Die Praxeologie Pierre Bourdieus/Praxis

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Vorheriges Kapitel: 2.2 Zirkulation und Umwandlung von Kapitalformen

2.3 Praxis

verfasst von Werner Zips und Matthäus Rest
Foto: Kinder beim Spielen in Kampong Cham, Kambodscha 2004, Anna Ellmer

Als eine Art teilnehmende BeobachterIn und DechiffreurIn steht die EthnologIn in der Gefahr, die gesellschaftlichen Praxisformen auf symbolische Tauschbeziehungen zu reduzieren und die gesellschaftlichen Beziehungen als Kommunikationsphänomene zu interpretieren. Sprache wird damit vom Handlungs- und Ausdrucksmittel zum bloßen Decodierungsinstrument. So wie ArchitektInnen häufig Städte für ZuschauerInnen und nicht BewohnerInnen entworfen haben, verhält sich die EthnologIn zum praktischen Handeln distanziert aus der BeobachterInnenrolle. Die Praxis sollte aber nicht wie in zahlreichen impliziten oder expliziten Theorien als Objekt behandelt, sondern als Praxis konstituiert werden. Führen wir den Faktor der Unsicherheit ein, lässt sich beispielweise von den beobachtbaren Ehrverhaltensweisen eine der Improvisierkunst des Ehrenmannes adäquatere Darstellung geben als durch aufwendige mechanische Modelle. In der Sprache der Regel und des Modells erscheint die praktische Beherrschung der Symbolik sozialer Interaktionen (wie Takt, Fingerspitzengefühl oder Ehrgefühl) ausgeblendet. Es gibt klare Korrelationen zwischen verwendeter Sprache und Eigenschaften wie Geschlecht, Alter, Wohnsitz und Beruf; der Inhalt der Kommunikation wird durch die Beziehungsstruktur der Sprecher verändert. Bestimmte Situationen verlangen unter dem Druck der gesellschaftlich bestimmten objektiven Situation nach einer ganzen Sprache (Scherze, Ton, Akzent); die Art der Sprache und Ausdrucksformen in Gang, Haltung, Mimik ergibt sich durch den fortwährenden unbewussten Bezug auf die Struktur der sozialen Beziehungen zwischen den Individuen, auf ihre jeweiligen Positionen innerhalb der Hierarchien von Alter, Macht, Prestige und Bildung. Durch dieses permanente praktische Erkennen erfolgt die Anpassung der Praktiken und Expressionen an die Erwartungen und Reaktionen der anderen Handlungssubjekte (Bourdieu 1979: 140-146).

Inhalt

2.3.1 Drei Modi der theoretischen Erkenntis

Bourdieu unterscheidet drei Modi der theoretischen Erkenntnis, denen gemeinsam ist, in Gegensatz zum praktischen Erkenntnismodus zu stehen:

  1. den phänomenologischen (z.B. interaktionistische oder ethnomethodologische),
  2. den objektivistischen (z.B. strukturalistische Hermeneutik)
  3. und den praxeologischen.

Die phänomenologische Erkenntnis erklärt die Primärerfahrung mit der sozialen Welt und schließt nach Auffassung Bourdieus die Frage nach den Bedingungen ihrer eigenen Erkenntnis aus; die objektivistische erstellt die objektiven (ökonomischen oder linguistischen) Beziehungen, welche die Praxisformen und ihre Repräsentationen strukturieren - um den Preis des Bruches mit der primären praktischen Erfahrung. Die praxeologische Erkenntnisweise dagegen erforscht nicht nur das System objektiver Relationen, sondern die dialektischen Beziehungen zwischen diesen objektiven Strukturen[1] und den strukturierten Dispositionen, die diese reproduzieren - kurz den doppelten Prozess der Verinnerlichung des Äußeren und der Veräußerlichung des Inneren (Interiorisierung der Exteriorität und Exteriorisierung der Interiorität) (ebd.: 146f.).

