Neomarxismus/USA

From Eksa
Jump to: navigation, search

Vorheriges Kapitel: 5.2 Französische VertreterInnen

5.3 VertreterInnen in den USA

Verfasst von Gertraud Seiser und Elke Mader

In den USA entwickelte sich ebenfalls eine marxistisch orientierte Politische Ökonomie, die sich mit Fragen nach den Zusammenhängen und Abhängigkeiten zwischen Weltregionen befasst (Narotzky 2005: 84f). Wichtige Werke in diesem Zusammenhang sind '*Eric Wolf's'Europe and the People without History (1982) und 'Sidney Mintz's'Sweetness and Power'*' (1985). Anhand der Produktion, Distribution und Konsumtion von Gütern versuchen beide globale historische Entwicklungen im ökonomischen Bereich nachzuzeichnen. Gerade diese zwei Werke bauen nicht auf eigener Empirie auf, sondern versuchen in einer Langzeitperspektive herauszuarbeiten, wie verschiedene Gesellschaften und Regionen in die kapitalistische Weltökonomie einbezogen wurden.

Inhalt

5.3.1 Eric Wolf

Theogrundlagen-243 1.gif

Eric Wolf (1923-1999)

  • My primary interest is to explain something out there that impinges me,

and I would sell my soul to the devil if I thought it would help.* (Wolf im Interview mit Friedman, 1987:144)

Relevante Werke:

1966: Peasants.

1969: Peasant Wars of the Twentieth Century.

1982: Europe and the People without History

Eric Wolf wurde 1923 als Sohn jüdischer Eltern in Wien geboren. Er verbrachte seine Kindheit in Böhmen bevor seine Eltern auf der Flucht vor dem Nationalsozialismus über Großbritannien in die USA übersiedelten. Das Ende des Zweiten Weltkrieges erlebte er als Soldat auf Seiten der Alliierten an der deutsch-italienischen Sprachgrenze in Südtirol. Dorthin kehrte er Anfang der 1960er Jahre mit John Cole zurück, um mit diesem gemeinsam die Ursachen der ethnischen Konflikte in Südtirol/Trentino zu beforschen (Cole/Wolf 1974/1995).

1946 nahm er sein Ph.D. Studium der Anthropologie bei Ruth Benedict und Julian Steward auf. Insbesondere Steward mit seiner Kulturökologie und seinem 'cultural materialism' (Harris 2001/1968: 654) übte nachhaltigen Einfluss auf Eric Wolf aus. Er nahm -- wie auch Sidney Mintz -- in den späten 1940er Jahren an Steward's Puerto Rico Forschungsprojekt teil und beschäftigte sich ab dann mit Peasants (è link), Macht und Klassen. Dabei richtete er seine Aufmerksamkeit immer auf historische Prozesse und kritisierte eine Anthropologie, welche die von ihr untersuchten Gesellschaften als statisch und isoliert präsentierte.

"Unsere Menschenwelt stellt sich als eine vielfältige Totalität miteinander verbundener Prozesse dar, und Untersuchungen, die diese Totalität zerstückeln, ohne sie wieder zusammenzusetzen, verfälschen die Realität." (Wolf 1991: 17)

Eric Wolf leistete wesentliche Beiträge zu vielen Forschungsfeldern der Kultur- und Sozialanthropologie.

  • Im Rahmen der allgemeinen Theorienbildung dieses Faches bildet sein Werk eine wichtige Grundlage für eine Reihe von theoretischen Ansätzen in Bezug auf transkulturelle bzw. transnationale Beziehungen und Globalisierung (Wolf 1982).
  • In Bezug auf Kultur- und Sozialanthropologie Lateinamerikas [1] entwickelte er Modelle zur Analyse der Verflechtungen[2] ökonomischer, sozialer und historischer Faktoren, welche die komplexe Gesellschaft Lateinamerikas prägen. Im Mittelpunkt seiner Untersuchungen steht immer wieder die Frage nach den historischen Prozessen sowie nach den Machtverhältnissen und ihren Auswirkungen auf die Beziehungen zwischen Personen und Gruppen.

Für die ökonomische Anthropologe leistet er u.a. wesentliche Beiträge zur Analyse von

  • Wirtschaft und Gesellschaft von Bauern
  • dem Konzept der Produktionsweisen[3]
  • kulturellen, ökonomischen und politischen Verflechtungen in der Neuzeit

Eric Wolf im WWW:

https://web.archive.org/web/20051111074710/http://www.mnsu.edu/emuseum/information/biography/uvwxyz/wolf_eric.html [4]

https://web.archive.org/web/20051112110639/http://www.indiana.edu/~wanthro/wolf.htm [5]

https://web.archive.org/web/20110607105352/http://www.univie.ac.at/alumni.ethnologie/journal/volltxt/Artikel%203%20_Kreff.pdf [6]

https://web.archive.org/web/20060208093805/http://www.vanderbilt.edu/AnS/Anthro/Anth234/wolf.htm [7]

Verweise:

[1] Siehe Lernunterlage Kultur- und Sozialanthropologie Lateinamerikas: Eine Einführung[2 Siehe Kapitel %%chapter-id%% der Lernunterlage Lernunterlagen-title]
[2] Siehe Kapitel 3.4 der Lernunterlage Kultur- und Sozialanthropologie Lateinamerikas. Eine Einführung
[3] Siehe Kapitel 2.1.2.3.3
[4] https://web.archive.org/web/20051111074710/http://www.mnsu.edu/emuseum/information/biography/uvwxyz/wolf_eric.html
[5] https://web.archive.org/web/20051112110639/http://www.indiana.edu/~wanthro/wolf.htm
[6] https://web.archive.org/web/20110607105352/http://www.univie.ac.at/alumni.ethnologie/journal/volltxt/Artikel%203%20_Kreff.pdf
[7] https://web.archive.org/web/20060208093805/http://www.vanderbilt.edu/AnS/Anthro/Anth234/wolf.htm


5.3.1.1 "Die Völker ohne Geschichte" Kulturelle Verflechtungen und Politische Ökonomie


Allegorie Europas, die von den anderen Erdteilen gehuldigt wird. B.Picart 1719. Quelle: Kohl 1982.

Das bekannteste und einflussreichste Werk von Eric Wolf bildet sein Buch: Die Völker ohne Geschichte. Europa und die andere Welt seit 1400 (1986). Er versteht es als einen Beitrag zu einer analytischen Geschichtsbetrachtung, welche "die Wurzeln der Gegenwart in der Vergangenheit" aufdecken will.

Eine solche Untersuchung kann sich nicht auf eine Kultur, Gesellschaft oder Region beschränken, sondern muss die Vielfalt der Verflechtungen berücksichtigen, durch welche sich die verschiedenen Kulturen wechselseitig beeinflussen. Diese kulturellen Verbindungen werden im Lichte einer historisch orientierten Politischen Ökonomie neu durchdacht.

Dabei überschreitet Wolf die gängigen Darstellungsweisen der Geschichte der westlichen Welt. Er geht davon aus, dass weltweite historische und ökonomische Prozesse die verschiedenen Völker miteinander verknüpfen. Unterschiedlichste Gesellschaften waren an Veränderungsprozessen beteiligt, welche durch die Expansion der Europäer in der Neuzeit in Gang gekommen waren, und haben zu diesen Prozessen einen eigenen Beitrag geleistet. Wolf zeigt die Vielfalt solcher Prozesse in diversen Regionen und Kulturen auf und analysiert sie mit Konzepten der Politischen Ökonomie.

Das Studium von Kultur und Geschichte ist demnach aufs Engste mit dem Studium von ökonomischen und politischen Verhältnissen verbunden. Durch die Betrachtung der Welt "als ganze, als Totalität, als System", will das Buch dazu beitragen Grenzen zwischen westlicher und nicht-westlicher Geschichte aufzuheben. Dieser Ansatz erfordert einen interdisziplinären Zugang: So integriert das Werk Konzepte und Kenntnisse der Kultur- und Sozialanthropologie, der Geschichte und der Politischen Ökonomie (vgl. Wolf 1991: 9-11).


5.3.1.1.1 Produktionsweisen und Kulturen in Interaktion


Theogrundlagen-245 1.jpg

Die Grundlagen der Politischen Ökonomie[1] bilden in Eric Wolf's"Die Völker ohne Geschichte"' den analytischen Rahmen für die Untersuchung historischer, kultureller und ökonomischer Verflechtungen.

