schlager; Lesen von Liebesgeschichten;

Warum reproduziert sich nun diese Ungleichheit? Abels (2009a: 317) fasst es auf folgenderweise zusammen: „Soziale Ungleichheit erhält sich, weil in allen sozialen Klassen der Habitus das Gefühl vermittelt in seinen Kreisen kompetent zu sein. Deshalb weiß man sich auch der Achtung seinesgleichen sicher. Indem man sich dazu gehörig fühlt, kennt man die Grenzen, an denen man sich von anderen unterscheidet. Auch das stärkt das Selbstbewusstsein. Von oben nach unten wirken feine Unterschiede als Distinktion und Zurückweisung. Von unten nach oben nährt die Massenkultur die Illusion, dass im Prinzip keine kulturellen Grenzen bestehen.“

Verweise:
[1] http://agso.uni-graz.at/lexikon/klassiker/bourdieu/06bio.htm
[2] Siehe Kapitel 9.1.2


9.3.4 Hradil: Soziale Milieus

Foto: Stefan Hradil (*1946), Quelle: http://wikimedia.org

Stefan Hradil (*1946) meint, dass, damit beurteilt werden könne, ob soziale Ungleichheit herrsche, müsse man, so meint Hradil, Vorstellungen davon haben, welches Gut aus Ideen der Gerechtigkeit heraus gleich verteilt sein sollte. Soziale Ungleichheit rein mit den Instrumenten der Schichtungsforschung zu betrachten, sieht Hradil daher als unzureichend an. Neben Einkommen und Bildung seien auch Dimensionen wie Arbeitsbedingungen, Lebensqualität, Freiheitsgrade (Freizeitbedingungen), soziale Sicherheit etc. zu berücksichtigen, die ebenfalls ungleich verteilt sind und nicht vor hohen Gehältern und Bildungsabschlüssen Halt machen (z.B.: Ein neuer Selbstständiger, der zwar ein hohes Gehalt bezieht, aber über wenig Freizeit und geringe soziale Sicherheit verfügt). Es ist daher die „individuelle Relevanz von Strukturbedingungen“ zu berücksichtigen (Hradil 1983: 114). Ein bestimmtes Einkommen, eine bestimmte Bildung oder ein dauerhaft gesicherter Arbeitsplatz hat für unterschiedliche Kreise andere Bedeutungen. Bolte/Hradil (1984: 256) nennen als Beispiele Künstlerkreise, das traditionelle Arbeitermilieu, Alternativbewegungen, das Bürgertum, Neureiche usw. Bei einer Einordnung dieser Personen rein in das Schema „Einkommen“ würden die unterschiedlichen Lebens- und Sichtweisen nicht ersichtlich werden.

„Wie relevant strukturelle Bedingungen sozialer Ungleichheit für den Lebenszuschnitt und das Verhalten des Einzelnen sind, bestimmt sich offenbar nicht nur durch die strukturellen Bedingungen selbst, sondern auch durch die Funktionalität und Interpretation dieser Bedingungen im Rahmen spezifischer Milieus“ (Hradil 1983: 108). Es gilt daher näher an die subjektive soziale Situation des Individuums heranzurücken und sogenannte „soziale Milieus“ zu erforschen: Ein soziales Milieu fasst „Gruppen Gleichgesinnter zusammen, die jeweils ähnliche Werthaltungen, Prinzipien der Lebensgestaltung, Beziehungen zu Mitmenschen und Mentalitäten aufweisen“ (Hradil 1999: 420).


Nächstes Kapitel: 9.4 Messung und Indikatoren sozialer Ungleichheit


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