Kinship als Forschungsfeld

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Vorheriges Kapitel: Einführung in die Kinship Studies

1. Kinship als Forschungsfeld

Verfasst von Wolfgang Kraus

Eine systematische Beschäftigung mit Verwandtschaft und eine damit verbundene Theorienbildung setzte etwa ab der Mitte des 19. Jh. ein, in einem Zeitraum also, der für die Herausbildung einer damals noch nicht als eigenständigen Disziplin bestehenden Kultur- und Sozialanthropologie ingesamt von größter Bedeutung war. Kinship als Forschungfeld wurde der jungen Disziplin sozusagen bereits in die Wiege gelegt.

Im Mittelpunkt der Kinship-Forschung standen dabei zunächst die sozialen Aspekte verwandtschaftlicher Beziehungen. Verwandtschaft wurde im klassischen Evolutionismus [> 3.1] als das Organisationsprinzip der frühen Gesellschaften schlechthin angesehen. Auch nach der Abwendung vom Evolutionismus des 19. Jh. galt sie lange Zeit als die wesentliche Grundlage der sozialen Struktur der einfach organisierten nichtindustrialisierten Gesellschaften, mit denen sich das Fach vor allem beschäftigte.

Im traditionellen Verständnis der Kinship Studies ging es vor allem um die Frage, wie im Zusammenhang mit den durch Heirat und Reproduktion etablierten genealogischen Verbindungen soziale Positionen, Beziehungen, Rechte und Pflichten geschaffen oder zugewiesen werden. In den letzten Jahrzehnten richtete sich das Interesse dann verstärkt auf die kulturellen Auffassungen von Verwandtschaft. Es kam zu einer Welle der Kritik [> 4.1] an den Annahmen der bisherigen Kinship Studies. Die Vorstellung eines zwar kulturell variablen, aber dennoch universellen Bereichs von auf Reproduktion basierenden genealogischen Beziehungen, so wurde nun argumentiert, verabsolutiere auf ethnozentrische Weise euro-amerikanische kulturelle Konzeptionen.

Infolge veränderter Fragestellungen in der Kultur- und Sozialanthropologie ist seit den 1970er Jahren die Beschäftigung mit Verwandtschaft im klassischen Sinn sehr zurückgegangen. Stattdessen wurden zunehmend Gender-Beziehungen, Machtverhältnisse und personhood thematisiert. In letzter Zeit ergaben sich etwa aus den Neuen Reproduktionstechnologien [> 4.1] und ihren sozialen und kulturellen Konsequenzen neue Fragestellungen auch für die kultur- und sozialanthropologische Forschung. Auch bereits früher debattierte Fragen wie der Zusammenhang zwischen Verwandtschaft und biologischer Reproduktion [> 2.1] wurden nun neu gestellt. Nicht zuletzt deshalb ist heute ein erneutes Interesse am Forschungsfeld Verwandtschaft insgesamt zu beobachten, das sich durchaus dynamisch weiterentwickelt.

Am Beispiel des Forschungsfeldes der Kinship Studies zeigt sich ein grundlegendes Problem für eine Wissenschaft, die den Anspruch vertritt, unterschiedliche kulturelle Konzeptionen untersuchen zu können, ohne dabei unkritisch die eigenen kulturgebundenen Auffassungen auf andere zu projizieren. Sind die Konzepte, die für Deskription, Analyse und Vergleich zur Anwendung kommen, ausreichend „kulturfrei“, um unterschiedliche kulturelle Erscheinungformen zu erfassen, ohne dabei bestimmte Konzeptionen gegenüber anderen zu privilegieren? Oder reproduzieren wir, wenn wir von Verwandtschaft sprechen, nur unbewußt unser eigenes Verständnis und verwechseln dies mit einer formalen und kulturell neutralen Sichtweise? Solche Fragen lassen sich in vielen Forschungszusammenhängen stellen; sie haben dazu geführt, dass es unter den Begriffsdefinitionen und theoretischen Konzepten im Bereich der Kinship Studies nur wenige gibt, die nicht debattiert und in Frage gestellt worden wären.

