Marxismus historischer Materialismus Evolutionismus/Evolutionismus

From Eksa
Jump to: navigation, search

Vorheriges Kapitel: 2.1 Karl Marx

2.2 Evolutionismus

Verfasst von Gertraud Seiser und Elke Mader

Theogrundlagen-54 1.gif

Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts war stark vom Evolutionismus geprägt. Sehr unterschiedliche wissenschaftliche Disziplinen waren davon betroffen. Ein mächtiger Anstoß kam ab den 1840er Jahren aus der Archäologie mit der Einteilung in Steinzeit, Bronzezeit und Eisenzeit. Biologie (Charles Darwin) und Anthropologie (Lewis Henry Morgan, Edward B. Tylor etc.) folgten in den 1870er Jahren (Barnard 2000: 27ff).

Der Evolutionismus der damaligen Zeit stand im Brennpunkt heftiger Debatten und leidenschaftlicher Kritik. Er wurde als Gegensatz zum Kreationismus -- der Schöpfung aller Lebewesen durch Gott in ihrer gegenwärtigen Vielfalt und heutigen Form -- gesehen.

Inhalt

2.2.1 Grundgedanken des unilinearen Evolutionismus

Der Grundgedanke des unilinearen Evolutionismus besteht darin, dass sich das Leben auf der Erde in einer konkreten Linie vom Niederen zum Höheren entwickelt hat. Die höchste Form ist der zivilisierte Mensch, alle anderen und alles andere sind stecken gebliebene Entwicklungsstufen vergangener Zeiten. Im Bereich der Anthropologie repräsentieren daher die synchron sichtbaren Gesellschaften der Welt eine diachrone Abfolge. Jäger- und Sammlergesellschaften, die keine Metallwerkzeuge verwenden, sind demnach Überbleibsel der Steinzeit, und aus ihrem Studium kann abgeleitet werden, wie unsere Vorfahren vor vielen tausenden Jahren gelebt und gedacht haben.

Für die Wirtschaftsanthropologie wurde der Evolutionismus deswegen so bedeutsam, weil die Technologie (v.a. Werkzeuge und Techniken) und die Subsistenzweise (Jagd, Sammeln, Viehzucht, Ackerbau, etc.) sich durch ihre Sichtbarkeit und einfache Beobachtbarkeit besonders gut zur Einteilung von Gesellschaften in evolutionäre Stufen eigneten.

Der unilineare Evolutionismus geht davon aus, dass alle Gesellschaften dieselbe Stufenfolge zu durchlaufen haben, manche sind schneller, manche eben langsamer. Verschiedene unilineare Evolutionisten haben unterschiedliche Lebensbereiche betont: materielle Kultur, Subsistenzweise, Familienorganisation oder religiöse Vorstellungen.

"But unilinear evolutionists, in general, believed that these phenomena are interrelated, and that therefore changes, say in means of subsistence, create evolutionary changes in kinship organization, religious belief and practice, and so on." (Barnard 2000: 29f)

Gemeinsamkeiten der Evolutionisten: 1. Vergleichende Methode, mit der bestimmte Kultur- und Sozialphänomene isoliert und klassifiziert werden;

2. die Auffassung, dass das Klassifizierte in Entwicklungsreihen gegossen werden kann und eine historische Abfolge repräsentiert;

3. der Angriff gegen den "Kreationismus" (Schöpfung durch Gott).


2.2.2 Lewis H. Morgans "Urgesellschaft"

Aus Perspektive der ökonomischen Anthropologie ist '*Morgans 'Ancient Society' (1877)*' das klassische Beispiel für eine evolutionistische Theorie auf Basis der Subsistenzformen und technischen Ausstattung von Gesellschaften.

Lewis Henry Morgan stellte 1877 in seinem Buch "Die Urgesellschaft" mit dem Untertitel "Untersuchungen über den Fortschritt der Menschheit aus der Wildheit durch die Barbarei zur Zivilisation" folgende Stufenreihe auf:

1. Wildheit

1a) Unterstufe der Wildheit: Frühzustand der Menschheit, "kein einziges Beispiel von Menschheitsstämmen dieses Urzustandes hat bis auf die geschichtliche Zeit sich erhalten" (Morgan 1979/1908: 9); Ernährung über das Sammeln von Früchten, kein Feuer, kein Fischfang, Beginn der Sprache.

1b) Mittelstufe der Wildheit: Fischfang und Feuer sind bekannt, Pfeil und Bogen noch nicht; Australier und viele polynesische Gesellschaften waren laut Morgan bei ihrer Entdeckung auf dieser Stufe.

1c) Oberstufe der Wildheit: Erfindung von Pfeil und Bogen, aber noch keine Töpferei. Beispiele: Athabaskische Stämme der Hudsonbailänder, Küstenstämme von Nord- und Südamerika.