Die Basis bildet die These von Karl Marx, dass keine Trennung zwischen sozialen und ökonomischen Prozessen besteht. Wie Marx vertritt Eric Wolf einen ganzheitlichen Ansatz der Wissenschaft vom Menschen: Ökonomische Prozesse sowie die Beziehung zwischen Mensch und Natur sind als Teil eines gesellschaftlichen Gefüges zu betrachten. Besonderen Stellenwert nimmt dabei das Konzept der Produktionsweisen und der sozio-ökonomischen Formationen ein. (èLink- Gerti)

Auf dieser theoretischen Basis untersucht Wolf die ökonomische und politische Bedingtheit der Verflechtungen von Kulturen, wobei er von der bestimmenden Natur der ökonomischen und politischen Prozesse ausgeht. Die weltweiten Vernetzungen betreffen vor allem verschiedene Produktionsweisen, die miteinander in Interaktion bzw. in Konflikt treten.

Diese Betrachtungsweise impliziert einen Kulturbegriff, der sich vom Konzept einer eigenständigen und integralen Kultur - das aus den politischen Bestrebungen des Nationalismus des 19.Jahrhunderts erwachsen ist - unterscheidet.

Wenn wir demgegenüber die Realität von Gesellschaft in historisch wandelbaren, nicht endgültig abgegrenzten, vielfältigen und aufgefächerten gesellschaftlichen Formationen verorten, wird damit allerdings die Vorstellung einer ein für allemal feststehenden innerlich geschlossenen und deutlich nach außen abgegrenzten Kultur abgelöst durch ein Gespür für die Unbeständigkeit und Durchlässigkeit kultureller Gebilde." (Wolf 1991: 534)

Verweise:

[1] Siehe Lernunterlage Internationale Politische Ökonomie - Eine Einführung

5.3.1.1.2 Menschen und Ökonomien im weltweiten "Geflecht von Zusammenhängen"


Romuald Hazoumé, "Dogon", 1996, Foto Pascal Maître. Quelle: Zinsou 2005.

Menschen bzw. Gesellschaften sind "... unauflösbar sowohl mit nahen als auch weit entfernten anderen Gesamtheiten in eine Art Netz oder Geflecht von Zusammenhängen eingebunden..." (Lesser 1961: 42 in Wolf 1991: 531), Kulturen und Ökonomien werden durch diese Netzwerke geformt.

Den zeitlichen Ausgangspunkt für die Analyse dieser Verflechtungen bildet bei Eric Wolf das Jahr 1400, als die Welt bereits eine Fülle regionaler Verknüpfungen und Zusammenhänge aufweist:

Aber erst das Ausgreifen der Europäer über die Ozeane hinweg hat diese regional geknüpften Verbindungsnetzwerke zu einer globalen Partitur vereint und sie einem weltumspannenden Rhythmus unterworfen. Von diesen Kräften wurden Menschen von ganz unterschiedlicher Herkunft und aus ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen Verhältnissen in gleichartige Tätigkeiten hineingezogen und dazu gedrängt, sich am Aufbau einer einzigen gemeinsamen Welt zu beteiligen. [...] Die Gesellschaften und Kulturen all dieser Menschen machten während dieses Prozesses entscheidende Veränderungen durch." (Wolf 1991: 531-532)

Eric Wolf (1986) untersucht diese Prozesse an Hand von vielfältigen Beispielen. Er analysiert u.a.:

  • Die politischen und ökonomischen Bedingungen und Ziele der europäischen Expansion in der Neuzeit und erarbeitet Gemeinsamkeiten und Unterschiede in Bezug auf einzelne Staaten oder Verbände (Spanien, Portugal, England, Frankreich, Niederlande).
  • Die "Jagd nach den Reichtümern der Welt": Hier verortet Wolf die diversen Unternehmungen in verschiedenen Regionen in einem immer stärker weltumspannenden Gefüge von Produktion, Zirkulation und Macht. Die Kolonisation Lateinamerikas durch die Iberer, der Pelzhandel in Nordamerika, der Sklavenhandel sowie Handel- und Eroberungspolitik in Asien zeigen verschiedene Facetten dieser Prozesse und ihrer Auswirkungen auf die Menschen.
  • Die industrielle Revolution und der aufstrebende Kapitalismus prägen im 19.Jahrhundert die sozioökonomischen Bedingungen der diversen Verflechtungen. Diese wirken sich auf die verschiedenen Abschnitte des ökonomischen Prozesses (Produktion, Zirkulation, Konsumtion) aus. Sie bedingen z.B. die Entstehung neuer Warenströme sowie der neuer Arbeiter, Arbeitsmärkte und des Handels mit Arbeitskräften (z.B. chinesische Arbeitskräfte in Amerika) und binden immer wieder andere regionale Kulturen und Ökonomien in das weltumspannende Netzwerk ein.

Auf den folgenden Seiten werden aus der Fülle der Analysen von Eric Wolf einige Fallbeispiele ausgewählt und kurz skizziert.


5.3.1.1.2.1 Silberökonomie und Hacienda


Bergbau im kolonialen Südamerika. Stich von de Bry 1601. Quelle: Kohl 1982.

Die Conquista, die Eroberung und Kolonisation der indianischen Gesellschaften in Mittel- und Südamerika durch Spanien und Portugal etablierte das erste große Kolonialsystem der Neuzeit (èlink). Die koloniale Ökonomie und (Kultur-) Politik stellt eine Arena für Verflechtungen auf verschiedenen Ebenen dar, die stark von den Herrschaftsverhältnissen in dem System geprägt werden. Ein wesentliches Element in diesem Gefüge war der Handel:

Spanien bezog aus der Neuen Welt Silber, Gold, Kakao, Koschenille und Indigo, in umgekehrter Richtung lieferte es teure Manufaktur- und Luxusprodukte. Ein großer, wenn nicht der größte Teil dieser Produkte stammte nicht aus Spanien selber, sondern vor allem aus Nordwesteuropa." (Wolf 1991: 204)

Die Ökonomie der spanischen Kronländer beruhte zu einem guten Teil auf der Gewinnung von Edelmetallen. Zwischen 1503 und 1660 trafen in Sevilla knapp 3,5 Millionen Kilo amerikanischen Silbers ein, wodurch sich die europäischen Silbervorräte verdreifachten. Die "Silberökonomie" (besonders ausgeprägt in Mexiko, Peru und Bolivien) band durch transkontinentalen Handel mit Europa und Asien lokale (indianische) Gemeinschaften in ein großräumiges ökonomisches Gefüge ein.

Wolf spricht in diesem Zusammenhang von "erzwungenem Handel" (erzwungen durch die einseitige Nachfrage auf europäischer Seite), der zwei unterschiedliche kommerzielle Kreisläufe umfasste: einen transatlantischen und einen inneramerikanischen. Die Preispolitik und die Kontrolle der Handelsaktionen lag in der Hand der spanischen Krone, und war geprägt durch steigende Preise für europäische Manufakturwaren - dementsprechend sank der Tauschwert von Silber und anderen amerikanischen Waren (Wolf 1991: 205).

Die sozioökonomische Organisation des kolonialen Lateinamerikas beruhte auf feudalen Strukturen, die eng mit der (land)wirtschaftlichen Produktion verbunden sind. Besonders deutlich kommt dies in der Institution der 'encomienda' und später der hacienda (èlink) zum Ausdruck, welche der Herrschaft über die lokale Bevölkerung und der Aneignung und Kontrolle ihrer Arbeitskraft diente. Eine 'encomienda' war ein zeitlich begrenzter treuhänderischer Besitztitel, der von der Krone an bestimmte Personen vergeben wurde. Ihr Inhaber konnte Tribute und Arbeitsleistungen der Indianer (landwirtschaftliche und handwerkliche Produkte, Arbeitsdienste in den Minen etc.) für die Krone und bis zu einer gewissen Grenze für die eigenen Zwecke in Anspruch zu nehmen.

In der späteren Kolonialzeit gingen die Ländereien in das Privateigentum der Besitzer über ('hacienda'), die Leibeigenschaft der indianischen Bewohner blieb jedoch in vielen Regionen (z.B. Ecuador, Peru) erhalten. Das Hacienda'-System' war in einigen Andenländern bis ca. 1960 in Kraft und prägt bis heute das sozioökonomische Gefüge vieler Regionen Lateinamerikas (vgl. Wolf 1991: 192-216).