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 2.3.3


2.3.1.1 Phänomenologie

Dem phänomenologischen Ansatz konzediert Bourdieu (1979: 149f.) seine Konstruktionen zweiten Grades, den account of accounts im Sinne Alfred Schütz‘ oder Garfinkel‘s, kritisiert aber den Anspruch, diese vorwissenschaftliche Repräsentation der sozialen Welt als Wissenschaft dieser sozialen Welt auszugeben. Denn - wie Habermas[1] sagen würde: damit wird alles ausgeblendet, was auf diese Lebenswelt und deren Repräsentation von außen einwirkt. Die Konstruktion objektiver Strukturen (Preiskurven, Bildungschancen, Gesetze des Heiratsmarktes) lässt erst die Mechanismen erkennen, durch welche die Beziehungen zwischen Strukturen[2] und Praktiken[3], respektive deren Repräsentationen gestaltet werden. Dadurch - so Bourdieu in seiner Kritik weiter - schließt der Interaktionismus den Einfluss der Strukturen auf die Interaktionen und deren Repräsentationen aus. Diese Richtung übernimmt damit die Spontantheorie des Handelns, die das Subjekt zum quasi freien, strategisch entscheidenden Subjekt erklärt und hebt die kleinbürgerliche Sicht gesellschaftlicher Beziehungen als freien Gestaltungsraum zu einer Theorie der sozialen Welt.

Das hat zur Konsequenz, die Wissenschaft von der Gesellschaft zu einer Bestandsaufnahme des krud Gegebenen, der herrschenden Ordnung zu reduzieren. Mit der bloßen Konzeptualisierung der (gemeinsamen) Alltagserfahrung geht die Reformulierung einer Repräsentation gesellschaftlicher Wirklichkeit einher, die in der Regel mit den Interessen einer bestimmten Gruppe im Einklang steht. In der Ethnologie lässt sich das an manchen herrschaftsunkritischen Darstellungen zeigen, die mitunter einen bestimmten (z.B. androzentrischen) Standpunkt privilegieren. Das hängt damit zusammen, dass herrschende Gesellschaftsgruppen auch die Macht zur Repräsentation innehaben. Was könnte dagegen eine Soziologie oder Anthropologie der Politik leisten, die sich um die Aufdeckung der erkenntnistheoretischen Mechanismen bemühte, die der Aufrechterhaltung der herrschenden Ordnung dienen?

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 3
[2] Siehe Kapitel 2.3.3
[3] Siehe Kapitel 2.3


2.3.1.2 Objektivismus

Foto: Ein Milchtransport in der Nähe von Dukla, Polen 2006, Matthäus Rest

Der Objektivismus nimmt die Praxis[1] negativ, das heißt als Ausübung/Ausführung wahr. Daraus ergibt sich die Alternative, sich mit deren Bestandsaufnahme zu begnügen, ohne die Frage nach den Erzeugungsprinzipien dieser Praxis zu stellen, oder den wissenschaftlichen Konstrukten wie Kultur, Struktur, Klasse, Produktionsweise etc. Subjekthaftigkeit zu geben, die sie wie Subjekte handeln und auf die Praxis Zwang ausüben lässt. Es ist naiv, zu glauben, dass die Praktiken quasi gehorsam Regeln befolgen. Regeln im Sinne eines Schemas oder Prinzips sind der Praxis aber insofern eingeschrieben, als sie innerhalb der Praxis der Handlungssubjekte in praktischem Zustand zur Anwendung kommen, ohne sich in deren Bewusstsein zu befinden. Die Theorie des Handelns auf eine einfache Ausübung des Modells zu reduzieren, schafft ein Missverständnis, denn die Sache der Logik ist nicht identisch mit der Logik der Sache: die objektive Bedeutung der Praxisformen entspricht nicht dem subjektiven Zweck des Handelns der Produzenten dieser Praxisformen. Den homo oeconomicus, der ständig nach rationalem Kalkül entscheidet, gibt es ebenso wenig wie Akteure, die bloße Rollen ausführen oder gemäß Modellen handeln (Bourdieu 1979: 158-164).

