Institutionalismus und Substantivismus/Substantivisten

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Vorheriges Kapitel: 4.2 Frühe VertreterInnen

4.3 Substantivisten

Verfasst von Gertraud Seiser und Elke Mader

Inhalt


4.3.1 Karl Polanyi

Karl Polanyi (1886 -- 1964)

1944: The Great Transformation

1957: Trade and Market in the Early Empires

1979: Ökonomie und Gesellschaft

Karl Polyanis These besagt, dass die neoklassische Wirtschaftstheorie nur auf die moderne Marktwirtschaft industrialisierter Systeme anzuwenden ist. In dieser ist die Wirtschaft aus der Gesellschaft herausgelöst, wohingegen in früheren oder weniger entwickelten Gesellschaften die ökonomischen Beziehungen im Gesellschaftssystem eingebettet sind. Hier gibt es also nicht graduelle Systemunterschiede ("große und kleine Äpfel"), wie Firth behauptet, sondern es variiert die Art ("Äpfel und Birnen") des wirtschaftlichen Handelns. Im Gegensatz zu Firth[2] sieht Polanyi die institutionellen Gegebenheiten ("substantial propositions") als universell gültig an, wohingegen die Art des wirtschaftlichen Handelns variabel ist.

Verweise:

[1] https://web.archive.org/web/20070625223441/http://www2.carthage.edu/~brent/polanyi1.gif
[2] Siehe Kapitel 3.1


4.3.1.1 The Great Transformation


  • Wir vertreten die These, daß die Idee des selbstregulierenden Marktes

eine krasse Utopie bedeutete.* (Polanyi 1978: 19)

Polanyi geht davon aus, dass der selbstregulierende Markt in seiner reinen Form Mensch und Gesellschaft zerstört. Staatliche und andere institutionelle Eingriffe in den Markt seien daher Selbstschutzmaßnahmen der Gesellschaft.

Die 'Great Transformation' ist 1944 erstmals erschienen, also zu einem Zeitpunkt, zu dem Terror und Zerstörungswut einen historischen Höhepunkt erreicht hatten. Polanyis explizites Ziel war, über die Befassung mit der Vergangenheit die Gegenwart zu erklären. Er versuchte herauszuarbeiten, welche ökonomischen und politischen Entwicklungen des 18 und 19. Jahrhunderts zu den Katastrophen der Ersten und Zweiten Weltkriegs und der von der Weltwirtschaftskrise geprägten Zwischenkriegszeit geführt hatten.

Seine zentrale These lautet: Die Ursprünge der Katastrophe liegen im utopischen Bemühen des Wirtschaftsliberalismus, ein selbstregulierendes Marktsystem zu errichten.

Marktsystem nach Polanyi:

  • Was auch immer die tatsächliche Einkommensquelle einer Person ist, sie ist das Ergebnis eines Verkaufs.
  • Marktwirtschaft: Dieses System müsse nach seiner Einführung sich selbst überlassen bleiben. Die Preise regulieren sich selbst.
  • Der Verkauf eines Kaufmanns umfasst nur Erzeugnisse. Dies hat noch keinen massiven Einfluss auf eine Gesellschaft.
  • Einkauf im Marktsystem: Rohstoffe und Arbeitskraft, also Mensch und Natur. "Die maschinelle Produktion in einer kommerziellen Gesellschaft bedeutet letztlich nicht Geringeres als die Transformation der natürlichen und menschlichen Substanz der Gesellschaft in Waren." Polanyi 1978: 70
  • Vor dem 19. Jahrhundert gab es keine Wirtschaftsform, die vom Markt gelenkt worden wäre. 'Adam Smiths[1]homo oeconomicus' ist nicht als Analyse der Vergangenheit, sondern als Projektion in die Zukunft entstanden.
  • Das Gemeinsame aller nicht-marktwirtschaftlichen Wirtschaftsformen besteht darin, daß sie in die Gesamtgesellschaft eingebettet sind. Der Mensch wurde als gesellschaftliches Wesen konstituiert.
  • Die wirtschaftliche Tätigkeit des Menschen ist in seine Sozialbeziehungen eingebettet.
  • Nicht individuelles Interesse an materiellem Besitz, sondern an der Sicherung des gesellschaftlichen Ranges, der gesellschaftlichen Ansprüche und Wertvorstellungen bestimmt sein Handeln. Die genauen Ausformungen sind sehr verschieden, aber das Wirtschaftssystem wird in jedem Fall von nicht-ökonomischen Motiven getragen.

Verweise:

[1] Siehe Kapitel 1.3.2


Theogrundlagen-273 1.gif

4.3.1.2 Wirtschaftstypen nach Polanyi


Polanyi postuliert vier Typen institutioneller wirtschaftlicher Gestaltungen, wobei die ersten drei sich grundlegend vom vierten unterschieden:

1. Reziprozität

2. Redistribution

3. Haushaltung

4. Markttausch.


4.3.1.2.1 Prinzip der Reziprozität


In Agrarritualen in den Anden wird ein reziprokes Verhältnis zwischen Menschen und Gottheiten angestrebt (Abb.: Alberdi 1992)

Darunter versteht Polanyi alle Formen von Austausch, die auf der sozialen Ebene in einer symmetrischen, äquivalenten Beziehung ablaufen, wie Gabe und Gegengabe.