5.3.1.1.2.2 Handelsplätze und Plantagen


Zuckerverarbeitung in Brasiien. Gemälde von M.Rugendas 1835, Quelle Kohl 1982.

In Brasilien war die frühe koloniale Ökonomie durch weitreichende Handels- und Tauschbeziehungen geprägt (z.B. im Rahmen des Handels mit Brasil-Holz und Gewürzen), welche im Rahmen einer Kolonisationsgrenze ('colonial frontier') verschiedene indianische und europäische Gruppen und Akteure (Portugiesen, Franzosen, Deutsche) in einem komplexen Geflecht von Handelsplätzen[1], Handelsketten, Allianzen, und Feindschaften [2] vernetzt.

Kulturelle und ökonomische Verflechtungen ergaben sich auch im Zuge der Aneignung und Verbreitung von Nahrungspflanzen. Pflanzen indianischer Züchtung wurden in anderen Teilen der Welt verbreitet und beeinflussten deren (Eß-) Kulturen und Ökonomien nachhaltig - u.a. Kartoffel, Mais [3], Tomate, Kakao, Tabak, Maniok und Kürbis. Zu Nahrungspflanzen aus Asien, die über Europa nach Lateinamerika gelangten, zählen u.a. Zuckerrohr[4], Kaffee, Reis und Bananen. Sie prägten maßgeblich Subsistenz und Ernährungsgewohnheiten (link Maria?) lokaler Gemeinschaften sowie nationale und globale ökonomische Prozesse.

Eric Wolf behandelt vor allem die Entwicklung der Zuckerökonomie in Brasilien und der Karibik (1986: 217-227). Im Nord-Osten Brasiliens wurden im 16. Jahrhundert die ersten Zuckerrohrplantagen angelegt:

...wurde damit eine Agrikultur in die Neue Welt verpflanzt, die schon lange im östlichen Mittelmeer zuhause war, wo die Araber sie gegen Ende des ersten Jahrtausends n.Chr. eingeführt hatten. In den Jahrhunderten vor der Eroberung der Neuen Welt hatte sich der Zuckeranbau über die Mittelmeerinseln langsam nach Westen vorgeschoben." (Wolf 1991: 217)

Die Zuckerproduktion wurde von mehreren Staaten und ihren Handelsagenturen dominiert. In Brasilien bestimmten die Portugiesen die Produktion, während Flamen und Holländer die Verbreitung des Produkts und die Finanzierung des Transports bewerkstelligten. So wurden Antwerpen und Amsterdam zu den wichtigsten Zentren der Zuckerraffinerien, wie auch zu Finanzzentren des portugiesischen Zuckerhandels (Wolf 1991: 218).

In Brasilien involvierte die Zuckerökonomie verschiedene Bevölkerungsgruppen: Der ständige wachsende Bedarf an billigen Arbeitskräften führte zur Versklavung der lokalen indianischen Gemeinschaften. Die Sklavenjagden im Amazonasgebiet und im heutigen Paraguay wurden teilweise von den Jesuiten [5] militärisch gebremst, die den Indianern Schutz gewährten. Sie siedelten einen Teil der indianischen Gemeinschaften in reduccionen' [6]' an und unterzogen sie einer intensiven Missionierung und Europäisierung.

Die relativ kleine indianische Bevölkerung konnte jedoch den Bedarf an Sklaven keineswegs decken. So sind Zuckerproduktion und andere Formen der Plantagenwirtschaft aufs Engste mit dem transatlantischen Sklavenhandel[7] verbunden, der das kulturelle und soziale Gefüge in Brasilien[8], der Karibik und den USA maßgeblich prägte.

Verweise:

[1] Siehe Kapitel 4.3.1.5
[2] Siehe Kapitel 1.4 der Lernunterlage Kultur- und Sozialanthropologie Lateinamerikas. Eine Einführung
[3] Siehe die Lernunterlage Mais - Ernährung und Kolonialismus in Lateinamerika
[4] Siehe Kapitel 5.3.2.1
[5] Siehe Kapitel 1.6 der Lernunterlage Kultur- und Sozialanthropologie Lateinamerikas. Eine Einführung
[6] Siehe Kapitel 1.5.1 der Lernunterlage Kultur- und Sozialanthropologie Lateinamerikas. Eine Einführung
[7] Siehe Kapitel 5.3.1.1.2.3
[8] Siehe die Lernunterlage Brasilien 1889 - 1985: Von der Ersten Republik bis zum Ende der Militärdiktatur

5.3.1.1.2.3 Sklavenhandel und Weltmarkt


Sklaven auf dem Weg in die Neue Welt. Quelle: Assogba (1990: 29).

Eric Wolf ordnet den Sklavenhandel im Zuge der aggressiven Expansion Europas als wesentlichen Bestandteil in der Konstituierung des internationalen Handelsnetzes und des Aufstiegs Europas zur Weltmacht ein.

Wenn auch Sklaverei und Sklavenhandel keine historischen Neuerscheinungen waren (Wolf 1991: 286; weiters z.B. Patterson 1982) und sich zum Beispiel über den Mittelmeerraum als Drehscheibe seit langem ein etabliertes Sklavenhandelsnetz zwischen Europa und der islamischen Welt erstreckte, so entfaltete sich mit der Kolonialisierung der Amerikas eine völlig neue Dynamik. Mit dem 15.Jahrhundert stieg der Bedarf an menschlicher Arbeitskraft in den Amerikas rapide an und diese wurde vorwiegend aus Afrika importiert: "Schwarzes Elfenbein" -- versklavte Menschen, wurden damit zur wichtigsten Exportware Afrikas.

Die Portugiesen initiierten den transatlantischen Sklavenhandel im Zuge ihrer Erkundungsfahrten und Kolonialisierungen entlang der afrikanischen Küsten, sie erhielten bald Konkurrenz durch die Holländer, dann folgten Engländer und Franzosen als internationale Hauptlieferanten und Konsumenten. Alle afrikanischen Küstenregionen und auch die meisten Binnengesellschaften wurden vom Handel erfasst -- so erhielten zum Beispiel in Westafrika zahlreiche Staaten durch den Sklavenhandel ihren Gründungsimpuls, wie Ashanti, Oyo oder Dahomey, während im Kongo-Gebiet bereits bestehende Staaten geschwächt oder zerstört wurden.

Ursprünglich suchten die europäischen Händler primär nach Edelmetallen und --hölzern, Gewürzen, Kautschuk und Tabak und erst in zweiter Linie Sklaven. Da aber die Profitspannen im Vergleich zu den anderen Handelsgütern um das Vier- bis mitunter Zwanzigfache höher waren, wurden Sklaven bald die Hauptware, was direkte und indirekte ökonomische Auswirkungen auf alle beteiligen Länder und ihre Innen- und Außenmärkte hattte. Warum gerade Afrika zum Hauptlieferanten der Ware Mensch für die Europäer wurde, erläutert Wolf an zahlreichen historischen Beispielen und jeweils bestehenden sozio-politischen und -ökonomischen Verflechtungen wie Verwandtschaftsstrukturen, Kriegstechnologien und Produktionsformen in Europa, Afrika und den Amerikas wie auch dem pazifischen Raum.

Der transatlantische Sklavenhandel durchlief mehrere Phasen:

Im 15. und 16. Jahrhundert wurden die Sklaven in der Neuen Welt hauptsächlich für den Minenabbau von Silber, Gold und anderen Metallen eingesetzt, ab dem 17. Jahrhundert dominierte der Zuckerrohranbau auf den karibischen Inseln und der Tabakanbau in Nordamerika und damit wurde Plantagensklaverei die zentrale Produktionsweise der Neuen Welt. Das 18. Jahrhundert bezeichnet Wolf als "Goldenes Zeitalter der Sklaverei", mit Jamaica und Haiti als ökonomischen Zentren. Obwohl die Sklaverei um die Jahrhundertwende von den meisten am transatlantischen Handel beteiligten Mächten offiziell abgeschafft wurde, gelangten laut Wolf bis 1870 noch über 2 Mill. afrikanische Sklaven auf den Markt, wobei 80% davon in die Neue Welt importiert wurden, ein großer Teil davon nach Kuba als zentraler Zuckerproduzent des 19. Jahrhundert.