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 2.3

2.3.1.3 Praxeologie

Foto: Rai-Frauen bei einer Feuerbestattung nahe Hedangna, Nepal 2008, Matthäus Rest

Der Strukturalismus hypostasiert die Systeme objektiver Beziehungen. Er verwandelt sie in präkonstruierte Totalitäten, jenseits der Geschichte des Individuums und der Geschichte der Gruppe. Um ihn zu überwinden, genügt es, vom opus operatum, den statistischen Regelmäßigkeiten bzw. der algebraischen Struktur, zum modus operandi, dem Erzeugungsprinzip dieser beobachteten Ordnung überzugehen. Die daraus folgende Theorie der Praxis, oder präziser die Theorie des Erzeugungsmodus der Praxisformen, hat die Dialektik der Verinnnerlichung des Äußeren und der Veräußerlichung des Inneren zum Gegenstand: die für eine soziale Umgebung konstitutiven Strukturen erzeugen Habitusformen[1], d.h. Systeme dauerhafter Dispositionen, strukturierte Strukturen[2], die als strukturierende Strukturen wirken. Damit ist gemeint, dass die Habitusformen als Erzeugungs- und Strukturierungsprinzipien von Praxisformen[3] und deren Repräsentationen funktionieren; sie sind objektiv "geregelt", ohne auf der gehorsamen Erfüllung von Regeln zu beruhen. Disposition drückt für Bourdieu (1979: 446) das aus, was der Begriff Habitus umfasst: zum einen das Resultat einer organisierenden Aktion, zum anderen eine Seinsweise, einen habituellen Zustand (vor allem des Körpers) und eine Tendenz oder Neigung. Die Habitusformen können bestimmten Zwecken angepasst sein, ohne dass die Handlungssubjekte diese Zwecke bewusst anvisieren müssen. Sie können weiters kollektiv abgestimmt sein, ohne eines Dirigenten zu bedürfen. Der Habitus erzeugt gewissermaßen Strategien[4], die es erlauben, neuartigen Situationen entgegenzutreten, weist aber durch seine vergangenen Bedingungen die Tendenz auf, die objektiven Strukturen zu reproduzieren (ebd.: 164-165).

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 2.3.2
[2] Siehe Kapitel 2.3.3
[3] Siehe Kapitel 2.3
[4] Siehe Kapitel 2.3.5

2.3.2 Habitus

Foto: Ein ehemaliger Häftling von Robben Island vor einer Originalaufnahme mit Häftlingen und Gefängniswärtern, Robben Island, Südafrika 2005, Matthäus Rest

Der Habitus ist zur "Natur" gewordene Geschichte, die negiert wird, weil sie als Natur empfunden wird. Dieser Mensch der Vergangenheit, diese vergessene Geschichte bildet den unbewussten Teil unserer selbst. Durch die objektive Übereinstimmung der Habitusformen der Gruppen und Klassen stehen die Praxisformen und Praktiken objektiv in Einklang. Der Habitus ist das durch die primäre Sozialisation dem Individuum eingegebene immanente Gesetz, das wie ein gemeinsamer Code zumindest ein Minimum an Übereinstimmung innerhalb einer Gruppe bewirkt. Jedes Individuum ist gewollt oder nicht, bewusst oder nicht Produzent und Reproduzent eines bestimmten objektiven Sinns. Durch die Theorie des allen Klassen oder "Kulturen" eigenen Habitus wird die situationalistische Reduktion der Ethnomethodologie oder des Interaktionismus überwunden, indem die interpersonalen Beziehungen nicht losgelöst von den sozialen Faktoren und Beziehungen betrachtet werden. Denn die physischen Personen tragen ihre gegenwärtige wie vergangene Position innerhalb der Sozialstruktur in Gestalt der Habitusformen immer und überall mit sich herum. Die Übereinstimmung ästhetischer Geschmäcker oder ethischer Neigungen hat gesellschaftliche Bedingungen (Bourdieu 1979: 171- 182): "Kurz, der Habitus, dieses Produkt der Geschichte, erzeugt entsprechend den von der Geschichte erzeugten Schemata individuelle und kollektive Praxisformen - folglich Geschichte" (ebd.: 182).