Inhalt


1.1 Unterschiedliche Forschungstraditionen


In der deutschsprachigen, lange Zeit kulturhistorisch dominierten ethnologischen Tradition ist die Verwandtschaft bestenfalls ein Nebenaspekt gewesen. Es gab und gibt bis heute kaum deutschsprachige Fachpublikationen zu diesem Forschungsfeld. Ganz anders im angloamerikanischen Raum: Hier lässt sich sagen, dass die Herausbildung der Anthropologie als einer vergleichenden Wissenschaft von der Gesellschaft mit jener der Kinship Studies Hand in Hand ging.

Von wesentlichem Einfluss auf beides waren Lewis H. Morgan und seine Zeitgenossen [> 3.1]. Vor allem von Morgan gingen entscheidende Impulse für die anthropologische Perspektiven auf Verwandtschaft aus (vgl. Fortes 1969; Trautmann 1987; van der Grijp 1997). In der Folge wurde im angloamerikanischen Raum ein großer Teil der wichtigen theoretischen Konzepte einer Anthropologie der Verwandtschaft formuliert. Wenn wir auch im Deutschen von Kinship Studies sprechen, so verweisen wir damit auf diese angloamerikanische Theorietradition.

Außerhalb des angloamerikanischen Raumes spielt die Analyse von Verwandtschaft auch in der französischen Anthropologie eine wichtige Rolle. In der Folge der einflussreichen Arbeiten von Lévi-Strauss (v.a. 1993 [1949]) [> 3.4] steht hier vor allem die strukturelle Rolle von Heiratsverbindungen [> 9] im Vordergrund. In der britischen funktionalistisch geprägten Tradition dagegen wurden Heiratsverbindungen (so lautet wenigstens eine verbreitete Kritik) aufgrund einer Überbetonung der Deszendenzverbindungen [> 8] vernachlässigt

1.2 Ist Kinship gleich Verwandtschaft?



Es ist zu beachten, dass der englische Begriff Kinship sich nicht genau mit dem deutschen Begriff Verwandtschaft deckt. In der Alltagssprache bezeichnet Kinship nur die aus Blutsverwandtschaft [> 6.1.1] resultierenden Beziehungen, nicht aber die Affinalverwandtschaft (d.h. auf Heirat beruhende Beziehungen) [> 6.1.2], die im Deutschen ebenfalls der Verwandtschaft zugerechnet werden.

In der Kultur- und Sozialanthropologie muss daher zwischen einem traditionellen und einem modernen Verständnis von Kinship unterschieden werden:

1. Traditionell inkludiert Kinship, wie in der englischen Alltagssprache, nur Blutsverwandtschaft, nicht aber Affinalverwandtschaft. Dies bedeutet natürlich nicht, dass aus der anthropologischen Analyse die Heiratsbeziehungen ausgeklammert wurden. Es erklärt aber, warum viele ältere Bücher Titel wie „Systems of kinship and marriage …“ tragen. „Kinship and marriage“ entspricht in diesem Sprachgebrauch der deutschen Verwandtschaft.

2. Radcliffe-Brown meinte bereits 1941: „I shall use the term „kinship system“ as short for a system of kinship and marriage or kinship and affinity“ und beklagte den Mangel eines umfassenden Begriffs im Englischen (Radcliffe-Brown 1941: 2). Heute werden im anthropologischen Sprachgebrauch unter Kinship generell meist auch Heiratsbeziehungen subsumiert. So etwa in der Definition Linda Stones [> 2.3], für die Kinship in der Anerkennung einer Beziehung zwischen Personen besteht, die auf Abstammung oder auf Heirat beruht (Stone 1998: 5).

1.3 Zum Nutzen von Verwandtschaft


Selbst wenn die angloamerikanische Anthropologie zu Recht für ihre zeitweilige Überbetonung der Verwandtschaft kritisiert wurde – um die Mitte des 20. Jh. herrschte bei manchen die Überzeugung, daß in traditionellen außereuropäischen Gesellschaften so gut wie alles aus Verwandtschaft erklärt werden könne (vgl. Eriksen 2001: 93) – so darf doch die Bedeutung von Verwandtschaft in den meisten Gesellschaften nicht unterschätzt werden.