Dabei herrscht kein Gewinnstreben, kein Prinzip der Arbeit gegen Entlohnung und kein Prinzip des geringsten Aufwands vor. In Gesellschaften, die auf Reziprozität beruhen, existieren vor allem keine Institutionen, die ausschließlich wirtschaftliche Ziele verfolgen. Reziprozität setzt Symmetrie voraus. Sie tritt vor allem in Gesellschaftssystemen auf, die auf Verwandtschaft beruhen und wirkt in erster Linie auf Familie und Verwandtschaft. Sie regelt in einem bestimmten Verwandtschaftssystem, wer für wen zu sorgen hat. Im matrilinearen Verwandtschaftssystem der Trobriander beispielsweise hat jeder Mann zu allererst für seine Schwester und deren Kinder zu sorgen.

Reziprozität bedeutet also nicht, dass die Verpflichtung zur Erwiderung der Gabe dieselbe Person trifft, die etwas erhalten hat. Es ist ein sehr viel abstrakteres Prinzip, das auf der Ebene der Gesamtgesellschaft wirkt und sich nicht auf die Interaktion zwischen zwei konkreten Personen beschränken lässt (vgl. Polanyi 1978: 77ff).

4.3.1.2.2 Prinzip der Redistribution


Tribute an den Großkönig. Relief aus Persepolis. Quelle: https://web.archive.org/web/20050726235305/http://employees.oneonta.edu/ [1]

Dieses Prinzip bezieht sich auf wirtschaftliche Bewegungen in Richtung auf ein Zentrum und zurück. Es beschreibt Güterflüsse in pyramidal geschichteten Gesellschaften. Redistribution ist ein Kennzeichen feudaler Systeme, bezieht sich auf ein Territorium und ist damit Teil des Bereichs der Politik.

Tribute, Steuern, oder Arbeitsleistungen gehen vom "gemeinen Volk" zum Häuptling, Herrscher, Priester, zur Regierung. Im Gegenzug erfolgen Leistungen der herrschenden Schicht (Güter und andere Leistungen) von oben nach unten, jedoch asymmetrisch und nicht äquivalent, d. h. von unten nach oben geht im Regelfall mehr als zurückkommt. In zentralisierten Häuptlingstümern werden z. B. Ressourcen an eine Zentralgewalt abgegeben, die diese hortet und wieder umverteilt.

Das Prinzip der Redistribution gibt aber noch keinen Aufschluss über die Herrschaftsform, diese kann despotisch und ausbeuterisch sein, aber auch auf Konsens beruhen. Wesentlich ist die Orientierung an einem Zentrum, auf das sich Güter und Leistungen richten, und das diese wieder umverteilt (Polanyi 1978: 81ff). Deshalb ist das Muster der Interaktion von Zentrizität gekennzeichnet. Entsprechende soziale Organisationsformen sind der vorkapitalistische Staat, Königtümer oder Stadtstaaten.

Die Produktion und Distribution von Gütern wird hauptsächlich durch Einsammlung, Lagerung und Redistribution organisiert, wobei der Häuptling, der Tempel, der Despot oder der Lord im Mittelpunkt dieses Systems steht. Da das Verhältnis zwischen den Führenden und den Geführten, je nach der Grundlage der jeweiligen politischen Macht, verschieden ist, wird auch das Prinzip der Redistribution so völlig verschiedene individuelle Motivationen berücksichtigen wie die freiwillige Aufteilung der Beute durch die Jäger bis zur Angst vor Strafe, die den Fellachen zur Ablieferung einer Art Steuern, der Naturalabgaben, veranlaßt." (Polanyi 1978: 83f)

Verweise:

[1] https://web.archive.org/web/20050726235305/http://employees.oneonta.edu/

4.3.1.2.3 Prinzip der Haushaltung


Gehöft von Bergbauern in Nepal, deren Wirtschaften stark auf den Eigenbedarf ausgerichtet ist. Foto: Elke Mader

Darunter versteht Polanyi die Produktion des Eigenbedarfs der Kleingruppe, die in sich möglichst geschlossen und autark ist.

Wie diese Gruppe in sich organisiert ist, spielt dabei keine Rolle. Polanyi bezieht sich auf die Unterscheidung von Aristoteles in Haushaltsführung ('oikonomía') und Gelderwerb. Aristoteles war davon überzeugt, dass die Produktion für den Gebrauch und der Verkauf von überschüssigen Gebrauchsgütern auf dem Markt einander nicht ausschließen und die Autarkie des Haushalts nicht gefährden würden.

Nur ein Genie der praktischen Vernunft konnte, wie er erkannt haben, daß das Gewinnstreben ein für die Marktproduktion charakteristisches Motiv ist und daß der Geldfaktor ein neues Element einführte; daß aber das Prinzip der Produktion für den Gebrauch weiterhin funktionieren würde, solange Märkte und Geld bloß Anhängsel eines ansonsten autarken Haushalts blieben." (Polanyi 1978: 85)

Diese drei Prinzipien unterscheiden sich aber grundsätzlich vom vierten, denn:

Im weiteren Sinn gilt jedoch die These, dass alle uns bekannten Wirtschaftssysteme bis zum Ende des Feudalismus in Westeuropa auf den Prinzipien der Reziprozität oder Redistribution oder aber der Haushaltung beziehungsweise einer Kombination dieser drei beruhte. Diese Prinzipien waren mit Hilfe gesellschaftlicher Organisationen institutionalisiert, die sich inter alia auch die Formen der Symmetrie, der Zentrizität und der Autarkie zunutze machten. In diesem Rahmen wurde die geordnete Produktion und Distribution von Gütern durch eine Vielfalt von individuellen Motivationen gesichert, die ihrerseits durch allgemeine Verhaltensnormen in Schranken gehalten wurden. Bei diesen Motivationen spielte das Gewinnstreben keine hervorragende Rolle. Brauch und Gesetz, Magie und Religion wirkten zusammen, um den einzelnen zu Verhaltensnormen zu veranlassen, die letztlich seine Funktion innerhalb des Wirtschaftssystems sicherten." (Polanyi 1978: 86f)

Sowohl dort wo Reziprozität vorherrscht als auch dort, wo Redistribution dominiert, ist das ökonomische System eine Funktion der gesellschaftlichen Organisation.