Praxis[1] versteht Bourdieu (1987: 98) als den Ort der Dialektik von objektivierten und einverleibten Ergebnissen der historischen Praxis, von Strukturen[2] und Habitusformen. Diese Habitusformen werden durch Konditionierungen, die mit einer bestimmten Klasse von Existenzbedingungen verknüpft sind, erzeugt. "Sie sind Systeme dauerhafter und übertragbarer Dispositionen - strukturierte Strukturen, die als strukturierende Strukturen fungieren; d.h.: als Erzeugungs- und Ordnungsgrundlagen für Praktiken und Vorstellungen. Als Produkt der Geschichte produziert der Habitus individuelle Praktiken und kollektive Praktiken, also Geschichte, nach den von der Geschichte erzeugten Schemata; er gewährleistet die aktive Präsenz früherer Erfahrungen, die sich in jedem Organismus in Gestalt von Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata niederschlagen..." (Bourdieu 1987: 101). Über den Habitus regiert die Struktur die Praxis; er erzeugt die vernünftigen Verhaltensweisen des Alltagsverstandes. "Als einverleibte, zur Natur gewordene und damit vergessene Geschichte ist der Habitus wirkende Präsenz der gesamten Vergangenheit, die ihn erzeugt hat" (ebd.: 105). Geschichte wird damit aus Geschichte erzeugt, wodurch Dauerhaftigkeit im Wandel gewährleistet wird.

Diese theoretische Sichtweise vom Habitus steht sowohl zu Annahmen der mechanischen Notwendigkeit von Praktiken als auch zur völligen Freiheit der Reflexion in Widerspruch; das praktische Handeln wird weder geschichtslosen Mechanismen noch trägheitslosen Subjekten rationalistischer Theorien überlassen. Praktiken von Mitgliedern einer Gruppe oder Klasse sind besser aufeinander abgestimmt, als die Handelnden selbst wissen. Der Habitus versucht sich selbst zu bestärken, indem er die Auswahl zwischen Orten, Ereignissen und Personen des Umgangs trifft; dadurch schützt sich der Habitus vor Krisen, indem er sich ein Milieu schafft, an das er vorangepasst ist.

Für Bourdieu sind die sozialen Akteure keine Epiphänomene der Strukturen; Handlungen bestehen nicht nur im Vollzug von Regeln. Sie sind keine geregelten Automaten, die mechanischen Gesetzen gehorchen. Noch in den kompliziertesten Handlungsverläufen setzen sie inkorporierte Prinzipien eines generativen Habitus ein: dieses System von Dispositionen wird durch Erfahrung erworben, ist folglich je nach Ort und Zeit variabel. Statt einer Verwandtschaftsregel - wie die Strukturalisten - erkennt Bourdieu eine Heiratsstrategie, allerdings ohne teleologische Gerichtetheit. Denn das Verhalten kann auf Ziele gerichtet sein, ohne bewusst durch sie geleitet zu werden. In den kollektiven Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata der sozialen Gruppen können sich positionsbedingte Nutzenkalküle eingelagert haben, die nicht mehr individuell bewusst gehalten werden. Diese gruppenpezifischen Handlungsorientierungen nannte er Habitusformen; sie reichen über den individuellen Sinnhorizont hinaus (Honneth 1990: 169-170).