Wolf beschäftigt sich mit dem historischen Verlauf der Involvierung der europäischen und afrikanischen Mächte und Regionen, wobei sein Hauptinteresse auf den politisch-ökonomischen Motivationen und Auswirkungen des Handels liegt. Als einer der ersten im Bereich der Sozialanthropologie thematisiert Wolf die so entstehende internationale Arbeitsteilung wie die lokal-regionalen Auswirkungen auf alle Beteiligten:

Die Aufgabe, die Sklaven zu ergreifen, zu versorgen und innerhalb Afrikas zu transportieren, lag in afrikanischen Händen; die Europäer hingegen sorgten anschließend dafür, daß sie nach Übersee verfrachtet, dort akklimatisiert bzw. 'gebrochen' und abschließend an die Sklavenhalter verkauft wurden. Um die amerikanische Nachfrage befriedigen zu können, war der Sklavehandel darauf angewiesen, daß Menschenaufkäufer und Menschenlieferanten aktiv zusammenarbeiteten und daß diese Aktivitäten von beiden Seiten subtil aufeinander abgestimmt waren". (Wolf 1991: 322f)

In Auseinandersetzung mit den Thesen von Eric Williams zu frühem Kapitalismus und Industrialisierung Europas (Williams 1996), in denen er erläutert, dass England aufgrund seiner Dominanz im transatlantischen Handel die führende Position in der ökonomisch-technologischen Entwicklung einnahm, sieht Wolf den Sklavenhandel nicht als einziges Element, wohl aber als den "maßgeblichen dynamischen Faktor" der wirtschaftlichen Transformationen und des Aufstiegs Europas an.

Der transatlantische Sklavenhandel hatte auf alle Beteiligten, ob Profiteure, Agenten, Organisatoren oder Opfer, tief greifende und bis in die Gegenwart anhaltende Auswirkungen von globaler Dimension.


5.3.1.1.2.3.1 Sklavenschiff


Aufriss des Sklavenschiffs "La Vigilante", Fassungsvermögen 227 Männer und 120 Frauen, ca 1822. Quelle: Assogba (1990: 31).

5.3.1.1.2.3.1.1 Sklavenschiff als künstlerische Installation


Bouche du roi. Installation von Romuald Hazoumé (2005), Houston, Texas: The Menil Collection.Quelle: Zinsou (2005: 83).

5.3.1.1.2.4 Warenströme


Romuald Hazoumé, "Porta via" (Installation), 2002, Foto Philippe Roudy. Quelle: Zinsou 2005.

Im 19. Jahrhundert erhöhte sich in Europa die Nachfrage nach Rohstoffen und Nahrungsmitteln und ließ einen stark erweiterten Markt von weltweiten Dimensionen entstehen.

Ganze Regionen spezialisierten sich auf die Produktion einiger weniger Rohstoffe oder landwirtschaftlich erzeugter Nahrungs- und Genussmittel. Ein solche regionale Spezialisierung hatte sich zum Teil schon unter der Ägide des Handels entwickelt - ein Beispiel ist die Zuckerproduktion in der karibischen Region. In anderen Fällen - das gilt z.B. für die Baumwollanbauregionen der Vereinigten Staaten, Ägyptens und Indiens - war die Spezialisierung die Antwort auf die Anfänge der kapitalistischen Entwicklung." (Wolf 1991: 432)

Diese Entwicklungen intensivierten den Warentausch zwischen unterschiedlichen kulturellen und ökonomischen Gefügen bzw. Produktionsweisen. Wolf bezeichnet diesen Markt als "eine Arena, in der sich die widerstreitenden Produktionsweisen - auf der Ebene des Austausches ihrer verschiedenartigen Waren - aufeinander beziehen und miteinander in Konkurrenz treten konnten." Seine Analyse geht davon aus, dass jede Ware einen Bruchteil der gesellschaftlichen Arbeit verkörpert, die zur Umwandlung der Natur zum Nutzen des Menschen verausgabt wird, wobei diese gesellschaftliche Arbeit gemäß den herrschenden Bedingungen einer bestimmten Produktionsweise aufgeboten wird. "Im Rahmen dieser Verflechtungen von Ökonomie und Gesellschaft hat der Kapitalismus die anderen Produktionsweisen nicht immer liquidiert, aber - häufig auf direktem Wege, ebenso häufig aber auch über Fernwirkungen - das Leben anderer Völker beeinflußt und umgekrempelt" (Wolf 1991: 433).

Warenströme prägen bis heute maßgeblich die ökonomischen und kulturellen Prozesse und werden meist in Zusammenhang mit Fragestellungen der Globalisierung (link maria) und/oder des transkulturellen Konsums untersucht (link maria). Da Waren bzw. Dinge nicht nur über Gebrauchs- und Tauschwert sondern auch über Bedeutung verfügen, fließen Warenströme und Kulturströme ('cultural flows') oft mit- und ineinander (vgl. z.B. Appadurai 2001, Spittler 2002).

5.3.1.1.2.4.1 Biberhüte und Robbenmäntel: Der Pelzhandel in Nordamerika


Routen für den Nordamerikanischen Pelzhandel. Quelle: Wolf (1997), Karte: 162.
Über drei Jahrhunderte lang blühte und expandierte der Pelzhandel in Nordamerika und zog ständig neue Gruppen der Ureinwohner in die immer weiter aufgreifende Kreisläufe des Warentausches, der sich zwischen den hereinströmenden Europäern und ihren eingeborenen Handelpartnern angebahnt hatte. (Wolf 1991: 274)

Native Americans (USA, Kanada) lieferten seit dem 17. Jahrhundert durch eine Intensivierung der Jagd vor allem Biberpelze für den europäischen Hutmarkt und erwarben dafür diverse Produkte aus landwirtschaftlicher und industrieller Produktion. Neben den Hackbau treibenden Gruppen der Ostküste waren vor allem Jäger und Sammler-Gemeinschaften in die Handelsnetzwerke involviert. Der Pelzhandel und die europäischen Händler wanderten im Laufe der nächsten Jahrhunderte von Neufundland bis an die kanadische Pazifikküste, da die Biber-Bestände nach und nach ausgerottet wurden (Wolf 1986: 232).

Kwakiutl Chief, Ethnologisches Museum, Berlin, Foto JohnsonQuelle: https://web.archive.org/web/20050218072841/http://sorrel.humboldt.edu/~rwj1/KWA/kwa0g.html [1]

An der kanadischen Pazifikküste bei den Kwakiutl, Tlingit, Haida und Tsimian bildeten im 18. und 19. Jahrhundert Seeotterfelle eine wichtige Handelsware, die gegen Metallgegenstände, Stoffe, Decken, Rum, Tabak und Gewehre eingetauscht wurde. Der Handel hatte - neben den ökologischen Auswirkungen (Dezimierung der Seeotter) - eine Reihe von ökonomischen und sozialen Implikationen. Er stärkte die Position einiger Häuptlinge, die als lokale Händler fungierten und dadurch Macht über die neuen Güter besaßen. Diese Personen nutzten ihre führende Rolle im Pelzhandel u.a. "zur Aufstockung ihres potlatch - Vermögens (link Jäger und Sammler), zum Ausbau ihrer Verwandtschaftsbeziehungen durch gezielte Heiratspolitik, zur Ausweitung ihres Handelsnetzwerkes und zur Stärkung ihrer gesellschaftlichen Vorrechte" (Wolf 1991: 269).

Die wachsende Konservenindustrie (Lachs) in der Region beschäftigte im 19. Jahrhundert Männer der Kwakiutl als Fischer und Frauen als Arbeiterinnen. In dieser Zeit ging die Bevölkerungszahl in katastrophalem Ausmaß zurück, was größtenteils durch europäische Krankheiten wie Syphilis und Pocken verursacht war. Der folgende Goldrausch führte zur intensiven Kolonisierung der Region und zur Aneignung von Land und Ressourcen der lokalen Jäger- und Sammler - Gemeinschaften durch die USA und Kanada (Wolf 1991: 273-274). Die Auseinandersetzungen um Rechte auf Land, Ressourcen und politische Autonomie halten bis heute an.