Auch in unserer eigenen Gesellschaft hat Verwandtschaft mehr Einfluss, als wir es ohne einen an sozialwissenschaftlichen Konzepten geschulten Blick wahrnehmen. Für berufliche Karrieren etwa sind soziale Netzwerke oft von entscheidender Bedeutung. In diesen Netzwerken spielt – auch wenn dies grundsätzlich als moralisch und (zumindest im öffentlichen Bereich) sogar rechtlich fragwürdig angesehen wird – Verwandtschaft häufig eine wichtige Rolle. Rechtliche Zusammenhänge wie die Vererbung von Besitz und soziale Verpflichtungen wie Kinder- und (mit abnehmender Bedeutung) Altenbetreuung bauen ganz selbstverständlich auf Verwandtschaft auf. Trotz einer vergleichsweise hohen sozialen Mobilität wird sozialer Status in einem hohen Ausmaß durch verwandtschaftliche Herkunft vorgegeben. Dies wird auch – ohne dass es den meisten von uns bewusst ist – in der Partnerwahl sichtbar, in der sich soziale Schichtenzugehörigkeit oft auf selbstverständliche Weise reproduziert.

Dennoch soll der Nutzen von Verwandtschaft hier am Beispiel einer „traditionellen“ Gesellschaft illustriert werden. Die Berber Zentralmarokkos sind tribal (d.h. in Stämmen) gegliedert (vgl. Kraus 2004). Im Gegensatz zu einer bis zur Mitte des 20. Jh. vorherrschenden Meinung sind traditionelle außereuropäische Gesellschaften nicht notwendiger- oder typischerweise in Stämmen organisiert. Tribale Organisationsformen finden (oder fanden) sich jedoch in vielen ländlichen Lokalgesellschaften des Nahen Ostens und Nordafrikas (Kraus 2004), aber auch – mit abweichendem Erscheinungsbild – in manchen anderen Teilen der Welt wie Indien und dem indigenen Nordamerika.

In einer tribalen Form sozialer Organisation, so wie sie im Nahen Osten (und in Nordafrika) verstanden wird, beruht die Identität des Einzelnen und die Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen in wichtigen Aspekten auf der angenommenen oder nachweisbaren genealogischen Beziehung zu einem gemeinsamen Ahnen. Ein Stamm in diesem Sinn ist im Prinzip eine Gruppe von Menschen, die in direkter väterlicher Linie von diesem Ahnen abstammen, oder dies von sich behaupten. Dabei geht es um patrilineare Beziehungen [> 8.2]: die Zugehörigkeit zu einem Stamm oder zu einer seiner Untergruppen wird jeweils vom Vater an seine Kinder weitergegeben. Wichtig sind in diesem Zusammenhang also die genealogischen Beziehungen zwischen Männern, was aber nicht ausschließt, daß in anderen Bereichen maternale Beziehungen (zwischen Mutter und Kindern) [> 6.2] sowie affinale Beziehungen (die durch Heirat geknüpft werden) [> 6.1.2] eine große Rolle spielen.

Nahöstliche Stämme sind segmentiert [> 3.3]: sie untergliedern sich in Untergruppen, die – meist auf mehreren Ebenen – weiter segmentiert sind in noch kleinere Gruppen. Ein Stamm führt sich im marokkanischen Hohen Atlas typischerweise auf einen gemeinsamen Ahnen zurück; gibt es in diesem Stamm z.B. drei Untergruppen, so wird angenommen, daß diese von den drei Söhne dieses Stammvaters abstammen. Deren Söhne wiederum definieren die Segmente der nächsten Ebene usw. Alle diese Gruppen sind also unilineare Deszendenzgruppen [> 8.3]. Dabei geht es meist nicht um die tatsächliche physische Verwandtschaft [> 2.1] mit dem Ahnen, die gewöhnlich nicht rekonstruiert werden kann; wichtig ist die Vorstellung, von bestimmten Ahnen abzustammen. Verwandtschaft fungiert hier als Symbol politischer Einheit bzw. Differenzierung.