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 2.3
[2] Siehe Kapitel 2.3.3

2.3.3 Struktur

Foto: Ein Klassenfoto aus mehreren Perspektiven, Simigaon, Nepal 2004, Matthäus Rest

Das Verhältnis zwischen Struktur und Praxis[1] ist nicht vergleichbar mit jenem zwischen Partitur und Ausführung. Ein solcher Objektivismus[2] konstruiert einen von Gesetzen der Naturgeschichte unterjochten Menschen. Haben die Strukturen als Erzeugnisse menschlicher Aktion die Macht, sich nach eigenen Gesetzen zu entwickeln und andere Strukturen zu determinieren? Anhand der Habitustheorie lässt sich diese Frage verneinen. Die Diskussion über das Verhältnis Kultur-Individuum in der amerikanischen Anthropologie erscheint deshalb so karikaturhaft weil sie anstatt einer dialektischen Sichtweise die "Basispersönlichkeit" als eine Art Miniausgabe der Kultur entwarf. Hingegen stellt der Habitus das Produkt der Einprägungs- und Aneignungsarbeit dar, die für die (individuelle) Reproduktion der Hervorbringungen der kollektiven Geschichte (Sprache, Wirtschaftsform etc) einer den gleichen Existenzbedingungen unterworfenen Gruppe erforderlich ist.

Die Erfahrungen der Mitglieder dieser Gruppe werden zwar niemals völlig identisch sein, aber die Aussichten mit bestimmten Situationen häufiger als Mitglieder anderer Gruppen konfrontiert zu sein, sind zweifellos größer (z.B. Beschäftigungsrate, Schulbildung, Einkommenskurven, Urlaubshäufigkeit und -ziele). Der Habitus ist keineswegs statisch, sondern bestimmt die Rezeption bestimmter Erfahrungen, wie beispielsweise der schulischen Erfahrung, wird dadurch verändert und liegt wieder der Strukturierung durch die Berufserfahrung oder den von der Kulturindustrie ausgesandten Botschaften zugrunde; und das von Restrukturierung zu Restrukturierung. Im persönlichen Stil zeigt sich der Habitus ebenso in seinem Verweis auf den gemeinsamen Stil durch die Unterscheidung. Die Systeme der individuellen Dispositionen können als strukturelle Varianten des Gruppen- oder Klassenhabitus gesehen werden. Der persönliche Stil ist daher nicht mehr als eine geregelte und zuweilen sogar kodifizierte Abweichung gegenüber dem Gruppenstil.

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 2.3
[2] Siehe Kapitel 2.3.1.2

2.3.4 Hexis

Foto: Die beiden Köchinnen der Sonop Wine Farm, Paarl, Südafrika 2005, Matthäus Rest

Kinder schenken in allen Gesellschaften den Gesten und Haltungen der Erwachsenen Aufmerksamkeit; ob in Diskursen wie Sprichwörtern, Redewendungen, Liedern, Spielen, in den Objekten wie Werkzeuge, Haus oder Dorf oder in Praktiken[1] wie Ehrenduelle, Riten oder Gabentausch, das Material des Lernens bleibt stets das Produkt der Anwendung einer kleinen Anzahl zusammenhängender praktischer Prinzipien. Im Bereich der geschlechtlichen Arbeitsteilung werden die Schemata durch die Asymmetrie der Beziehungen zu Vater und Mutter verinnerlicht. Wie das Ethos oder der Geschmack ist auch die Hexis eine einverleibte permanente Disposition: die dauerhafte Art und Weise, sich zu geben, zu sprechen, zu gehen, zu fühlen und zu denken. Die gesamte Moral des Ehrverhaltens ist in der Hexis sowohl symbolisiert wie realisiert. So ist der Gang des Ehrenmannes entschieden und resolut, im Gegensatz zum zögerlichen unsicheren Schritt. Der männliche Mann bietet die Stirn und schaut seinem Gegenüber ins Gesicht; wachsam, weil ständig bedroht nimmt er alles in seiner Umgebung wahr, während ein in die Luft schauernder Blick einen unverantwortlichen Mann kennzeichnet (Bourdieu 1979: 189-192).