Kwakiutl im WWW:

https://web.archive.org/web/20051231225705/http://college.hmco.com/history/readerscomp/naind/html/na_019100_kwakiutl.htm [2]

https://web.archive.org/web/20050904102029/http://www.bcfn.org/profile/kwakiutl.htm [3]

https://web.archive.org/web/20050220121215/http://www.ethnologue.com/show_language.asp?code=kwk [4]

https://web.archive.org/web/20051201025745/http://sorrel.humboldt.edu/~rwj1/kwa.html [5]

Verweise:

[1] https://web.archive.org/web/20050218072841/http://sorrel.humboldt.edu/~rwj1/KWA/kwa0g.html
[2] https://web.archive.org/web/20051231225705/http://college.hmco.com/history/readerscomp/naind/html/na_019100_kwakiutl.htm
[3] https://web.archive.org/web/20050904102029/http://www.bcfn.org/profile/kwakiutl.htm
[4] https://web.archive.org/web/20050220121215/http://www.ethnologue.com/show_language.asp?code=kwk
[5] https://web.archive.org/web/20051201025745/http://sorrel.humboldt.edu/~rwj1/kwa.html

5.3.1.1.2.4.2 Opium gegen Tee


Warenströme kennzeichnen Handel und Eroberungspolitik in Asien im 18. und 19. Jahrhundert. Seit dem Beginn der europäischen Expansion in diesem Raum besteht ein Naheverhältnis von Handel (z.B. Gewürzhandel) und der Ausdehnung des Machtgefüges verschiedener europäischer Staaten (Portugal, Niederlande, England). So galt den Portugiesen der Pfeffer - der in Europa vor allem als Konservierungsmittel für Fleisch und Fisch gefragt war - als die "Substanz Ostindiens". Die frühe Phase der Expansion wurde maßgeblich von Handelshäusern - wie der 'East India Company' - bestimmt.

In verschiedenen Etappen der Kolonisation großer Teile Süd- und Südostasiens gewannen immer wieder andere Produkte und Warenströme besondere Bedeutung. So bestand im 18. und 19. Jahrhundert ein komplizierter Dreieckshandel zwischen Indien, England und China, dessen Triebfeder die rasant anwachsende Nachfrage nach Tee in Europa war: Im Jahre 1644 wurden das erste Kilo Tee von Holländern nach Europa importiert, 1783 verkauft allein die East India Company über 2,5 Millionen Kilo, zwei Jahre später fast 7 Millionen. Zusätzlich wurde etwa noch dieselbe Menge von privaten Händlern, die um die Teesteuer herumkommen wollten, nach England geschmuggelt (Wolf 1991: 357).

Die Teemengen, die in erster Linie aus China kamen, mussten in Silber bezahlt werden. Der Dreieckshandel, der dieses Unterfangen teilweise finanzierte, bestand aus

  • Baumwolllieferungen von Indien nach China, die in Silber an regionale Händler bezahlt wurden,
  • die Händler kauften mit diesem Silber Kreditbriefe der East India Company,
  • die East India Company kaufte mit dem Silber Tee in China.

Der Dreieckshandel konnte jedoch den Tee-Import nicht ausreichend finanzieren, und immer größere Mengen des amerikanischen Silbers[1] mussten in den Handel investiert werden. Es kam zu einem Abfluss an Edelmetallen - eine Dynamik, die seit dem römischen Reich immer wieder den europäischen Handel mit Indien und China gekennzeichnet hat.

Um diesen Kreislauf zu ihrem Vorteil zu unterbrechen, begann die schwer verschuldete 'East India Company' mit dem massiven Verkauf von indischem Opium in China, ein illegales doch äußerst profitables Geschäft. Der Bedarf an Opium stieg mit der raschen Verbreitung des Suchtmittels und nach einigen Jahrzehnten setzten bengalische, englische und amerikanische Händler Mengen von Opium um, die viermal so viel Wert waren als das gesamte Warenvolumen des China-Handels (Tee und andere Waren).

Der chinesische Staat versuchte immer wieder mit verschiedenen Maßnahmen den Handel mit, und den Konsum von Opium zu stoppen. Durch die Niederlage gegen England im Opiumkrieg (1839-1842) wurde China jedoch gezwungen, den unbegrenzten Import von Opium zuzulassen (Wolf 1991: 357-360, 475-480).

Verweise:

[1] Siehe Kapitel 5.3.1.1.2.1
[2] https://web.archive.org/web/20050818142830/http://www.opioids.com/opium/opiumwar.html
[3] https://web.archive.org/web/20051214233007/http://www.rotten.com/library/crime/drugs/opium/

5.3.1.1.2.4.3 Der Kautschukboom im Amazonasgebiet


Die Warenströme im 19. Jahrhundert beinhalteten auch pflanzliche Produkte für gewerbliche Zwecke. Dazu zählte der Kautschuk, der als industrieller Grundstoff nach der Erfindung der Vulkanisierungstechnik (1839) zuerst zur Herstellung von Regenmänteln, Schuhen, Fahrradreifen, Präservativen und anderen Bedarfsartikeln diente. Später wurde Kautschuk im Bereich des Eisenbahn- und Maschinenbaus, als Isoliermaterial in den neuen Brachen der Elektroindustrie und schließlich in der Automobilindustrie verwendet (Wolf 1991: 453).

Theogrundlagen-253 1.jpg

Kautschuk

(das Harz des Baums 'Hevea Brasliliensis') wurde während des größten Teils des 19. Jahrhunderts von wild wachsenden Bäumen in den tropischen Regenwäldern des Amazonasgebiets gezapft. Der Kautschukboom - die intensive Ausbeutung dieser natürlichen Ressource - begann in der Mitte des 19.Jahrhunderts, erreichte seinen Höhepunkt zwischen 1880 und 1910 und kam um 1920, nach der Ausbreitung der Kautschukplantagen in Malaysia und Indonesien zum Erliegen. In der Mitte des 20. Jahrhunderts wurde Kautschuk als Rohmaterial zum Großteil durch Kunststoffe abgelöst.

  • Kautschukbearbeitung und Transport im Amazonasgebiet.
  • Kautschukbearbeitung und Transport im Amazonasgebiet.

Kautschuk wurde im Amazonasgebiet von Indianern und Siedlern gesammelt, in lokalen Manufakturen aufbereitet (eingedickt), von Großhändlern ("Kautschukbaronen") aufgekauft und nach Europa transportiert. Alle Akteure waren miteinander in einem ausgedehnten Produktions- und Zirkulationsnetz verbunden: Großhändler bzw. Handelshäuser statteten regionale Händler mit einem Vorschuss (Geld, Handelswaren) aus, der durch die entsprechenden Mengen an Kautschuk abgegolten werden musste. Das Prinzip setzte sich (mit immer schlechter werdenden Konditionen) bis zu den Kautschuksammlern fort und etablierte ein brutales System von Schuldknechtschaft und Zwangsarbeit.

Der Kautschukboom hatte weitreichende Folgen für die Bevölkerung des Amazonasgebiets, er wird von Santos-Granero (1996) als zweite Welle der Kolonisation bezeichnet (nach Conquista und Missionsherrschaft im 17. und 18 Jahrhundert). Die Auswirkungen auf indianische Gemeinschaften umfassen eine große Bandbreite von Phänomenen:

  • Genozid (etwa in der Region des Rio Putumayo in Kolumbien)
  • Zwangsumsiedlungen (z.B. Quechua in Ecuador und Peru)
  • Hungersnöte (durch die erzwungene Vernachlässigung der Subsistenztätigkeiten)
  • massiver Bevölkerungsrückgang durch eingeschleppte Krankheiten
  • großräumige Migrationsbewegungen
  • interethnische Konflikte
  • Aneignung von neuen Gütern
  • kulturelle Hybridisierung
  • Genese neuer kultureller und sozialer Gefüge
  • verschiedene Transformationen der bestehenden sozialen und ökonomischen Ordnung einzelner Gruppen

5.3.1.1.2.4.4 Kautschukgewinnung bei den Mundurucú (Brasilien)


Marilda Castanha. Die Schöpfung der Welt in der Mythologie der MundurukuQuelle: https://web.archive.org/web/20060508172122/http://www.icoloridelsacro.org/2003/img_pagine/full_stampa/04.html [1]

Aufbauend auf den Studien von Robert Murphy (1960) erörtert Wolf Veränderungsprozesse der bestehenden sozialen und ökonomischen Ordnung am Beispiel der Mundurucú in Brasilien. Die Kautschukgewinnung beeinflusste dort Siedlungsstruktur, Mobilität (link) und Subsistenz: Die traditionelle Subsistenz der Mundurucú ist eine Form der "tropical forest horticulture" (link) und umfasste Pflanzungen (primär Maniok), Sammeln, Jagd und Fischfang. Während sich die Wohnorte der Mundurucú - Gemeinschaften vorher stark an dem saisonalen Vorhandensein verschiedener natürlicher Ressourcen für ihre Subsistenz richteten, war später die Nähe von Kautschukbäumen ausschlaggebend für die Siedlungsstruktur. Einzelne Mundurucú - Gemeinschaften gründeten an den Flussufern Dauersiedlungen, in deren Umgebung sie bestimmte Waldgebiete exklusiv beanspruchten. Der Kautschuk wurde gegen Metallwerkzeuge, Kleidung und Nahrungsmittel eingetauscht.

