Neoklassik/Der Grosse Streit

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Vorheriges Kapitel: 3.2 Melville J. Herskovits

3.3 Späte 1950er bis frühe 1970er Jahre: Der große Streit

Verfasst von Gertraud Seiser und Elke Mader

Die ökonomische Anthropologie war etwa 15 Jahre lang durch eine heftige, emotional geführte Theoriedebatte gekennzeichnet. Es standen einander zwei -- wie es schien unversöhnliche -- Lager gegenüber, einerseits die

  • Formalisten, und andererseits die
  • Substantivisten oder Institutionalisten.

Nach Prattis (1973: 46) war es primär eine "methodologische" Kontroverse, die auf unterschiedliche Auffassungen über die Natur der menschlichen Rationalität reduziert werden kann.

Bis in die 1950er Jahre wurde in der Ökonomischen Anthropologie fast ausschließlich deskriptiv gearbeitet. Es ging primär darum, wie verschiedene Kulturen ihren Lebensunterhalt gestalten. Die AnthropologInnen kritisierten dabei den Ethnozentrismus der ÖkonomInnen, wurden allerdings von diesen weitgehend ignoriert.

Wie viele andere ist Wilk (1996:4) der Ansicht, dass erst die theoretische Debatte zwischen Substantivismus und Formalismus die Subdisziplin der Ökonomischen Anthropologie konstituiert habe.

Die Bezeichnung der Kontrahenten als Formalisten und Substantivisten wurde von Karl Polanyi mit seiner Unterscheidung der zwei Bedeutungen von "economic" eingeführt.

Die substantivistische Bedeutung von "ökonomisch" bezieht sich auf die Abhängigkeit des Menschen von der Natur und seinen Mitmenschen, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten: "It refers to the interchange with his natural and social environment, insofar as this results in supplying him with the means of material want-satisfaction" (Polanyi 1968 / 1957: 139).

Die formale Bedeutung kommt aus dem logischen Charakter der Mittel- Zweckbeziehung, wie sie sich in der Begriffsbedeutung von "ökonomisch" ist gleich sparsam ausdrückt: "It refers to a definite situation of choice, namely, that between the different uses of means induced by an insufficiency of those means" (Polanyi 1968 / 1957: 140).

Mit der rational choice theory arbeitende AnthropologInnen haben den Begriff Formalisten in der Folge als Eigenbezeichnung für sich übernommen.

Inhalt

3.3.1 Der Angriff der Substantivisten

Die meisten frühen Vertreter der Ökonomischen Anthropologie wie Raymond Firth oder Melville Herskovits, aber auch zum Teil Malinowski orientierten sich am damals wie heute dominanten Zugang der Wirtschaftswissenschaften, der Neoklassik oder 'rational choice' Theorie. Diese gingen vom Menschenbild des homo oeconomicus und vom Entscheidungsverhalten von Einzelpersonen oder Haushalten in einer Situation knapper Mittel aus, auf die sie ihre mathematischen Modelle aufsetzen konnten. Wobei mathematische Rechenoperationen nur sehr bescheiden Einzug in wirtschaftsanthropologische Texte hielten, da in der Mehrheit der Fälle eine entsprechende Menge an empirischen Daten nicht zur Verfügung stand und diese in Regionen ohne groß angelegte staatliche Zählungen und Erhebungen nur sehr mühsam zu gewinnen sind.

Ausgelöst wurde die Debatte zwischen Formalisten und Substantivisten durch den fundamentalen Angriff des Wirtschaftshistorikers Karl Polanyi auf die Grundannahmen der Neoklassik. Mit *The Great Transformation'*' (1944) wandte dieser sich an die Wirtschaftswissenschaften, mit '*'Trade and Markets in the Early Empire'*' (1957) gemeinsam mit mehreren SozialanthropologInnen an die Anthropologie. Diese Gruppe geht davon aus, dass vorindustrielle und bäuerliche Gesellschaften andere Vorstellungen von Rationalität haben, als die kapitalistische Industriegesellschaft.