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 2.3

2.3.5 Strategie

Foto: Ein Schmied bei der Arbeit, Simigaon, Nepal 2004, Matthäus Rest

Um die faktischen Abweichungen zwischen dem tatsächlichen Verhalten der sozialen Akteure und den im Strukturalismus unterstellten Regeln erklären zu können, führte Bourdieu die Erklärungsvariable der kollektiven und gruppenspezifischen Handlungsstrategien ein, die in Form von habituellen[1] Dispositionen das Verhalten der Akteure steuern. Dadurch versuchen die Akteure unbewusst Ziele zu erreichen, die im strategischen Interesse ihrer jeweiligen Bezugsgruppe liegen. Aus theoretischer Sicht ging es ihm um eine Überwindung der Dichotomie zwischen Strukturalismus und Subjektphilosophie. Der Praxis handelnder Akteure sollte die vom Strukturalismus ausgeblendete aktive, schöpferische Dimension zurückgegeben werden, ohne die generativen Fähigkeiten der Dispositionen, als erworbene, gesellschaftlich konstituierte Habitusformen aufzugeben.

Habitus bezeichnet also das System erworbener Schemata von Anschauungs- und Wertungskategorien bzw. von Klassifizierungs- und Organisationsprinzipien des Handelns, das den sozialen Akteur beim praktischen Handeln nicht in idealistischer Weise völlig frei von gesellschaftlichen Verhältnissen erscheinen lässt. Allerdings scheint zwischen der kreativen, schöpferischen Dimension aller menschlichen Praxis[2] und der habitualisierten, sozial gesteuerten Bestimmung allen gesellschaftlichen Handelns eine unaufgelöste Spannung zu bestehen, wie Honneth (1985) argumentiert. Dieser Mangel erscheint mir nur durch eine kommunikationstheoretische Erweiterung des Ansatzes, im Sinne der Habermasschen Theorie des kommunikativen Handelns[3] (Habermas1985) behebbar.

Dafür scheint auch die Einführung des Begriffes der Strategie in die Sozialtheorie Bourdieus zu sprechen. Methodisch äußert sich diese Sichtweise im empirischen Nachfragen der Gründe ihrer Praktiken bei den Handlungssubjekten. Dabei ergaben sich erhebliche Unterschiede beispielsweise für das Heiratsverhalten von Berbern in Algerien, die aus der wissenschaftlich objektivistischen Analyse (z.B. der Genealogie) nicht zu gewinnen gewesen wären. Jenes Primat der objektivistischen Analyse[4] gegenüber der Auffassung der Betroffenen erschien Bourdieu zunehmend als Ausdruck einer Berufsideologie. Um diesem Defizit zu begegnen, verwendet er den Begriff der Strategie. Damit verbindet sich die Vorstellung, dass die sozialen Gruppen miteinander um gesellschaftliche Ehre kämpfen und die Handlungsstrategien, von denen sich die verschiedenen Sozialgruppen leiten lassen, auf den Erwerb von Prestige und Anerkennung gerichtet sind. In den Kämpfen um Anerkennung liegt eine fundamentale Dimension des sozialen Lebens, bei der es um die Akkumulation von symbolischem, d.h. auf Bekanntheit und Anerkennung begründetem Kapital geht.

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 2.3.2
[2] Siehe Kapitel 2.3
[3] Siehe Kapitel 3
[4] Siehe Kapitel 2.3.1.2

2.3.6 Doxa

Foto: Eine Bäuerin beim Kühetreiben in Zyndranowa, Polen 2006, Matthäus Rest

Die strenge Unterordnung unter kollektive Rhythmen beruht darauf, dass die Zeitformen und räumlichen Strukturen die Gruppe selbst strukturieren. Die Frauen gehen zum Brunnen wenn entweder keine Männer auf der Straße sind oder nehmen einen Weg, auf dem sich keine Männer befinden. Seine Aufgabe als Mann erfüllen, heißt der Sozialordnung und ihren Rhythmen zu folgen. In der Konformität und nicht in der Vereinzelung liegt eine fundamentale Tugend. Handlungen zur Unzeit sind suspekte Verhaltensweisen (z.B. lange schlafen). "Wer bis in die Mitte des Tages schläft, wird den suq verpassen." Sowohl Überstürzung als auch Langsamkeit sind gegen den kollektiven Rhythmus. Übereifer verwandelt die zirkuläre Zeit in eine lineare und die einfache Reproduktion in grenzenlose Akkumulation (Bourdieu 1979: 318- 324).