4.3.1.2.4 Marktprinzip


Altar umgeben von Pepsi-Cola Werbung, Nepal. Foto: Elke Mader

Beim (Markt)Tausch handelt es sich um Transaktionen zwischen Individuen nach dem Zufallsprinzip, die unabhängig von ihrer gesellschaftlichen Beziehung sind. Nur diese beruhen auf rationaler Entscheidung und Nutzenmaximierung.

Was das Prinzip des Tauschhandels von den anderen fundamental unterscheidet, ist, dass seine Wirksamkeit von der Existenz des Marktes abhängig ist. Der Markttausch bedarf einer eigenen Institution, die nur ihm selbst dient, das Marktsystem. Dieses hat nach Polanyi ungeheure Bedeutung für die Gesamtgesellschaft, da das Marktsystem die Gesellschaft zu seinem Anhängsel degradiert: "Die Wirtschaft ist nicht mehr in die sozialen Beziehungen eingebettet, sondern die sozialen Beziehungen sind in das Wirtschaftssystem eingebettet" (Polanyi 1978: 88f).

Dem Markttausch entspricht die Marktwirtschaft. In dieser wird die Warenproduktion und --distribution ausschließlich über märkte kontrolliert und gesteuert. Nur diese Wirtschaftsform beruht auf der Erwartung, dass Menschen sich immer so verhalten, um einen maximalen Gewinn zu erzielen. Sie setzt den Mechanismus der Preisbildung über Angebot und Nachfrage sowie den Einbezug von Arbeit, Boden und Geld in den Markt voraus (Polanyi 1978: 102).

Für ihn ist die Marktwirtschaft ein System von sich selbst regulierenden Märkten in dem das gesamte ökonomische Leben durch die Warenpreise am Markt bestimmt werden. Die Grundlage dieses Systems sah er im Profitmotiv und in der Existenz von Waren in Form von Land, Arbeit und Geld.

Trotz der Ausweitung des Marktwesens im Merkantilismus ab dem 16. Jahrhundert ist die Vorstellung eines sich selbst regulierenden Marktes erst im 19. Jahrhundert bedeutend geworden.

Die Nicht-Marktgesellschaft mit den Integrationsformen Reziprozität und Redistribution sah er als absolutes Gegenteil des Markttauschsystems. 1944, in 'The great Transformation' stellte er noch eine weitere Nicht-Marktintegrationsform auf, das "Haushalten" auf der Ebene von autarken Einzelhaushalten. Diese Prinzipien existieren meist nebeneinander.

Die Nicht-Marktökonomien zeichnen sich durch folgende Prinzipien aus:

  • es gibt kein Gewinnmotiv;
  • keine Nutzenmaximierung durch die Einzelnen;
  • es gibt keine Lohnarbeit und keine spezifisch ökonomischen Institutionen.

Für Polanyi hat die kapitalistische Ökonomie Ende des 18. Jhds eine radikal neue Form der ökonomischen Organisation hervorgebracht, die in der gesamten vorherigen Menschheitsgeschichte keine Entsprechung hat. Und diese Organisationsform ist das Marktsystem.

4.3.1.3 Polanyi und die Zerstörung der Gesellschaft durch den Markt


Karl Polanyi hält das Marktprinzip für einen grundsätzlich die Gesellschaft zerstörenden Faktor. Seine Argumentationslinie lässt sich diesbezüglich wie folgt zusammenfassen:

Der Mensch ist von "Natur aus" gesellschaftlich konstituiert und in vielfältige soziale Beziehungen eingebettet. Im Rahmen dieser sozialen Einbettung finden auch seine wirtschaftlichen Aktivitäten statt, die in so ferne Grund legend sind als sie ihn als Individuum und als Gesellschaft physisch am Leben erhalten. Die Gesellschaften tragen über Normen und Prinzipien Sorge dafür, dass die wirtschaftliche Versorgung funktioniert, dieser kommt aber kein bestimmender Platz in der Gesellschaft zu. Durch die Durchsetzung des Marktsystems mit staatlichen Zwangsmitteln hat sich dieses Verhältnis zwischen den Institutionen einer Gesellschaft verändert. Das wirtschaftliche System wurde in eine separate Institution ausgelagert, die auf spezifischen Zielsetzungen und Motivationen beruht: dem homo oeconomicus. Die Gesellschaft muss nunmehr so gestaltet werden, dass das wirtschaftliche System in Einklang mit den eigenen Gesetzen der Institution -- jenen des selbst regulierenden Marktes -- funktionieren kann.

Dieser sich selbst regulierende Markt entstand allerdings keineswegs einfach so aus sich selbst heraus. Er bedurfte und bedarf enormer Machtmittel, um ihn durchzusetzen und zu schützen.