Die Zugehörigkeit zu einer konkreten Stammesgruppe ist in vielerlei Hinsicht von großer Bedeutung. Vor der Etablierung der französischen Kolonialherrschaft in der Region (1933) wurden politische und individuelle Konflikte vielfach mit kriegerischen Mitteln ausgetragen. Im Konfliktfall waren derartige genealogisch definierte Gruppen grundsätzlich zur Solidarität verpflichtet. Verwandtschaft konnte unter Umständen also über Krieg und Frieden entscheiden.

Sie hatte auch Auswirkungen darauf, wen man heiratete. Die Tendenz ging dahin, die Partnerin bzw. den Partner in tribalen Gruppen zu suchen, denen man selbst angehörte. Dies war aber keine absolute Verpflichtung. In vielen anderen traditionellen Gesellschaften gab es feste Regeln, wer geheiratet werden durfte – z.B. die Verpflichtung, eine Frau außerhalb der eigenen Deszendenzgruppe zu suchen (Exogamie).

Wann immer im tribalen Kontext in Zentralmarokko jemand Unterstützung benötigt, sind die in väterlicher Linie Verwandten (die Agnaten [> 6.2]) zur Hilfe verpflichtet: also der Bruder, der Cousin väterlicherseits (FBS [> 5.2]) usw. Diese Verpflichtungen sind wechselseitiger Art. Für andere Verwandte gibt es keine derartig formell festgelegten Verpflichtungen. Das schließt aber nicht aus, daß man sich in manchen Kontexten z.B. an einen Mutterbruder um Beistand wenden kann. Auch sind die Verpflichtungen unter Agnaten zunächst einmal Handlungsideale. Sie werden nicht automatisch befolgt; inwieweit sie im konkreten Fall praktisch wirksam werden, das ist von einer Vielzahl von Faktoren abhängig, unter denen Verwandtschaft nur einer ist. Trootzdem hatten und haben sie erhebliches moralisches und praktisches Gewicht, und es muss gegebenenfalls gute Gründe geben, um sich über sie hinwegzusetzen.

In der vorkolonialen Zeit, in der es de facto keine exekutive Gewalt gab, galt: Wenn z.B. ein Mann einen anderen tötete, dann waren die engsten Agnaten des Täters ebenso wie er selbst potentielle Opfer für Blutrache. Die Blutrache musste wiederum von den engsten Agnaten des Opfers ausgeübt werden. Alternativ dazu konnten diese auch auf die Rache verzichten und hatten dann Anspruch auf Blutgeld. Das Blutgeld wurde von den Agnaten des Täters gemeinsam bezahlt und unter jenen des Opfers aufgeteilt. Die rechtliche Verantwortung wurde immer von mehreren in väterlicher Linie verwandten Personen geteilt.

Diese Arten von eindeutig definierten wechselseitigen Rechten und Pflichten fallen in den Bereich der formellen Dimensionen von Verwandtschaftsbeziehungen. Sie sind kulturelle Regeln, die meist von den einheimischen Akteuren explizit artikuliert werden können. Daneben gibt es aber auch implizitere Formen von Beistandsleistung und gegenseitiger Unterstützung. Sind im rechtlichen Bereich – wie in der tribalen Organisation insgesamt – im Hohen Atlas die genealogischen Beziehungen zwischen Agnaten dominierend, so sind im informellen Bereich auch maternale [> 6.2] und affinale Beziehungen [> 6.1.2] von großer praktischer Bedeutung. Emrys Peters hat in der ähnlich strukturierten Gesellschaft der Beduinen der Kyrenaika in Libyen gezeigt, dass maternale und affinale Beziehungen für die Nomaden ökonomisch entscheidend sein können, da ein Mann z.B. in Zeiten lokalen Wassermangels auf die Tränken auf dem Land der Gruppe seiner Mutter oder seiner Frau zurückgreifen kann (Peters 1967: 272–275; vgl. Kraus 2004: 80).

In anderen Gesellschaften können die formellen und informellen Dimensionen von Verwandtschaft ganz anders strukturiert sein. Es ist auch möglich, dass diese Unterscheidung weniger deutlich oder überhaupt nicht getroffen werden kann.

Nächstes Kapitel: 2. Was ist Verwandtschaft?


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