2. Barbarei

2a) Unterstufe der Barbarei: Erfindung der Töpferkunst, keine Haustiere, kein Pflanzenbau; Gebrauch von Adoben und Steinen zum Hausbau.

2b) Mittelstufe der Barbarei: In der östlichen Hemisphäre Zähmung von Haustieren, in der westlichen die Kultivierung von Mais und anderen Pflanzen. Hierzu gehören laut Morgan auch "die alten Briten, obwohl sie mit dem Gebrauch des Eisens vertraut waren" (Morgan 1979/1908: 10).

2c) Oberstufe der Barbarei: Verarbeitung von Eisen. Beispiel: Griechische Stämme des homerischen Zeitalters.

3. Zivilisation

Ab dem Gebrauch des phonetischen Alphabets und der Schrift beginnt für Morgan das Stadium der Zivilisation, die er wiederum in eine antike und eine moderne Form unterteilt.

Den technologisch definierten Stadien ordnet Morgan auch die Entwicklung der Ideen über Regierungsformen, Verwandtschaft und Familie und der Eigentumsformen zu (vgl.: Kuper 1988: 42-77). Bei Morgan kommt es zu einer Homogenisierung des gemeinsamen Auftretens bestimmter Kulturmerkmale in einzelnen Stadien. Dh, ist ein bestimmtes Merkmal nachweisbar, so lassen sich daraus Rückschlüsse auf die zugehörigen weiteren Merkmale des entsprechenden evolutionären Stadiums ziehen.

Gegenbeispiel -- Inkastaat zwischen dem 12. und 15. Jahrhundert: Aufgrund der komplexen Ökonomie, der politischen Hierarchie und dem ausdifferenzierten Verwaltungsapparat wäre der vorkolumbianische Inkastaat dem Morgan'schen Stadium der antiken Zivilisation zu zuordnen. Die Inkas verfügten aber über keine phonetische Schrift und die Informationsweitergabe erfolgte auf Basis einer ausgeprägten Oralkultur.

Die weite Verbreitung und vor allem auch die heftige Kritik hat Morgan Friedrich Engels zu verdanken, der auf Basis der Morganexzerpte von Karl Marx (vgl.: Krader 1974) den "Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates" (1884) verfasste (vgl.: Hildebrandt 1979: 21).


2.2.3 Kritik am Evolutionismus

Theogrundlagen-57 2.gif
Theogrundlagen-57 1.gif

"Die ökonomische Sicht auf außereuropäische Gesellschaften ist maßgeblich von ideologischen Zuordnungen geprägt" (Wicker 2003: 5)

Selbstverständlich wird heute davon ausgegangen, dass es eine Evolution im Sinne einer konkret historischen Entwicklung gegeben hat. Dies belegen die Ergebnisse der Archäologie und der Ur- und Frühgeschichte.

Aber alle menschlichen Gesellschaften dieser Welt haben sich gleich lange entwickelt und aus den heutigen Formen lassen sich keinerlei Rückschlüsse auf prähistorische Zustände ziehen. Die derzeit vorfindbaren Gesellschaften sind nachvollziehbar auf vielen verschiedenen konkret historischen Wegen zu dem geworden, was sie jetzt sind. Das heißt, die Entwicklung verlief jedenfalls multilinear und es ist keineswegs gesichert, dass die Industriegesellschaft, die in Bezug auf die technologische Naturbeherrschung vorher nie da gewesene Wege gegangen ist, auch in anderen Bereichen des menschlichen Zusammenlebens als besonders "hoch" entwickelt gelten kann. Evolution bedeutet, dass es selbstverständlich Geschichte gibt. Eine Bewertung geht nicht daraus hervor, sondern ist Ausdruck eines speziellen Weltbilds oder einer Ideologie.

Demgegenüber handelt es sich beim Evolutionismus um eine spekulative Geschichtsschreibung. Heutige Gesellschaften werden als "Überbleibsel" oder survivals von gesellschaftlichen Frühformen gesehen. Daher erscheint für Evolutionisten legitim, von Artefakten wie z.B. 10.000 Jahre alten Pfeilspitzen durch den Vergleich mit rezenten Jägergesellschaften Rückschlüsse auf das Sozialsystem vor 10.000 Jahren zu ziehen. Unabhängig davon, ob man sich einen oder mehrere mögliche Wege vom homo habilis zu Präsident George Bush vorstellt, der Gang der Entwicklung wird immer bewertet, im Sinne von einer Entwicklung vom "primitiven" zum "höchststehenden".


Nächstes Kapitel: 2.3 Marxismus und Ethnologie: Wechselverhältnis in vier Phasen


↑ Nach oben