4.3.1.4 Grundlagen des selbst regulierenden Marktes: Arbeit, Boden und Geld


Warenangebot für TouristInnen, Nepal. Foto: Elke Mader

Die wesentlichste Voraussetzung für die Errichtung eines Marktsystems, also eines selbst regulierenden Marktes, ist die institutionelle Abtrennung der Sphäre der Wirtschaft aus den anderen Institutionen der Gesellschaft. Dies konnte nur erreicht werden durch die Transformation von Boden, Rohstoffen und Arbeit, also von Mensch und Natur in Waren, deren Preise über den Markt sich selbst regeln. Dazu müssen alle Elemente der wirtschaftlichen Tätigkeit -- auch Boden, Arbeit und Geld -- dem Marktsystem unterliegen. Dies war nach Polanyi vor dem Europa des 19. Jahrhunderts nie und nirgends der Fall. Waren sind nach Polanyi Objekte, die für den Verkauf auf dem Markt produziert werden. Sie unterliegen dem Angebots- und Nachfragemechanismus.

4.3.1.5 Formen des Handels nach Polanyi


Chilis auf einem Markt in Burma. Foto: Elke Mader

Dementsprechend gibt es für ihn auch drei Formen des Handels:

1. Gabenhandel (Reziprozität), ('gift trade'): Jegliche Form von Gütertransaktion wird als Gabentausch inszeniert.

2. Verwalteter Handel (Redistribution), Preisregelung im "verwalteten Handel": Festsetzung von Festpreisen entweder durch eine Gruppenentscheidung von Anbietern oder von der Marktbehörde im Einvernehmen mit den Anbietern. Z. B. wurde im alten Athen der Preis von Mehl und Brot durch Gesetz im Verhältnis zum Getreidepreis festgesetzt. Handelsplätze ('Ports of Trade'): "Handelsplatz" ist Polanyis Bezeichnung für eine Niederlassung, die als Kontrollpunkt im Handel zwischen zwei Kulturen mit verschiedenartig strukturierten ökonomischen Institutionen fungiert -- im typischen Fall zwischen professionellen Händlern und einer marktlosen Gesellschaft. Handelsplätze sind eine Art von "Freihandelszonen", stehen unter dem Schutz der politischen Autoritäten, die Händler haben freies Geleit und dürfen sogar in Feindesland. Beispiele: phönikische Häfen des Altertums, assyrische Handelskolonien in Kleinasien, Handel zwischen indischen Häfen und Binnenhauptstädten. Die Handelsplätze sind eine Einrichtung, die die marktlose Macht unter Kontrolle hat und die sie vor Einflüssen schützen, die sonst ihre Wirtschaft und Gesellschaft zersetzen (z. B. chinesische Wirtschaftszonen als Pufferzone zwischen Händler und Hinterland). Örtliches Marktgeschäft und Fernhandel sind streng voneinander getrennt.

3. Markthandel existiert seit Ende des 18. Jhds (in Europa und Nordamerika). Reguliert sich selbst und jegliche Einflussnahme durch Gesellschaft und Staat wirkt verfälschend auf die Preise und die Produktion.

4.3.2 George Dalton

Maniok auf einem Markt in Ghana. Foto: Ulrike Davis-Sulikowski.

George Dalton war Schüler von Polanyi, er promovierte in den 50er Jahren an der Columbia University.

'Economic Theory and Primitive Society' (1961) gilt als das theoretische Credo der substantivistischen Position. Er arbeite mit Paul Bohannan ('spheres of exchange') zusammen, mit dem er, aufgrund von Forschungen in afrikanischen Ländern, drei Gesellschaftsformen unterschied:

1. Marktlose Gesellschaften:

Gekennzeichnet durch die Prinzipien der Reziprozität und -- seltener -- der Redistribution. Die "traditionellen" Untersuchungsgegenstände der Ethnologie durch z.B. Malinowski, Firth und Herskovits.

2. Gesellschaften mit peripheren Märkten:

Orientieren sich teilweise an Angebot und Nachfrage; die Preise sind an die angebotenen Güter und an soziale Faktoren gebunden. Nicht nur der schnelle Verkauf der Waren, sondern auch der Unterhaltungs- und Kommunikationswert des Marktes ist wichtig.

3. Westlich beeinflusste Gesellschaften (oder "soziale Situationen" wie moderne Städte):

Der Markt wird von abstrakten Preismechanismen, von Angebot und Nachfrage bestimmt.

4.3.3 Marshall Sahlins

Marshall Sahlins (geb. 1930)

Keiner quot;Schule" zuzuordnen

Relevante Werke:

1965: On the Sociology of Primitive Exchange

1972: Stone Age Economics

Marshall Sahlins gilt als einer der einflussreichsten und originellsten amerikanischen Sozialanthropologen der Gegenwart (Barnard/Spencer 1996: 589). Er hat sich seit den 1960er Jahren zu einer Vielzahl von Themen zu Wort gemeldet. Im Rahmen der ökonomischen Anthropologie ist insbesondere seine 1972 erschienene Aufsatzsammlung 'Stone Age Economics' zu einem Klassiker geworden.

'Stone Age Economics' ist eine Verteidigungsschrift des Substantivismus und eine Auseinandersetzung mit marxistischen Modellen. Trotzdem kann Sahlins aber keiner speziellen Schule zugeordnet werden. Er argumentiert substantivistisch, formalistisch, strukturalistisch, marxistisch und neoevolutionistisch. Seine Arbeiten spiegeln Öffnung bzw. das Ende der Debatte zwischen den festgelegten Lagern der Formalisten und Substantivisten wider.