Jede herrschende Ordnung tendiert dazu, ihren spezifischen Willkürcharakter zu neutralisieren. Im Grenzfall erscheint die natürliche und soziale Welt als selbstverständlich; objektive Ordnung und subjektive Organisationsprinzipien fallen zusammen (wie bei den archaischen Gesellschaften). Die Willkür wird zugleich verkannt und damit auch anerkannt. Diese Erfahrung nennt Bourdieu "Doxa" und unterscheidet sie von der entweder orthodoxen oder heterodoxen Überzeugung: diese schließen eine Kenntnis und Anerkennung von unterschiedlichen oder antagonistischen Überzeugungen mit ein. Die Denk- und Wahrnehmungsschemata produzieren Objektivität, indem sie die Grenzen der Erkenntnis, die sie ermöglichen, unkenntlich machen. Über diesen Modus der Doxa realisieren sie das unmittelbare Verwachsensein mit der als natürlich erlebten und wie selbstverständlich vorgegebenen Welt der Überlieferung. Die von der sozialen Ordnung benachteiligten Kategorien, wie Frauen oder Jugendliche, müssen die Legitimität der herrschenden Ordnung anerkennen. Die Interessensgegensätze (etwa zwischen Geschlechtern) können sich nur in Handlungen und Diskursen ausdrücken, die sie im Akt des Auflehnens auch schon wieder annullieren. Die Taxonomien des mythisch- rituellen Systems legitimieren die Einheit in der Trennung, mithin die Hierarchie.

Dieses Feld der Doxa, des stillschweigend als selbstverständlich Wahrgenommenen, ist umso größer, je stabiler die objektiven Strukturen einer jeweiligen Gesellschaftsformation sind und je vollständiger sie sich in den Dispositionen der Handlungssubjekte reproduzieren. Wenn die objektiven und verinnerlichten Strukturen perfekt übereinstimmen, wird die kosmologische und politische Ordnung nicht als willkürlich wahrgenommen; vielmehr wird sie als fraglos und selbstverständlich vorgegebene, also als evidente und natürliche Ordnung verkannt und erkannt. Die Evidenz der Welt wird durch die Evidenz des institutionalisierten Diskurses über die Welt gleichsam verdoppelt. Zwischen das Kind und die Welt tritt die gesamte Gruppe als Vermittler. Sie vermittelt die Doxa mittels des gesamten Universums der rituellen Praktiken und Diskurse (der Redewendungen und Sprichwörter), die allesamt gemäß den Prinzipien des konformen Habitus[1] strukturiert sind. Im doxischen Verhältnis zur gesellschaftlichen Welt kommt das Verwachsensein zum Ausdruck - noch bevor die Frage nach der Legitimität auftritt. Denn diese Frage setzt Konkurrenz voraus, mithin den Konflikt zwischen Gruppen.

Die Doxa bildet jenes Ensemble von Thesen, die stillschweigend und jenseits des Fragens postuliert werden. Sie lassen sich nur aus der Retrospektive erkennen, wenn sie bereits fallengelassen wurden. Das Universum der Meinung als Universum konkurrierender Diskurse schafft die komplementäre Klasse zum Selbstverständlichen. Erst die Krise stellt die unmittelbare Anpassung der subjektiven an die objektiven Strukturen[2] zur Diskussion. Die Beherrschten müssen dafür aber über die materiellen und symbolischen Mittel verfügen, um die Definition der sozialen Welt zurückzuweisen (ebd.: 322-330).