Die Mundurucú - Gemeinschaften wurden zunehmend von den Artikeln abhängig, die ihnen die Händler als Vorschuss überließen. Die Dörfer lösten sich in zahlreiche kleine Haushalte auf, die jeder für sich über ein ganzes Netz von Austauschbeziehungen und wachsenden Schulden an den Handelposten gekettet waren. So wurde der Händler anstelle des Mundurucú-Häuptlings zum Drehpunkt der örtlichen Produktions- und Austauschbeziehungen (Wolf 1991: 453-456).

Verweise:

[1] https://web.archive.org/web/20060508172122/http://www.icoloridelsacro.org/2003/img_pagine/full_stampa/04.html

5.3.2 Sidney Mintz

Sidney Mintz (*1922)

Relevante Werke:

1960: Worker in the Cane

1985: Sweetness and Power

Sidney Mintz studierte gleichzeitig mit Eric Wolf an der Columbia University und gehörte wie dieser zum engeren Schülerkreis von Julian Steward. Ab den späten 1940er Jahren beschäftigte er sich mit der Zuckerproduktion in der Karibik, arbeite die inneren Widersprüche der Plantagensklaverei und deren ökonomische Verflechtung mit der Arbeiterklasse in englischen Fabriken auf (vgl. Durrenberger 2005: 131; Robotham 2005: 46).

Mit Eric Wolf teilt er auch sein intensives Interesse für historische Prozesse und Verbindungen. Auf theoretischer Ebene versucht er kulturanthropologische Ansätze mit historisch- materialistischen Konzepten zu verbinden. Regional liegt sein Fokus auf der Karibik und thematisch konzentriert er sich nach Sweetness and Power (1985) zunehmend auf eine Anthropologie der Ernährung.

Sidney Mintz im WWW:

https://web.archive.org/web/20060524225423/http://anthropology.jhu.edu/Sidney%20Mintz/ [2]

Verweise:

[1] http://www.mc.vanderbilt.edu/reporter/reporter_jpgs/reporter_4.10.98_3.jpg
[2] https://web.archive.org/web/20060524225423/http://anthropology.jhu.edu/Sidney%20Mintz/


5.3.2.1 Süße Macht: Sidney Mintz und die Geschichte des Zuckers


Theogrundlagen-256 1.gif

"Wenn man anfängt, danach zu fragen, wohin die tropischen Produkte gehen, wer sie nutzt und wozu und wieviel ihre Abnehmer für sie zu zahlen gewillt sind - worauf sie verzichten und welchem Preis sie zustimmen, um in ihren Besitz zu gelangen - , dann stellt man Fragen nach dem Markt. Damit aber fragt man auch nach der mutterländischen Metropole, dem Zentrum von Macht, und nicht nach der abhängigen Kolonie, dem Objekt, an dem und über das Macht ausgeübt wird. Und wenn man versucht, Konsumtion und Produktion, Kolonie und Metropole zusammenzubringen, dann geschieht es leicht, daß man die eine oder die andere - den »Mittelpunkt« oder den »Außenrand« nicht mehr so richtig scharf sieht. Wenn man auf Europa schaut, um Genaueres über die Kolonien als Produzenten und Europa als Konsumenten - oder auch umgekehrt - zu erfahren, dann heißt das nicht, daß man sich damit auch schon über die andere Seite der Beziehung ausreichend Klarheit verschaffen könnte. Wiewohl die Beziehungen zwischen Kolonien und Metropole in ihrem unmittelbaren Sinne klar und augenfällig sind, sind sie daneben auch verwirrend und voller Mysterien." (Mintz 1987: 13)

"Die süße Macht" (Mintz 1987) analysiert diese Prozesse am Beispiel des Zuckers. Das Buch beschäftigt sich mit verschiedenen Elementen bzw. Stadien im Zuge der "Biographie" (Kopytoff 1986) dieses tropischen Produkts. Dazu zählen:

  • Anthropologie der Ernährung
  • Bedeutung der Süße
  • Produktion von Zucker für das britische Königreich
  • Plantagenwirtschaft und Sklaverei in der Karibik
  • Geschichte des Konsums von Zucker im Abendland
  • Bedeutung von Zucker für die moderne Gesellschaft - Umstände, Zusammenhänge, Ursachen


5.3.2.1.1 Die Süße und der Konsum von Zucker


Theogrundlagen-257 1.gif

Der anthropologische Blick auf Essen und Ernährung als Teilstück einer Anthropologie des modernen Lebens fokussiert sich im ersten Abschnitt des Buches von Mintz (1987) das Süße: Süße ist ein Geschmack und eine Qualität, die von allen Menschen empfunden wird, jedoch in unterschiedlichen sozialen und kulturellen Gefügen spezifische Bedeutungen erfährt. Das Ausmaß und die Bedeutungen des Konsums von Süßem sind in ein breites Spektrum von historischen, sozialen und ökonomischen Prozessen eingebunden.

Mintz analysiert die Bedeutung der Süße im Rahmen der Geschichte der Nahrung in Europa.

Wenngleich Fürchte und Honig für die Engländer vor 1650 die Hauptquelle für Süße darstellten, scheinen sie in der englischen Kost keine wesentliche Rolle gespielt zu haben. Zucker, gewonnen aus dem Saft des Zuckerrohrs, erreichte England in kleinen Mengen etwa ums Jahr 1100; während der folgenden 500 Jahre stieg die Menge des verfügbaren Rohrzuckers ohne Zweifel an, aber nur langsam und keineswegs stetig. (Mintz 1987:26)

Ab dem 16. Jahrhundert kommt es zu einer erheblichen Steigerung des Konsums von Süßen, und zwar in erster Linie von Zucker, ein Prozess, der im 19.Jahrhundert extrem akzeleriert und im 20.Jahrhundert seinen Höhepunkt erreicht. Heute stellt Zucker einen unentbehrlichen Bestandteil der Ernährung in Europa (und anderswo) dar.

5.3.2.1.2 Bedeutung und Politische Ökonomie des Zuckers


Zuckerwatte am Wiener Christkindlmarkt. Foto: Elke Mader

In Anbetracht der geringen Relevanz von Zucker bzw. Süßem für die europäischen Ernährungsgewohnheiten bis zum 19. Jahrhundert, wo Zucker zu einem festen Bestandteil der Ernährung wurde, analysiert Mintz (1987) die verschiedenen Gründe für diese Veränderungen. Eine zentrale Frage beschäftigt sich mit der Bedeutung des Zuckers.

Die »Bedeutung« läßt sich in diesem Fall nicht einfach »ablesen« oder »entziffern«, sie erwächst vielmehr aus dem kulturellen Gebrauch, den der Zucker von sich machen ließ, aus den Verwendungen, denen er zugeführt wurde. Kurz, die Bedeutung ist eine Konsequenz einer Aktivität. Das heißt nicht, Kultur sei nichts als eine Art von Verhalten (oder lasse sich alleine darauf reduzieren). Aber nicht danach zu fragen, wie die Bedeutung in das Verhalten hineingelangt, das Produkt ohne Kenntnis seiner Produktion erfassen zu wollen, heißt die Geschichte - wieder einmal - auszublenden, sie zu ignorieren. [...] Es gilt den Prozess der Kodifizierung und nicht nur den Kode selbst zu entschlüsseln. (Mintz 1987: 41)

Mintz widmet sich demnach primär einer politischen Ökonomie der Bedeutungen des Zuckers, die eng mit der Untersuchung der sozio-ökonomischen Dynamik von Produktion, Zirkulation und Konsum verflochten ist.