Sahlins im WWW:

https://web.archive.org/web/20060111140726/http://www.mnsu.edu/emuseum/information/biography/pqrst/sahlins_marshall.html [2]

https://web.archive.org/web/20050309005312/http://anthropology.uchicago.edu/faculty/faculty_sahlins.shtml [3]

https://web.archive.org/web/20050209170842/http://home.tiscali.se/meditation/alternativ/sahlins.html [4]

Verweise:

[1] https://web.archive.org/web/20051228214111/http://www-news.uchicago.edu/releases/02/021014.sahlins.shtml
[2] https://web.archive.org/web/20060111140726/http://www.mnsu.edu/emuseum/information/biography/pqrst/sahlins_marshall.html
[3] https://web.archive.org/web/20050309005312/http://anthropology.uchicago.edu/faculty/faculty_sahlins.shtml
[4] https://web.archive.org/web/20050209170842/http://home.tiscali.se/meditation/alternativ/sahlins.html


4.3.3.1 Beispiel Tausch


Ausgehend von einer substantivistischen Sicht der Ökonomie stellt Sahlins in 'On the Sociology of Primitive Exchange' (1965/1972) die These auf, dass ein Tausch nicht ein eigenständiges Ereignis, sondern eine Momentaufnahme aus einer kontinuierlichen sozialen Beziehung ist. Materielle Transaktionen sind Teil von sozialen Beziehungen, sie lassen sich nicht isoliert betrachten. "If friends make gifts, gifts make friends" (1972: 186).

Sahlins übernimmt Polanyis Begriffe der Reziprozität[1] und der Redistribution[2] (oder 'pooling'), verfeinert sie jedoch und erstellt eine detaillierte Klassifikation:

Reziprozität ist eine 'between relation', sie erfordert das Vorhandensein von zwei Parteien.

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Redistribution ist eine 'within relation', sie verlangt kollektive Handlungen innerhalb einer Gruppe.

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Verweise:

[1] Siehe Kapitel 4.3.1.2.1
[2] Siehe Kapitel 4.3.1.2.2


4.3.3.1.1 Formen der Reziprozität nach Sahlins


Karl Polanyi war der Ansicht, dass die Interaktion in reziproken Austauschbeziehungen grundsätzlich symmetrisch verlaufen würde. Sahlins bezweifelt das und unterscheidet in:

Generalisierte Reziprozität, Balancierte Reziprozität, Negative Reziprozität.

Diese Einteilung trifft er anhand von drei Kriterien

  • Zeitpunkt der Rückgabe
  • Äquivalenz der Gegengabe
  • Materielle und nicht-materielle Dimensionen des Austauschs.

1. Generalisierte Reziprozität:

A gibt eine Gabe/Leistung an B, die Beziehung bleibt aufrecht, auch wenn von B lange nichts zurückkommt. Typischer Fall: Beziehung zwischen Eltern und Kinder. Die Eltern bezahlen eine "Versicherungsprämie" an die Kinder (Unterhalt, Ausbildung) und erhalten die "Versicherungssumme" zurück, wenn sie alt und pflegebedürftig sind.

Die "Gabe" erscheint "interesselos", der Zeitpunkt der Rückgabe ist verzögert, niemand scheint sich um Äquivalenz zu kümmern, die nicht-materielle Dimension des Austauschs (z.B. "Elternliebe") steht im Vordergrund.

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2. Balancierte Reziprozität:

Güter und Leistungen wandern symmetrisch und äquivalent von A zu B und von B zu A.

Typischer Fall Tauschhandel:

Die "Gegengabe" erfolgt unmittelbar und ist Teil des Tauschaktes, beide Seiten bemühen sich um Äquivalenz, und es dominiert der materielle Aspekt.

Perfectly balanced reciprocity wurde ethnographisch auch bei bestimmten Heiratstransaktionen oder Freundschaftspakten beschrieben: Zwei Gruppen tauschen dieselbe Menge der gleichen Güter unmittelbar gegen einander aus. Diese Art der Transaktion ist im Gegensatz zum Tauschhandel gänzlich nicht-ökonomisch.

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3. Negative Reziprozität:

A gibt unfreiwillig durch z.B. Raub oder Diebstahl, B gibt nichts (z. B. Stämme überfallen einander und rauben sich die Frauen und anderes).

Negative Reziprozität ist im formalistischen Sinn am ökonomischsten: In einer Situation gegensätzlicher Interessen versuchen Individuen oder Gruppen ihren Nutzen auf Kosten anderer zu maximieren.

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Sahlins geht nun davon aus, dass in den meisten Gesellschaften alle drei Formen gleichermaßen vorkommen und auch, dass es fließende Übergänge zwischen ihnen gibt. Er ist auch der Ansicht, dass diese drei Formen überall moralisch bewertet sind:

The extremes are notably positive and negative in a moral sense. The intervals between them are not merely so many gradations of material balance in exchange, they are intervals of sociability. The distance between poles of reciprocity is, among other things, social distance" (Sahlins 1972: 191).

4.3.3.1.2 Reziprozität und soziale Entfernung nach Sahlins


Wenn alle Formen der Reziprozität in fast allen Gesellschaften inklusive unserer vorkommen, stellt sich die Frage, ob es Regelmäßigkeiten im Auftreten der drei Formen gibt. Sahlins meint ja: Die soziale Distanz bestimmt den Tauschmodus.

==> Je enger das verwandtschaftliche Verhältnis und je geringer die räumliche Entfernung, umso generalisierter ist der Austausch.

