Die Praxeologie Pierre Bourdieus/Zirkulation

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Vorheriges Kapitel: 2.1 Kapitalformen

2.2 Zirkulation und Umwandlung von Kapitalformen

verfasst von Werner Zips und Matthäus Rest

Die Zirkulation zwischen den verschiedenen Kapitalarten zwingt uns zur Aufgabe der Dichotomie von Ökonomischem und Nicht-Ökonomischem. Vielmehr sind die ökonomischen Praktiken als besonderer Fall einer allgemeinen Wissenschaft der Ökonomie praktischer Handlungen zu fassen. Nur diese ist in der Lage, auch die scheinbar interesselosen und zweckfreien Handlungen als gewinngerichtet (auf einen materiellen oder symbolischen Gewinn) zu begreifen. Als eine verschleierte Form von ökonomischem Kapital[1] beruht das symbolische Kapital[2] auf dem Gelingen dieser Verschleierung (Bourdieu 1979: 356f.). In Gesellschaften ohne self-regulating market (Karl Polanyi), ohne Unterrichtssystem und juristischen Apparat, setzen sich die Herrschaftsformen nur kraft ständig erneuerter und fortwährend angewandter Strategien[3] durch. Sie sind ja nicht den objektiven Strukturen[4] eingeschrieben. Im einen Fall sind die Herrschaftsbeziehungen durch objektive und institutionalisierte Mechanismen (die wie schulische, monetäre und ständische Titel den undurchdringlichen Charakter von Dingen aufweisen) abgesichert, im anderen Fall werden sie durch Interaktion gebildet, aufgelöst und wieder hergestellt. Der Unterschied zwischen den Herrschaftsformen liegt also im Objektivierungsgrad des akkumulierten gesellschaftlichen Kapitals. Für die Bedeutung des symbolischen Kapitals auf dem Markt in der Kabylie (Algerien) steht der Satz: "Er ist imstande mit dem gesamten Markt heimzukehren, obwohl er doch mit leeren Taschen davonzog." Das Vertrauen und die Beziehungen erlauben es, nur das Gesicht, den Namen, die Ehre als "Kapital" auf den Markt mitzunehmen (ebd.: 358-360).

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 2.1.2
[2] Siehe Kapitel 2.1.1
[3] Siehe Kapitel 2.3.5
[4] Siehe Kapitel 2.3.3

Inhalt

2.2.1 Symbolisches Kapital und Herrschaft

Foto: Eine Gruppe von Schneiderinnen aus Num bereitet sich auf den Nachtmarkt im Nachbardorf vor, Nepal 2008, Matthäus Rest

Die theoretische Konstruktion der mechanischen Reziprozität bringt das Verfahren der organisierten und institutionell abgesicherten Verkennung zum Verschwinden. Ein Gutteil der symbolischen Arbeit wird aber dafür verwendet, die unabwendbaren Beziehungen der Verwandtschaft, Nachbarschaft oder Arbeit in auf Wahl beruhende Reziprozitätsbeziehungen umzuwandeln. In die Arbeit der Reproduktion bestehender Beziehungen durch Feste, Zeremonien, Geschenkaustausch, Besuche, Höflichkeiten, Heiraten geht nicht nur die zur Erfüllung der Tauschfunktion erforderliche Arbeit, sondern auch die Arbeit zur Verschleierung dieser Funktion ein. Eine auf Treu und Glauben aufgebaute Ökonomie wendet hohe Kosten für die Verschleierung der ökonomischen Strukturen auf.

Das lässt der Vergleich mit der Ökonomie des unverschleierten Interesses erkennen. Ein in Paris aufgewachsener Maurer hatte 1955 in der Kabylie einen Skandal verursacht, als er die ihm während der Arbeit angebotenen Speisen abgelehnt und danach einen Spesenersatz für Essen verrechnet hatte. Damit hat er die soziale Alchimie, die den Lohn für die Arbeitszeit in eine huldvolle Gabe verwandeln möchte, bloßgestellt. So hat das Abschlussessen bei der Ernte oder dem Bau eines Hauses die Funktion, eine interessegeleitete Transaktion in einen edelmütigen Austausch zu transformieren (Bourdieu 1979: 335-338). "Man kann einfach nicht, es sei denn, man wollte jemand beleidigen, ein Geschäft auf der Basis von Treu und Glauben und unter Menschen guten Glaubens, und gar noch zwischen Verwandten, von einem Notar, einem Kadi oder selbst einem Zeugen beglaubigen lassen wollen" (ebd.: 339). Bei Heiratsverhandlungen treten in einer ersten Phase angesehene Verwandte oder Verbündete als Garanten auf, wobei das zur Schau gestellte symbolische Kapital[1] eine Waffe während der Verhandlungen und eine Sicherheit nach Einigung bietet (ebd.: 340).

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 2.1.1

2.2.2 Symbolisches Kapital als Akkumulationsform

Das symbolische Kapital, das sich wie Prestige oder ein guter Ruf jederzeit in ökonomisches Kapital[1] verwandeln lässt, bildet eine kostbare Akkumulationsform, vor allem in Gesellschaften, wo es an unmittelbaren Akkumulationsmöglichkeiten für ökonomisches Kapital (aufgrund des schwach entwickelten Standes der Produktionsmittel) mangelt. Zudem wird die Konzentration materiellen Kapitals durch die fehlende kollektive Legitimation für die "Bereicherung" weiter gebremst. Daher muss das ökonomische Interesse verschleiert werden. Am besten lässt sich das durch die Umwandlung von ökonomischem in symbolisches Kapital[2] erreichen. In der auf Treu und Glauben beruhenden Wirtschaftsform in der Kabylie sind die beiden Kapitalformen (symbolisch und ökonomisch) derart ineinander verschränkt, dass ein guter Leumund die beste wenn nicht die einzige ökonomische Sicherheit bietet. Angesehene Verbündete können solchermaßen Gewinn abwerfen. Keine Gelegenheit wird ausgelassen, das symbolische Kapital zur Schau zu stellen, durch feierliche Umzüge der Verwandten und Verbündeten, in Brauteskorten, deren Wert sich nach der Zahl der Gewehre und der Stärke der abgefeuerten Salven zu Ehren der Brautleute bemisst, in blendenden Geschenken, endlich durch Zeugen und Garanten (bei Marktgeschäften und Heiratsverhandlungen).

Symbolisches Kapital stellt einen Kredit dar; seine regelmäßig überaus kostspielige Zurschaustellung wirkt als Mechanismus, warum Kapital zu Kapital kommt (vgl. Ghana: Saltpond, Ashanti). Diese symbolischen Gewinne, werden sie aufgerechnet, belegen die Rationalität von Verhaltensweisen, die der Ökonomismus als absurd abtut. Der Ankauf eines zweiten Ochsengespanns zu einem Zeitpunkt, wenn es nicht zur Aussaat gebraucht wird, verschafft der Familie aber möglicherweise eine Vermehrung an symbolischem Kapital für die Zeit der Eheverhandlungen. Demnach liegt den Verhaltensweisen der Ehre ein Interesse zugrunde, das als symbolisches Kapital an Ehre bzw. Kredit an Ehrenhaftigkeit besonders wertvoll und schutzwürdig ist (vgl. die Standesehre von Arzt und Rechtsanwalt) (ebd.: 348-353).

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 2.1.2
[2] Siehe Kapitel 2.1.1


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