5.3.2.1.3 Zucker und Sklaverei


Theogrundlagen-259 1.gif

Zuckerrohr wurde erstmals (ca. 8000 v. Chr.) in Neuguinea als Kulturpflanze angebaut und verbreitete sich von dort in mehreren Wellen durch Asien, nach Europa und schließlich nach Amerika. Die frühesten schriftlichen Beweise für die Herstellung von Zucker stammen aus Indien (500 n. Chr.), wo er wahrscheinlich schon lange existierte. Byzantinische Quellen verweisen auf die Verwendung von Zucker in Persien, die arabische Expansion nach Westen im 8. Jahrhundert bringt schließlich den Zucker nach Europa (Spanien). Bald darauf handeln bereits die Venezianer mit Zucker, um 1000 n. Chr. ist Zucker in großen Teilen Europas bekannt. Im 12. Jahrhundert kontrollieren die Kreuzfahrer einen Teil der - von den Sarazenen aufgebauten - Zuckerproduktion im Königreich Jerusalem und intensivieren den Handel mit Europa (Mintz 1987: 47-53).

In seiner langen Geschichte war Zucker nie ein Grundnahrungsmittel gewesen, in Europa stellte er bis ins 18.Jahrhundert einen Luxusartikel dar, nach dem jedoch zunehmende Nachfrage bestand. Die drastischen Veränderungen in Hinblick auf die Bedeutung und den Konsum von Zucker in Europa vom 17. zum 19. Jahrhundert stehen in direktem Zusammenhang mit einer bestimmten Produktionsweise des Zuckers, nämlich mit Plantagenwirtschaft und Sklaverei. Es bildeten sich Handelsdreiecke[1] heraus, die im 17. Jahrhundert entstanden und im 18. Jahrhundert zur Blüte gelangten:

Das erste und berühmtere Dreieck verband Britannien mit Afrika und der Neuen Welt: Fertigwaren wurden an Afrika verkauft, afrikanische Sklaven an beide Amerikas und amerikanische tropische Produkte (insbesondere Zucker) an das englische Mutterland und seine auf Importe angewiesenen Nachbarn. (Mintz 1987: 71)

Eine wichtige Besonderheit dieser beiden Dreiecke bestand darin, daß menschliches Frachtgut in ihrem Funktionszusammenhang eine entscheidend wichtige Rolle spielte. Es war nicht nur so, daß Zucker, Rum und Melasse nicht direkt gegen europäische Fertigwaren ausgetauscht wurden; in beiden transatlantischen Dreiecken gab es eine »falsche Ware« - die aber für das System absolut unentbehrlich war - sie bestand in menschlichen Wesen, in Menschen. Sklaven waren deshalb eine »falsche Ware«, weil der Mensch kein Gegenstand ist, selbst wenn er als solcher behandelt wird. (Mintz 1987: 72)</blockquote> Die Geschichte der Produktion von Zucker in der Neuzeit ist also aufs Engste mit dem Kolonialismus und insbesondere mit dem transatlantischen Sklavenhandel verflochten. Die Steigerung des Absatzes bzw. des Konsums von Zucker steht wiederum in Zusammenhang mit den Transformationen der Ökonomie und der Arbeitswelt in Europa.

Verweise:

[1] Siehe Kapitel 5.3.1.1.2.3

5.3.2.1.4 Zucker, Konsum und Macht


Der Zucker durchdrang das soziale Verhalten und wurde, indem er neuen Verwendungsarten zugeführt und mit neuen Bedeutungen versehen wurde, von einer Kuriosität und einem Luxusgut in einen alltäglichen, notwendigen Gebrauchsartikel transformiert. Das Verhältnis von Produktion und Konsumtion findet möglicherweise sogar eine Parallele in dem Verhältnis von Verwendung und Bedeutung." (Mintz 1987: 27)

Mintz betrachtet die Veränderungen von Verwendung und Bedeutung von Zucker im Kontext der sozio-ökonomischen Veränderungen in Europa im 18. und 19. Jahrhundert. Durch die umfangreiche Produktion in den Zuckerkolonien mit Sklaverei wurde Zucker billiger und war reichlicher vorhanden, dementsprechend nahm sein Potential als Machtsymbol ab. Zucker wandelte sich von einer prestigereichen Zierde am Tisch des Adels und der Oberschicht zum Kapital. Der symbolische Prestigeverlust von Zucker ging Hand in Hand mit einem erhöhten Potential des Produkts als Quelle von Profit.

Im 18. Jahrhundert wurde das Geschäft mit dem Zucker, ob es sich um die Produktion, den Transport, das Raffinieren oder die Besteuerung handelte, insofern zu einer viel effektiveren Machtquelle für die Herrschenden, als die Geldsummen, um die es ging, nun sehr viel größer waren." (Mintz 1987: 125)

Die gestiegene Verwendung von Zucker stand auch in Zusammenhang mit drei anderen exotischen Importgütern - Tee, Kaffee und Kakao. Sie stammen ebenfalls aus den Tropen und ihre Produktion, Zirkulation und Konsumption ist wiederum aufs engste mit dem Kolonialismus verbunden (z.B. der Teehandel[1] mit der britischen Expansion in Asien). Alle drei stimulierenden Getränke sind bitter und ihre rapide Verbreitung in Europa seit dem 18. Jahrhundert geht Hand in Hand mit der Verbreitung des Zuckers.

Im 19.Jahrhundert steht der Konsum von zuckerreicher Nahrung, die sich auf immer größere Teile der Bevölkerung erstreckte, auch in Zusammenhang mit den veränderten Lebens- und Arbeitsverhältnissen der Menschen durch Industrialisierung und Urbanisierung. Zucker liefert schnelle Kalorien und stillt den Hunger: Süßspeisen wurden immer stärker zur Nahrung der Arbeiter und der Armen. Bis hin zur Imbissgesellschaft der Gegenwart geht diese Entwicklung weiter und Zucker nimmt (z.B. in Gestalt des "Power-Riegels") immer neue Formen und Bedeutungen an.

  • Zucker in einem Wiener Supermarkt. Foto: Elke Mader
  • Zucker in einem Wiener Supermarkt. Foto: Elke Mader

Für die Entwicklung des Kapitalismus war der Zucker (ebenso wie Tee und Kaffee) eine geradezu ideale Substanz:

Ein arbeitsreiches Leben sah mit seiner Hilfe weniger aufreibend aus; in der Erfrischungspause erleichterte er tatsächlich oder scheinbar den Übergang von Arbeit zur Erholung und umgekehrt; er sorgte schneller für Völle - oder Sattheitsgefühle als komplexe Kohlehydrate dies vermochten; er ließ sich leicht mit anderen Nahrungsmitteln verbinden, deren Bestandteil er bisweilen war ( wie z.B. bei Tee und Keksen, Kaffee und Brötchen, Kakao und Marmeladebrot). [...] Kein Wunder, daß die Reichen und Mächtigen ihn so liebten, und kein Wunder, daß auch die Armen ihn lieben lernten." (Mintz 1987: 220)

Verweise:

[1] Siehe Kapitel 5.3.1.1.2.4.2


5.3.3 Sidney Mintz und Eric Wolf: Verflechtungen, Politische Ökonomie und Konstruktion von Bedeutung

"'Die süße Macht'"' (Mintz 1987) und "'Die Völker ohne Geschichte'"' (Wolf 1991) gehören der selben Forschungsrichtung an und weisen viele gemeinsame Ansätze und Fragestellungen auf. Die theoretische und thematische Ausrichtung beider Werke fokussiert auf Verflechtungen zwischen Menschen bzw. Kulturen durch Flüsse von Ideen und Gütern. Die ökonomischen Grundlagen dieser Verflechtungen und ihre Auswirkungen auf verschiedene Facetten der Gesellschaft in verschiedenen Weltgegenden stehen im Mittelpunkt der Betrachtung.

Während die "Die Völker ohne Geschichte" (Wolf 1991) globale Prozesse an Hand von Beispielen aus vielen verschiedenen Weltregionen analysieren, stellt "Die süße Macht" (Mintz 1987) eine Fallstudie dar, die sich an einem Produkt - in dem Geflecht von ökonomischen und kulturellen Verknüpfungen und Interaktionen - orientiert. Wolf legt das Hauptaugenmerk auf die Interaktionen von verschiedenen Produktionsweisen und untersucht vor allem weltumspannende Kreisläufe von Produktion und Zirkulation. Mintz konzentriert sich stärker auf Fragen des Konsums und der Konstruktion von Bedeutungen eines Produkts.