Polanyi argumentiert, die Wirtschaftswissenschaften hätten sich gemeinsam mit dem Kapitalismus entwickelt. Sie seien daher Teil des Systems, das den Kapitalismus aufrecht erhält, indem sie ihn als "natürlich" erscheinen lassen.

Die Substantivisten lehnten aber den methodologischen Individualismus und den 'homo oeconomicus' nicht grundsätzlich ab. Sie beschränkten nur seinen Anwendungsbereich auf Gesellschaften mit marktwirtschaftlicher Grundlage. Dort allerdings bestärkten und überhöhten sie das Prinzip der Nutzenmaximierung zu einer die Gesellschaft zerstörenden Kraft (vgl. v.a. Polanyi 1944).


3.3.2 Die Reaktion der Formalisten

In den 1960er Jahren erfolgte eine heftige Reaktion der Formalisten auf Karl Polanyi und die Substantivisten. Die zentralen Kritikpunkte waren:

1. Die Substantivisten hätten das Prinzip des maximising falsch verstanden. Um zu maximieren brauche es weder Güter noch Markt, auch Liebe und Sicherheit könnten unter formal-rationalen Gesichtspunkten betrachtet werden.

2. Die Substantivisten seien Romantiker, die sich mit Wunschdenken und nicht mit Realität befassten.

3. Formale Methoden würden in allen Gesellschaften funktionieren, da überall unendliche Bedürfnisse mit beschränkten Mitteln zu befriedigen versucht würden.

4. Ein induktiver Zugang in der Ökonomischen Anthropologie käme dem Schmetterlingssammeln gleich, nur deduktive Ansätze entsprächen einem wissenschaftlichen Verständnis. Dieser Kritikpunkt ist im Kontext der positivistischen Ausrichtung der gesamten Sozialwissenschaften in den 1960er Jahre zu sehen.

5. Polanyi hätte die Geschichte falsch verstanden. Markt, Tausch und Handel gäbe es in allen Gesellschaften (vgl. Wilk 1996: 9ff).

Die Formalisten nahmen für sich in Anspruch, die nicht-westlichen Gesellschaften zu entmystifizieren, indem sie zeigen wollten, dass diese auch imstande wären, rational zu handeln. Hauptvertreter dieser Phase waren Robbins Burling, Harold Schneider, Edward LeClair, Franc Cancian und Scott Cook.

Ethnographische Monographien aus dieser Phase des Formalismus stammen z.B. von Sol Tax (1953) und von Scarlett Epstein (1968). Beide versuchten zu zeigen, dass in den von ihnen untersuchten Gesellschaften die Individuen wie Unternehmer handeln, indem sie rational entscheiden, Kapital akkumulieren und reinvestieren.


3.3.3 Kritik an den Formalisten

Die Kritik an den Formalisten wurde in doppelter Weise geführt.

  • Einerseits wurde der Zugang des methodologischen Individualismus als unbrauchbar angesehen, um das ökonomische Handeln in vorindustriellen/nicht industrialisierten Gesellschaften zu verstehen. Diese Kritik kam vorwiegend von den Substantivisten und ließ in ihrer fundamentalen Ablehnung lange keine Gesprächsmöglichkeiten zu.
  • Aber auch innerhalb der Formalisten und unter Akzeptanz der 'rational choice' Theorie hatte man Probleme mit dem *homo oeconomicus'*' im Sinne eines ausschließlichen Nutzenmaximierers.2 Probleme zeigten sich:1. Wie lässt sich der "Nutzen" in Gesellschaften messen, in denen es kein Geld im Sinne eines "allgemeinen Äquivalents" gibt. Auch in marktwirtschaftlichen Gesellschaften ist der Nutzen eine "metaphysische Kategorie" (Novy 2003), die sich einer objektiven Messbarkeit entzieht.2. In Feldforschungssituationen kommt rasch zum Vorschein, dass die meisten Menschen schlichtweg nichts maximieren. Offenbar zufrieden mit ihrem Leben streben sie weder nach Reichtum und Geld, Macht, Prestige oder Ehre.


