Rituelle Körperhaltungen als Tore in die andere Wirklichkeit/Entdeckung
Vorheriges Kapitel: 2 Rituelle Körperhaltungen als Tore in die andere Wirklichkeit
2.1 Die Entdeckung der rituellen Körperhaltungen
verfasst von Susanne JarauschDas religiöse Erleben, die direkte Erfahrung einer anderen Wirklichkeit, war Mittelpunkt der Forschungen von Felicitas Goodman.
Als sie schon an der Denison Universität in Ohio unterrichtete, baten ihre Studenten sie darum, ihnen die Trance „beizubringen“. Aus ihren Feldforschungen bei den Pfingstgemeinden in Yucatán waren ihr die Rahmenbedingungen[1] für ein religiöses Ritual bekannt, und sie versuchte diese auf die universitäre Umgebung zu übertragen. Felicitas Goodman wies die Studenten an, sich in einer für sie geeigneten Weise zu bewegen oder zu positionieren und rasselte mit einer einfachen Kürbisrassel, wie sie von Pueblo-Indianern in Neumexiko verwendet wurde, in einem konstanten Rhythmus von 210 bpm eine Viertelstunde lang. Die Studenten erlebten fast alle einen anderen Bewusstseinszustand, die Erfahrungen waren jedoch nicht konstant. Sie hatten zwar visuelle und auditive Wahrnehmungen und stellten körperliche Veränderungen fest, schienen aber ziellos in anderen Bewusstseinsräumen herumzuirren.
Vier Jahre lang hat sie mit ihren Studenten experimentiert, um schließlich feststellen zu müssen, dass eine solche Anregung nicht automatisch zu einem religiösen Erleben führt. Das Erleben hat zu sehr gestreut, es fehlte etwas Spezifisches, ein religiöses Ritual aus dem kulturellen Hintergrund, um die Verbindung zur anderen Wirklichkeit herzustellen. „Es handelt sich um einen neurophysiologischen Vorgang, der nur durch die in der betreffenden Kultur enthaltenen Signale einen Inhalt erhält“, fasste sie das Ergebnis zusammen (Goodman 1989: 29).
Der entscheidende Hinweis kam schließlich durch einen Artikel über den Zusammenhang von Körperhaltungen und Meditationserfahrungen, den F. Goodman in die Hand bekam. Die Körperhaltung hatte sie bis jetzt nicht beachtet. Aus dem Wissen, dass es bei nichtwestlichen Kleingesellschaften keine Trennung zwischen Religion, Kunst und Leben gibt, musste das, wonach sie suchte, in dem, was wir heute Kunst nennen, enthalten sein.
Sie schlug das Buch „Die Welt der frühen Jäger“ von Andreas Lommel auf und stieß auf die Darstellung des Schamanen mit dem Bärengeist[2], die vom Ausdruck her auf eine religiöse Szene schließen ließ. Augenblicklich nachdem ihre Studenten diese Haltung eingenommen hatten und zum Rhythmus der Rassel in Trance gingen, hat sich ein fest umschriebenes religiöses Erleben eingestellt. Auch die nächsten Körperhaltungen, wie jene des Nupe mallam, eines afrikanischen Wahrsagers, oder des Mannes von Lascaux, vermittelten ein bestimmtes, vorauszusagendes und von anderen unterscheidbares Erlebnis.
Mit dieser Entdeckung begann 1977 eine neue Phase ihrer Forschung. Heute sind bereits etwa 70 rituelle Trancehaltungen und deren Erlebnisinhalte bekannt.
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 4.2.2
[2] Siehe Kapitel 2.2.1
Inhalt
2.1.1 Erste Erlebnisberichte in der Haltung von Lascaux
„Ich wünschte, ich könnte noch einmal das Staunen über die Verzauberung erleben, die mich damals in ihren Bann schlug, als wir anfingen, diese neue Möglichkeit zu erforschen. “ ' (Goodman 1989: 32)
Wie sich herausstellte, vermittelt die Haltung in dieser Schräglage das Erleben einer Seelenreise in die obere Welt. Der Winkel von 37 Grad ist auch in anderen Haltungen für ein Reiseerlebnis in obere Gefilde maßgebend.
Die TeilnehmerInnen legten sich mit einer Arm- und Handhaltung wie auf der Darstellung auf extra vorbereitete Holzgerüste im 37 Grad[1] Winkel. Schon bei der ersten Rasseltrance gab die Aneinanderreihung der Einzelberichte im Gesamtbild eine Seelenreise in die obere Welt:
„Die Energie ist in meinem Körper herumgerast, plötzlich hat sie sich auf die Genitalien konzentriert. Schließlich hat sie begonnen, in meinem Körper aufwärts zu strömen.“ – „… wie ein Orgasmus im Kopf, als sollte alles aus mir herausgequetscht werden; ich bin durch meinen Kopf hinausgepresst worden.“ – „Es hat da so etwas wie eine riesige Ausstechform gegeben, die hat angefangen, mich zu vervielfältigen. Dann war da etwas, das wollte aus mir heraus. Alle Haare von meinem Körper sind zu Berge gestanden, als dieses Ding aus mir herausgekommen ist. Ein genauer Abklatsch von mir selbst.“ – „Ich habe einen Pfad gesehen, auf dem bin ich zu einer weißen Wolke gekommen. Dann bin ich in der Wolke drin gewesen, die hat sich geöffnet, und ich bin herausgekommen und im Blau herumgeflogen.“
„Es war nicht von der Hand zu weisen, dass der veränderte Bewusstseinszustand, den die einfache rhythmische Anregung durch die Kürbisrassel hervorgerufen hatte, tatsächlich die religiöse Trance war, denn die Teilnehmer an meinen Versuchen hatten eine Seelenfahrt erlebt, also etwas Religiöses. Außerdem hatten wir gleichzeitig begonnen, ein System von Signalen an das Nervensystem wiederzuentdecken, die Zeichen einer höchst verwickelten Kunst, mit deren Hilfe die an sich formlose Trance in ein religiöses Erlebnis umgeformt werden kann, ein wahrhaft wundersames Geschenk der vielen namenlosen Künstler, die diese besonderen Haltungen gestaltet hatten.“ (Goodman 1989: 36) … der Schritt von den körperlichen Veränderungen zum ekstatischen Erlebnis, vom Diesseitigen, vom Profanen zum Heiligen war gelungen.
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 2.2.2
Nächstes Kapitel: 2.2 Herkunft und Verbreitung der rituellen Körperhaltungen