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 2.3.2
[2] Siehe Kapitel 2.3.3

2.3.6.1 Orthodoxie

Wenn die willkürlichen Prinzipien der geltenden Klassifikation in Erscheinung treten, wird die bewusste Systematisierung und Rationalisierung erst notwendig. Das kennzeichnet den Übergang von der Doxa zur Orthodoxie. Diese ist ein System von Euphemismen, das die häretischen Äußerungen als Blasphemien zurückweist. Der Bereich des Diskurses ist alles, was diskutiert wird, in Relation zur komplementären Klasse des Unformulierten, Undiskutierten, Ungeprüften. In diesem Sinn ist die Sprache das praktische Bewusstsein. Die Grenze zwischen dem Bereich der Doxa und des orthodoxen oder heterodoxen Diskurses ist die Grenze zwischen radikalster Verkennung und Bewusstwerdung. Sartre meinte, dass Worte Verheerungen anrichten, wenn sie einmal benennen, was vorher ohne Benennung gelebt worden war. Die Macht der Sprache liegt darin, unformulierte Erfahrungen zu objektivieren, d.h. öffentlich werden zu lassen. Jede Sprache ist eine autorisierte Sprache, ausgestattet mit der Autorität einer Gruppe, die sie hören lässt. Die häretische Macht des Zauberers, des Propheten oder politischen Führers, welcher der Gruppe verkündet, was sie hören will, beruht auf der dialektischen Beziehung zwischen der autorisierenden und autorisierten Sprache und der Gruppe, die sie und darin sich selbst autorisiert (z.B. Xenophobie - Ausländerfeindlichkeit).


2.3.7 Beispiel: Sexualität in der Kabylie

Bourdieu erkennt den Gegensatz zwischen männlicher zentrifugaler und weiblicher zentripedaler Orientierung auch in der Sexualität reflektiert. Wie in jeder von männlichen Werten beherrschten Gesellschaft (welche die Männer der Politik, der Geschichte und dem Krieg überantwortet und die Frauen dem Herd, dem Roman und der Psychologie), ist auch in der kabylischen Gesellschaft das männliche Verhältnis zur Sexualität durch Sublimation gekennzeichnet. Der Mann nimmt den weiblichen Orgasmus beim Geschlechtsakt weder bewusst wahr, noch kümmert er sich darum und sieht in der Wiederholung statt in der Fortsetzung den Beweis männlicher Stärke. Sein Streben nach der sexuellen Heldentat und seine Angst vor Impotenz setzen die öffentliche Blamage durch den "Tratsch" der Frauen voraus. Gleichwohl ist in der Kabylie selbst die weibliche Rede von den männlichen Kategorien der Virilität und Heldentat strukturiert. Diese zu Körpern gemachten Werte finden sich jenseits der Bewusstseinsprozesse einverleibt.

Eine ganze Kosmologie, Ethik, Metaphysik und Politik werden durch so bedeutungslos erscheinende Befehle wie "halte dich gerade" oder "halte das Messer nicht in der linken Hand" eingeschärft. Die Institutionen und Gruppen geben den Konzessionen der Höflichkeit solche Bedeutung, weil sie auch politische Konzessionen beinhalten, nämlich den strukturellen Ausschluss der Auflehnung gegen die herrschende Ordnung[1]. Die Institutionen bestehen auf den symbolischen Beiträgen der Unterworfenen (wie Übergangsriten, Höflichkeitszeremonien - z.B. persönliche Einladungsschreiben); es sind Nichtigkeiten, deren Erfüllung nichts kostet und die so natürlich einklagbar scheinen ("das wäre doch das wenigste gewesen"). Ihre Unterlassung kommt einer Weigerung oder Herausforderung gleich (Bourdieu 1979: 195-201). "Die praktische Beherrschung dessen, was Höflichkeitsregel genannt wird, und vor allem die Kunst, jede der verfügbaren Formulierungen (etwa am Ende eines Briefes) den verschiedenen Klassen möglicher Empfänger oder Hörer anzupassen, setzt die implizite Anerkennung und Verkennung einer für die implizite Axiomatik einer bestimmten Ordnung konstitutiven Gesamtheit von Gegensätzen voraus" (ebd.: 201).

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 2.2.1


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