3.3.3.1 Kritik am homo oeconomicus aus nicht-formalistischer Perspektive


Bis heute ist der homo oeconomicus der Formalisten Gegenstand von Auseinandersetzungen (vgl. Ensminger 2002: XI). Bereits Raymond Firth hatte auf den augenfälligen Umstand, dass in vielen Gesellschaften keineswegs Reichtum oder Kapital akkumuliert würde, mit der Einführung der institutionellen Gegebenheiten reagiert. Es wird überall maximiert, aber eben nicht nur Geld, sondern Macht, Prestige, Lust, Gottgefälligkeit (bei Asketen zum Beispiel) und vieles andere mehr (besonders bei Burling 1962). Dazu meinte Maurice Godelier bereits 1965: "wenn so theoretisch jedes zweckbestimmte Handeln ökonomisch wird, ist faktisch keines mehr ökonomisch" (Godelier 1972: 292).

Die formale Theorie ist ein Komplex mathematischer Verfahrensweisen, der indifferent gegenüber dem Gegenstand ist, mit dem er umgeht, denn die Logik des Kalküls bleibt überall dieselbe (Godelier 1972: 294). Das heißt, sie kann gar nicht fassen, was nun ökonomisch oder politisch oder psychologisch ist, sie kann nur auf der Basis bereits vorher getätigter Annahmen rechnen: der Annahme v.a., dass immer und überall in einer Situation mit alternativen Entscheidungsmöglichkeiten versucht wird knappe Mittel den jeweiligen Zwecken zuzuordnen. Dieses Verfahren wird heute noch genau so kritisiert wie in den 1960er Jahren:

If you are sufficiently determined, you can always identify something that people try to maximize. But if all maximizing models are really arguing is that 'people will always seek to maximize something,' then they obviously can't predict anything, which means employing them can hardly be said to make anthropology more scientific. All they really add to analysis is a set of assumptions about human nature. The assumption, most of all, that no one ever does anything primarily out of concern for others; that whatever one does, one is only trying to get something out of it for oneself. In common English, there is a word for this attitude. It's called 'cynicism.' Most of us try to avoid people who take it too much to heart. In economics, apparently, they call it 'science'." (Graeber 2001: 8)


3.3.3.2 Revisionen der formalistischen Theorie: Ian Prattis und sein strategising man


Einen Versuch, diesem Dilemma zu entkommen und trotzdem im formallogischen System der Neoklassik zu verbleiben, hat z.B. Ian Prattis 1973 in einem einflussreichen Artikel unternommen. Seiner Ansicht nach ist 'maximising' als einziges Ziel aller Handlungen tatsächlich unvollständig. Er plädiert daher für eine Sicht des strategising, worunter er versteht, dass dem handelndem Individuum in einer Entscheidungssituation mehrere Möglichkeiten [1] offen stehen:

1. Maximising = Maximierung des Nutzens

2. Minimaxing = Minimierung der Wahrscheinlichkeit von maximalem Verlust

3. Satisfising = Ergreifen der ersten Alternative, die die Minimalanforderungen für die Bedürfnisbefriedigung erfüllt

Um aber auf diese Diversifizierung der Handlungsmotivationen wieder mathematische Prognosemodelle aufsetzen zu können, bedarf es nunmehr einer Spezifizierung der Umstände, die bei einem Individuum die Wahl einer bestimmten Strategie wahrscheinlich machen.

Prattis testet nun seine Strategiemuster anhand eines ethnographischen Beispiels (die Irregularitäten des Muschelgeldes auf Rossel-Island, Melanesien, über die sich schon manche den Kopf zerbrochen haben) und kommt zum Ergebnis, dass

maximising die bevorzugte Strategie der Häuptlinge ist,

minimaxing jene von Personen auf mittlerer Prestigeebene, und

satisfising wird von den jungen Männern am untersten Ende der Prestigehierarchie praktiziert.

Um zu dieser Zuordnung zu kommen, muss er allerdings den Weg der formalen Logik verlassen.

Verweise:

[1] Siehe Kapitel 2.2.5.3.3 der Lernunterlage Internationale Politische Ökonomie


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