==> Sind keinerlei verwandtschaftliche, tribale oder räumliche Beziehungen mehr vorhanden, schlägt der Tauschmodus in negative Reziprozität um.

Nach Sahlins inkludiert dies auch die Moral: Moralische Normen sind meist situativ und relativ, nicht abstrakt und universell. Handlungen sind daher nicht "an sich" gut oder böse, sondern es hängt auch davon ab, wer "der Andere" ist. So wird Diebstahl innerhalb der Gruppe in den meisten Gesellschaften als schwere Verfehlung betrachtet, außerhalb der Gruppe aber bewundert.

Quelle: Sahlins (1972: 199)

4.3.3.1.3 Kritik an Sahlins' Modell der abnehmenden generalisierten Reziprozität


Sahlins' Modell der mit wachsender sozialer und räumlicher Entfernung abnehmenden generalisierten Reziprozität wurde z.B. von Tim Ingold (1986) kritisiert und weiter entwickelt. Ingold argumentiert, dass negative Reziprozität unabhängig ist von verwandtschaftlicher Entfernung. Es lässt sich ethnographisch belegen, dass "positive" und "negative" Reziprozität auf jeder Ebenen vorhanden ist. In der Kerngruppe steht dem Teilen, der Gabe, auch die Forderung gegenüber, genau so wie es im Kontakt mit anderen Gesellschaften nicht nur den Diebstahl, sondern auch das Geschenk, den Vertrag, etc. gibt.

Sowohl Sahlins' Modell als auch Ingolds Variation davon werden durch weitere Faktoren kompliziert. Politischer Rang und gesellschaftliche Hierarchisierung z.B. wirken auf die Tauschmodi ein und verändern sie in Richtung Redistributionsmodi (vgl.: Gregory 1998: 924f).

Quelle: Ingold (1986: 232)

4.3.3.2 Beispiel: The original affluent society


!Kung San: JägerInnen und SammerInnen-Gemeinschaften im südlichen Afrika. Quelle: https://web.archive.org/web/20080528050543/http://core.ecu.edu/anth/leibowitzj/unit7.html [1]

Als Angriff auf den 'homo oeconomicus' par excellence gilt Sahlins' Aufsatz über die ursprüngliche Überflussgesellschaft, in erster Fassung 1968 auf Französisch publiziert. Der Mainstream der Anthropologie der damaligen Zeit war einhellig der Ansicht, dass Jäger- und Sammlergesellschaften auf Grund der widrigen Umstände, in denen sie leben, keine Chance haben, "Kultur" zu entwickeln. Technologische Inkompetenz hätte dazu geführt, dass Jäger und Sammler ständig von Hunger bedroht seien und um zu überleben, permanent arbeiten müssten. Sahlins meint polemisch, dies wäre das klassische "neolithische Vorurteil" mit dem Ziel diesen Gesellschaften ihren Lebensraum zu beschränken.

Argumentation:

  • Annahme seit Adam Smith[2] und länger: Bedürfnisse sind unendlich, aber die Mittel knapp.
  • Tragödie der Konsumgesellschaft: es sind so viele Güter verfügbar und nur wenige kann man erreichen. Jede Entscheidung für etwas, bedeutet gleichzeitig Verzicht auf etwas anderes.

==> Sahlins dagegen:Was ist, wenn Bedürfnisse sehr beschränkt, die Mittel, diese zu befriedigen aber unendlich und im Überfluss vorhanden sind?

Verweise:

[1] https://web.archive.org/web/20080528050543/http://core.ecu.edu/anth/leibowitzj/unit7.html
[2] Siehe Kapitel 1.3.2


4.3.3.2.1 Mobilität und Besitz: die !Kung San


Sahlins legt nun neues ethnographisches Material dar: Richard Lees Studien über die !Kung San in der Kalahari.

Lee begleitete 1969 vier Wochen lang ein Gruppe Dobe !Kung und zeichnete auf, welche Kalorienmenge in welcher Zeit erwirtschaftet und verbraucht wurde.

Die Dobe erjagten und ersammelten durchschnittlich 2.140 Kalorien täglich pro Kopf, wofür pro erwachsener Person ein durchschnittlicher Arbeitsaufwand von 2,2 Arbeitstagen pro Woche erforderlich war. Auf Grund der Zusammensetzung der Gruppe nach Alter und Geschlecht sowie der durchschnittlichen Körpergröße der Dobe !Kung errechnete Lee einen Nahrungsbedarf von 1.975 Kalorien täglich. "A ‚day's work' was about six hours; hence the Dobe work week is approximately fifteen hours, or an average of two hours, nine minutes per day" (Sahlins 1972: 21).

Vom Rhythmus her werden zwei bis drei Tage mit der Beschaffung der Subsistenzmittel verbracht, dann folgen mehrere Tage Pause mit gegenseitigen Campbesuchen, ausruhen, Tänzen, etc.

Auf die Frage, warum sie ihre Lebensweise nicht den umgebenden Ackerbauern und Viehzüchtern anpassten, erhielt Lee zur Antwort: "Why should we plant, when there are so many 'mongomongo nuts' in the world?" (Lee 1968: 33 zit. Nach Sahlins 1972: 27).

Gleichzeitig ist die Ausstattung mit materiellen Objekten (Werkzeugen, Kleidung, etc.) sehr gering und auf Besitz wird generell wenig Wert gelegt. Lee, Sahlins und andere bringen den Verzicht auf Besitz mit der Mobilität dieser Gruppen in Zusammenhang. Mobilität ist die Bedingung für den ökonomischen Erfolg von Jäger- und Sammlergesellschaften: "Of the hunter it is truly said that his wealth is a burden" (Sahlins 1972: 11). Wenn man alles, was man besitzt tragen muss, dann schließen Eigentum und Mobilität einander aus.