Beide Werke sind historisch orientiert und beschäftigen sich mit Aspekten der europäischen Expansion. So umfasst die "Kulturgeschichte des Zuckers" den Zeitraum zwischen der Entstehung des Welthandels in der Mitte des 17. Jahrhunderts bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Beide Werke gegen von folgenden Ansätzen aus:

  • das Studium von Kultur und Geschichte ist aufs Engste mit dem Studium von ökonomischen und politischen Verhältnissen verbunden;
  • die Welt ist "als ganze, als Totalität, als System" zu betrachten;
  • die verschiedenen Teile des Systems sind auf komplexe Weise miteinander verflochten;
  • das Augenmerk gilt der Unbeständigkeit und Durchlässigkeit kultureller Gebilde;
  • für die Analyse von komplexen gesellschaftlichen Gefügen ist die Untersuchung der Machtverhältnisse [1] sowie der historischen Prozesse von grundlegender Bedeutung (vgl. auch Wolf 1991).

Verweise:

[1] Siehe Kapitel 3.4 der Lernunterlage Kultur- und Sozialanthropologie Lateinamerikas. Eine Einführung


5.3.4 Immanuel Wallerstein: Weltsystemtheorie und Dependenz

Phone Shop in Ghana. Foto: Ulrike Davis-Sulikowski

Der Weltsystemansatz entstand in den 1970er Jahren und ist eng mit dem Namen Immanuel Wallerstein verbunden. Aufbauend auf der aus dem Funktionalismus entstandenen, Systemtheorie wird dabei der weltweite Kapitalismus als einheitliches System [1] betrachtet. Die Weltsystemtheorie wurden in der Folge in verschiedenen Fachdisziplinen und Forschungsfeldern rezipiert, kritisiert und weiterentwickelt, u.a. im Rahmen der Ökonomie, der Ökonomischen Anthropologie, der Entwicklungssoziologie und der historischen Forschung.

Die zentralen Thesen von Wallerstein betreffen

  • die systematische Ganzheit des Weltsystems in der modernen Welt
  • die ökonomische Differenzierung des Systems in verschiedene Zonen
  • Macht und Wirkungspotential der einzelnen Zonen

Verweise:

[1] Siehe Kapitel 2.4.4.3 der Lernunterlage Internationale Politische Ökonomie


5.3.4.1 Die Welt als System


Foto: Ulrike Davis-Sulikowski
"Leaving aside the now defunct mini-systems, the only kind of social system is a world-system, which we define quite simply as a unit with a single division of labor and multiple cultural systems. it follows logically that there can, however, be two varieties of such world-systems, one with a common political system and one without. We shall designate these respectively as world-empires and world-economies." (Wallerstein 2004: 63)

Ausgehend von der These des Funktionalismus, die Sozialwissenschaft solle soziale Ganzheiten studieren, argumentiert Wallerstein, dass in der modernen Welt nur noch eine soziale Einheit existiert: das Weltsystem. Das Weltsystem ist ökonomisch integriert, nicht aber politisch, d.h. Staaten können politisch voneinander unabhängig sein, ökonomisch sind sie jedenfalls interdependent.

Der Weltsystemansatz steht in enger Verbindung mit der Dependenztheorie[1], die eine Abhängigkeit (Dependenz) zwischen dominanten und ausgebeuteten Räumen, seien dies Kontinente, Nationen oder Regionen und die damit verbundenen Machtverhältnisse ins Zentrum ihrer Untersuchungen stellt.

Verweise:

[1] Siehe Kapitel 2.4.4.2 der Lernunterlage Internationale Politische Ökonomie

5.3.4.2 Zentrum und Peripherie


Graffiti in Akra (Ghana). Foto: Ulrike Davis-Sulikowski

Laut Immanuel Wallerstein ist das Weltsystem ökonomisch differenziert in

  • Zentren (cores) = USA und Westeuropa
  • Peripherie = 3. Welt
  • Semiperipherie = Pufferstaaten wie Mexiko, Südafrika, "Tiger-Staaten" etc.

Zwischen den verschiedenen Zonen besteht Ungleichheit, die als historisches Produkt der kapitalistischen Entwicklung ab dem 16. Jahrhundert zu betrachten ist. Die Machtverhältnisse im Weltsystem sind das Produkt von vier Jahrhunderten kolonialer und postkolonialer Veränderungsprozesse.

Soziale Prozesse in konkreten Regionen können nur aus der Rolle, die diese Regionen im Weltsystem einnehmen, erklärt werden; wesentlich sind dabei zwei Faktoren:

  • neue Entwicklungen in den Zentren
  • Aufrechterhaltung der Erfordernisse des Systems als Ganzes

Wallersteins Theorie wurde vor allem aufgrund ihres statischen Modells kritisiert: So werden nur die Zentren als aktiv und bestimmend für das Weltsystem erachtet, die Ökonomie im Zentrum gilt als Maßstab für die ganze Welt. Die Peripherie wird ausschließlich als passiv - als Opfer bzw. Vollstrecker der Entwicklungen im Zentrum - betrachtet.

Während Eric Wolf[1] und Sidney Mintz[2] die komplexen Vernetzungen von kulturellen, ökonomischen und politischen Prozessen im Weltsystem herausarbeiten (Mintz 1987, Wolf 1991), kann das Modell Wallersteins bei weitem nicht alle Prozesse in der Peripherie erklären. Auch dort gibt es lebendige, funktionierende Märkte sowie Widerstand gegen die Forderungen des fremden Kapitals. Aus der Perspektive der Ökonomischen Anthropologie gibt es darüber hinaus Einwände gegen die vollständige Vernachlässigung der Bedeutung von (lokalen) kulturellen Gefügen für die Analyse des Weltsystems (Roseberry in Plattner 1989: 110f).

Verweise:

[1] Siehe Kapitel 5.3.1
[2] Siehe Kapitel 5.3.2

5.3.5 Ökonomische und kulturelle Verflechtungen: Weltsystem, Globalisierung und Diversität

Airport Vienna. Foto: Elke Mader

Menschen, Kulturen und Ökonomien stehen und standen nie für sich allein. Sie sind immer auch durch Kontakte und Verflechtungen gekennzeichnet, die zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Regionen mehr oder weniger intensiv verlaufen. Im Zeitalter der Globalisierung gewinnen solche Interaktionen besonders an Bedeutung, sie erfolgen schneller, weiträumiger (globaler), intensiver und wirken sich auf mehr Menschen gleichzeitig aus als bisher. Hauser-Schäublin und Braukämper beschreiben diese Prozesse folgendermaßen:

Weltweite Verflechtungen, Verflechtungen verschiedenster Art und von verschiedenster Qualität, Verflechtungen die in unterschiedlichste Richtungen verlaufen, Verflechtungen mittels verschiedenster Medien, Verflechtungen von Menschen und ihren Handlungen, von Gütern, Ideen und Systemen, Verflechtungen, die mit unterschiedlichster Macht ausgestattet sind und Verflechtungen, die zur Erringung von Herrschaft und/oder Profit unterschiedlichster Gruppen dienen. (Hauser-Schäublin, Braukämper 2002: 10)

Die Dynamik der Verflechtungen prägt viele ökonomische Prozesse und ihre Untersuchung umfasst verschiedene Forschungsfelder, wie z.B.:

  • Analysen des Weltsystems[1] und seiner Interaktionen mit lokalen ökonomischen und kulturellen Gefügen (u.a. Eric Wolf[2], Sidney Mintz[3], Immanuel Wallerstein[4])
  • Warenströme und das "soziale Leben der Dinge" (u.a. Sidney Mintz[5], Arjun Appadurai, Igor Kopytoff, Gerd Spittler [6])
  • Globalisierung [7] (u.a. Ulrich Beck[8], Arjun Appadurai [9])

Verweise:

[1] Siehe Kapitel 2.4.4.3 der Lernunterlage Internationale Politische Ökonomie
[2] Siehe Kapitel 5.3.1
[3] Siehe Kapitel 5.3.2
[4] Siehe Kapitel 5.3.4
[5] Siehe Kapitel 5.3.2
[6] https://web.archive.org/web/20050507084508/http://www.uni-bayreuth.de/departments/ethnologie/spittler.html
[7] Siehe Kapitel 7 der Lernunterlage Kultur- und Sozialanthropologie Lateinamerikas. Eine Einführung
[8] https://de.wikipedia.org/wiki/Ulrich_Beck
[9] https://web.archive.org/web/20051028064735/http://www.appadurai.com/


Nächstes Kapitel: 5.4 Bibliographie und weiterführende Literatur


↑ Nach oben