Vorratshaltung ist bekannt, wird aber für ökonomisch wertlos gehalten. Sie fixiert ein Camp an einen bestimmten Ort, der dadurch ökologisch überausgebeutet wird. Mobilität ist daher der zentrale ökonomischer Wert.

Sahlins schließt daraus: Nomadismus ist keine Flucht vor Hunger! Mobilität und Mäßigung bringen die Ziele der Jäger mit ihren technischen Möglichkeiten zusammen (Sahlins 1972: 34).

Verweise:

[1] https://web.archive.org/web/20030330155127/http://www.bibliothekderfreien.de/bilder/afrika1.jpg


4.3.3.2.2 Sahlins Conclusion


Leonard Holman "Homeless, San Francisco" (digital enhanced photography). Quelle: https://web.archive.org/web/20050311153405/http://brighamrad.harvard.edu/project/people/BLH/exhibit/cs/homeless.html [1]

Jede technische Innovation hat nicht Arbeit erspart, sondern mehr Arbeit ermöglicht. Die Menge der Arbeit pro Kopf wächst mit der Entwicklung der Kultur.

Trotzdem ist heute am Höchststand der technischen Entwicklung der Hunger eine Institution, d.h. die Menge des Hungers in der Welt nimmt mit der Entwicklung der Kultur zu.

Die Entwicklung der Wirtschaft führt zu zwei gegenteiligen Bewegungen: sie wirkt bereichernd und gleichzeitig verarmend: aneignend in Beziehung zur Natur und enteignend in Beziehung zum Menschen.

Armut ist keine Beziehung zur Natur, sie ist ein Verhältnis zwischen Menschen!

Polemisches Ende dieses Aufsatzes: Als die Kultur sich dem Höhepunkt der materiellen Errungenschaften näherte, errichtete sie einen Schrein für das Unerreichbare: "'Infinite Needs'" (Sahlins 1972: 39).

Verweise:

[1] https://web.archive.org/web/20050311153405/http://brighamrad.harvard.edu/project/people/BLH/exhibit/cs/homeless.html


4.3.3.2.3 Armut, Mangel und einfache Bedürfnisse


Sahlins' Portrait der ursprünglichen Überflussgesellschaften verleitet zu einem Bild von "arm aber glücklich". Völlig gegenteilige Images werden z.B. über Afrika in Weltbank- und UNO-Berichten vertreten.

Gerd Spittler bringt beide Theorien auf den Punkt:

Zwei Theorien stehen sich hier gegenüber, beide haben sie eine lange Tradition. Die eine geht davon aus, daß vorindustrielle Gesellschaften Mangelgesellschaften sind. Ihre geringe Güterausstattung verdammt sie zu Armut und Elend, und sie warten nur darauf, durch die Segnungen der Industrialisierung erlöst zu werden. Die andere Theorie geht von der Prämisse aus, daß die geringe Güterausstattung kein Ausdruck von Mangel ist, sonder den einfachen Bedürfnissen dieser Menschen entspricht." (Spittler 1991: 66)

Spittler plädiert in der Folge für ein differenziertes Bild und für eine Unterscheidung der Sachverhalte:

a) Einfache und begrenzte Bedürfnisse

b) Mangel, der aber nicht mit Armut gleichzusetzen ist

c) Armut im Rahmen von einfachen Bedürfnissen

d) Moderne Armut im Rahmen einer Bedürfnisexpansion

a) Einfache und begrenzte Bedürfnisse

Einfache Bedürfnisse entsprechen in etwa dem, was Sahlins in seiner Original Affluent Society beschrieben hat. Nach Jack Goody (1982) sind diese für Gesellschaften typisch, die nicht in sozio-ökonomische Klassen aufgespalten sind. In Klassengesellschaften, v.a. in bäuerlichen Gesellschaften treten "begrenzte" Bedürfnisse auf. Es bestehen Normen und Mechanismen, die den Konsum der unteren Klassen einschränken. Ihre Bedürfnisse "werden begrenzt".

b) Mangel, der aber nicht mit Armut gleichzusetzen ist

Mangel ohne Armut setzt Spittler mit Gesellschaften in Verbindung, die regelmäßige saisonale Hungermonate kennen, wie sie Audrey Richards (1939) bei den Mbembe beschrieben hat als Ausdruck einer Weltsicht, "die den Wechsel von Fülle und Mangel akzeptiert" (Spittler 1991: 75). In den jährlichen Hungermonaten werden die Aktivitäten reduziert, die Leute sind fröhlich und beklagen sich nicht. Richards kommt zu dem Ergebnis, dass die Kultur den biologischen Bedürfnissen ihre konkrete Form gibt.

c) Armut im Rahmen von einfachen Bedürfnissen

Armut trotz einfacher Bedürfnisse tritt dann auf, wenn selbst einfache Bedürfnisse situationsspezifisch z.B. durch Dürren oder Kriege nicht befriedigt werden können. Gruppen oder Individuen geraten zeitweilig in Not.

d) Moderne Armut im Rahmen einer Bedürfnisexpansion

Die moderne Armut beruht auf gestiegenen Ansprüchen ohne Aussicht auf die Mittel, diese auch befriedigen zu können. Die Betroffenen empfinden sich selbst explizit als arm, unabhängig von ihrem tatsächlichen Besitz und Einkommen. Moderne Armut schließt vom sozialen Leben aus, sie isoliert z.B. die Armen in den Slums.

Die gängige Erklärung dafür, warum Menschen ihre einfachen Bedürfnisse -- mit denen sie ja zufrieden waren -- nicht beibehalten, ist die Kommunikationsthese (Spittler 1991: 82f). Solange Bauern und Nomaden von der Industriegesellschaft isoliert waren, wussten sie nichts von den Reichtümern und Konsummöglichkeiten dieser Welt. Kaum werden sie davon informiert, wollen sie auch alle Konsumgüter der industrialisierten Welt haben.

Spittler setzt dem entgegen:
Ich vertrete die These, daß der Prozeß umgekehrt verläuft, wie es Lerner postuliert. Es sind nicht durch Kommunikation bewirkte neue Bedürfnisse, die bei Nichterfüllung zu Armut und Marginalisierung führen, sondern der Prozeß beginnt mit der Marginalisierung. Dabei wird das traditionelle Wertesystem aufgelöst, und die neuen Bedürfnisse der modernen Welt werden übernommen." (Spittler 1991: 83)

Am Beispiel der Errichtung von Schulen zeigt er, dass plötzlich alle, die keine Schule besucht haben, zu Analphabeten degradiert werden. Hatten sie vorher ein würdiges Leben geführt, sind sie jetzt hilflos den neuen Behörden und ihren sich vervielfachenden Verwaltungsakten ausgesetzt!

4.3.3.3 Beispiel: Domestic Mode of Production


Viele indigene Gemeinschaften des Amazonasraums (z.B. die Achuar) können dem "Domestic Mode of Production" zugeordnet werden. Foto: Elke Mader

Marshall Sahlins(1972) zeigt weiters, dass in vielen kleinen, überschaubaren (= wenig stratifizierten) Gesellschaften die Produktionsweise auf den Haushalt beschränkt ist. Dieser ist eine Produktionseinheit von mehreren Generationen. In der Hausgemeinschaft gibt es Arbeitsteilung, jedoch nicht nach Kenntnissen, sondern nach Alter und Geschlecht. Der gesamte Produktionsprozess erfolgt in dieser Gemeinschaft und ist auf ihren Bedarf abgestellt. Alle Personen haben direkten Zugang zu allen Ressourcen.

Es wird nicht mehr produziert, als man benötigt. Weder die Ressourcen noch die Arbeitskraft werden voll ausgenützt. Arbeit und bearbeitete Fläche ändern sich im Verhältnis Produzenten zu Konsumenten ==> Tschajanow's Gesetz.

Nicht nur für russische Bauern der Zarenzeit gilt: Die Produktion passt sich dem Familienzyklus an: Die Arbeitszeit und die bearbeitete Fläche steigen mit der Zahl der Konsumenten im Verhältnis zu den Produzenten im Haushalt. Sinkt die Zahl der zu versorgenden Personen wieder, lässt die Arbeitsintensivität sofort nach.

Seither gab es verschiedene Versuche, den Eigenheiten der Häuslichen Produktionsweise auf die Spur zu kommen ==> Peasant societies.

4.3.4 Bibliographie und weiterführende Literatur

Barnard, Alan; Spencer, Jonathan 1996: *Encyclopedia of Social and Cultural Anthropology.* London, New York: Routledge.

Carrier, James G. (Hg.) 2005: 'A Handbook of Economic Anthropology.' Celtenham (UK); Northampton (USA): Edward Elgar.

Goody, Jack 1982: *Cooking Cuisine and Class. A study in Comparative Sociology.* Cambridge.

Gregory, C.A. 1998: Exchange and reciprocity. In T. Ingold (Hg.):

  • Companion Encyclopedia of Anthropology. Humanity, Culture, and Social

Life.* London, New York: Routledge, S. 911-939.

Halperin, Rhoda H. 1994: 'Cultural Economies Past and Present.' Austin: University of Texas Press.

Ingold, Tim 1986: *The Appropriation of Nature: Essays on Human Ecology and Social Relations.* Manchester: Manchester University Press.

Isaac, Barry L. 2005: Karl Polanyi. In J. G. Carrier (Hrsg.): *A Handbook of Economic Anthropology.* Celtenham (UK); Northampton (USA): Edward Elgar, S. 14-25.

Karl, Polanyi 1968: The Economy as Instituted Process. In G. Dalton (Hg.) 'Primitive, Archaic and Modern Economies. Essays of Karl Polanyi.' New York: Anchor Books, Doubleday & Company, INC., S. 139-174.

Polanyi, Karl 1978: *The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen.* Frankfurt am Main: Suhrkamp.

--- 1979: 'Ökonomie und Gesellschaft.' Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Polanyi, Karl; Arensberg, Conrad M.; Pearson, Harry W. (Hrsg.) 1957: 'Trade and Market in the Early Empires.' New York: Free Press.

Richards, Audrey 1995 (1939): *Land, Labour and Diet in Northern Rhodesia. An Economic Study of the Bemba Tribe.* Münster, Hamburg: LIT.

Sahlins, Marshall 1965: On the Sociology of Primitive Exchange. In M. Banton (Hg.) 'Stone Age Economics.' London: Tavistock, S. 185-275.

--- 1972: 'Stone Age Ecomomics.' London: Tavistock Publications Limited.

Spittler, Gerd 1991: "Armut, Mangel und einfache Bedürfnisse." 'Zeitschrift für Ethnologie' 116: S. 65-89.


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