Strategien der Datenanalyse/Weitere

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6.3 weitere ausgewählte Verfahren der Textanalyse

Verfasst von Ernst Halbmayer

Neben den zur Analyse der Feldnotizen [1] angewandten Kodierstrategien werden auch innerhalb der Ethnographie unterschiedliche Traditionen der Textanalyse angewandt. Dazu gehören z.B.

  • struktural semiotische Analysen, welche insbesondere der Analyse von Narrationen, Mythen und Märchen dient (Vladimir Propp, Claude Lévi-Strauss, Roland Barthes) und
  • die auf John Austins Theorie der Sprechakte zurückgehende Ethnographie des Sprechens (z.B. Dell Hymes, John Gumperz) im Rahmen einer linguistischen Anthropologie,
  • aber auch diskursanalytische und konversationsanalytische Verfahren.


Verweise:
[1] Siehe Kapitel 6.1


Inhalt


6.3.1 Strukturale Semiotik

Unter strukturaler Semiotik fallen eine Reihe von Analysemethoden, die sich auf Theoriekonzeptionen der Semiotik (die allgemeine Lehre von den Zeichen, Zeichensystemen und Zeichenprozessen) und des Strukturalismus beziehen.

Zu den Wegbereitern gehören der US-Amerikaner Charles Sanders Peirce (1839 - 1914), der Schweizer Linguist Ferdinand de Saussure (1857 - 1913), der russische Folklorist Vladimir Propp (1895 - 1970), der französische Strukturalist Claude Lévi- Strauss (1908 - 2009) sowie der poststrukturalistische Philosoph und Literaturkritiker Roland Barthes (1915 - 1980).

Innerhalb der Kultur- und Sozialanthropologie wurden diese Verfahren insbesondere zur Analyse standardisierter Erzählformen, wie Mythen und Märchen[1], eingesetzt.

Roland Barthes hat die strukturale Semiotik weiterentwickelt und u.a. auch auf moderne Mythen des Alltags (1967) angewandt (vgl. Mader 2008: 174ff).

Die beiden klassischen Verfahren der strukturellen kulturanthropologischen Mythenanalyse wurden von Vladimir Propp und Claude Lévi-Strauss entwickelt. Während Vladimir Propp’s syntagmatische Mythenanalyse[2] primär am sequentiellen Handlungsablauf der Erzählung und der in ihr vorkommenden Akteure interessiert ist, fokussiert die paradigmatische Mythenanalyse[3] von Claude Lévi- Strauss auf allgemeine Regelsysteme des menschlichen Denkens, welche u.a. in strukturellen Oppositionspaaren zum Ausdruck kommen und die sich auch in den mythischen Erzählungen realisieren. Es stehen hier die Strukturen des menschlichen Denkens im Zentrum und nicht der sequentielle Handlungsablauf einer Erzählung.


Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5 der Lernunterlage Mythen in Lateinamerika und Ethnologische Mythenforschung
[2] Siehe Kapitel 10.2 der Lernunterlage Mythen in Lateinamerika und Ethnologische Mythenforschung
[3] Siehe Kapitel 10.3 der Lernunterlage Mythen in Lateinamerika und Ethnologische Mythenforschung



6.3.2 Ethnographie des Sprechens - linguistische Anthropologie

Die Ethnographie des Sprechens wurde als Teil der linguistischen Anthropologie von Dell Hymes (geb. 1927) entwickelt. Diese baut auf John Austins (1911-1960) Theorie der Sprechakte auf und versteht die linguistische Anthropologie als einen Teilbereich der Kulturanthropologie, im Gegensatz zur Ethnolingusitik bzw. der anthropologischen Linguistik, welche sich primär an Methoden und Theorien der Linguistik orientieren.

Insgesamt werden in der Ethnographie des Sprechens die Kommunikationsmuster als Teil kulturellen Wissens und Verhaltens verstanden. Es geht also nicht um die strukturalen Aspekte standardisierter Erzählungen, sondern um die soziokulturelle Dimension der Sprechakte. Die Betonung liegt auf der deskriptiv-ethnographischen Dokumentation der Sprachverwendung und der Beschreibung von Sprechweisen, die das soziale Leben bestimmter Sprachgemeinschaften (speech-communities) konstituieren und reflektieren. Es geht darum, Sprechakte innerhalb von Einflussbeziehungen, d.h. im Rahmen der Struktur des sozialen Verhaltens (die Sprechsituation, der Äußerungskontext), zu verorten, wobei die kommunikative Kompetenz der SprecherInnen eine zentrale Rolle spielt.

Zu den zentralen Fragestellungen gehören, welche Sprechmuster in welchen gesellschaftlichen Kontexten verfügbar sind und wie, wo und wann sie ins Spiel kommen. Wer spricht mit wem, wann und wo, in welchem Stil und in welchem Sprachcode über welche Angelegenheit? Die wichtigsten Analyseeinheiten sind Sprechsituationen, Sprechereignisse und Sprechakte, wobei Sprechakte innerhalb kulturell spezifischer Sprechereignisse analysiert werden und die Analyse des soziokulturellen Kontextes ein Kernbestandteil der Methode ist.

Die linguistische Anthropologie ist insbesondere innerhalb der US-amerikanischen Anthropologie verankert. Zu den wichtigsten Vertretern gehören u.a. AutorInnen wie John Gumperz, Joel Sherzer, Greg Urban, Ellen Basso und Bambi Schieffelin.



6.3.3 Diskurs- und konverstationsanalytische Verfahren

Unter den Begriffen diskurs- und konversationsanalytische Verfahren werden eine ganze Reihe sowohl methodisch, wie theoretisch unterschiedlich ausgerichteter Techniken subsumiert. Insbesondere der Begriff der Diskursanalyse umfasst kein einheitliches und klar definiertes Feld. Dies liegt unter anderem daran, dass bereits der Begriff des Diskurses selbst unterschiedlich verstanden werden kann.

So findet etwa im Rahmen der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule ein normativer Diskursbegriff Verwendung, der einen herrschaftsfreien Diskurs der gleichberechtigten Aushandlung ins Zentrum stellt.

Im Gegensatz dazu fokussiert die US-amerikanische ethnomethodologische Tradition (Garfinkel) in ihrem Diskursbegriff auf den Ablauf, die Themenorganisation und die Rollen in face- to-face-Gesprächen. Diese Mikro-Analysen von interpersonellen Gesprächen werden in der Literatur im Gegensatz zur Diskursanalyse als Konversationsanalyse bezeichnet. Für eine ethnographische Anwendung der Konversationsanalyse siehe etwa Moerman (1988).

Der (post)strukturalistische Diskursbegriff, in Anschluss an Foucault, stellt hingegen die Frage, wie gesellschaftliche Interaktion Gegenstände, Themen, Begriffe etc. konsituiert und wie sich diese, im Sinne einer historischen Diskursanalyse, im Laufe der Zeit verändern.

Nicht-diachron-historische sondern synchrone Weiterentwicklungen der Diskursanalyse stellen die unterschiedlichen Ansätze der so genannten kritischen Diskursanalyse dar. Diese beziehen sich neben Michel Foucault insbesondere auf Theorien von Antonio Gramsci und der Frankfurter Schule, d.h. des Neomarxismus.



6.3.3.1 historische Diskursanalyse

Die historische Diskursanalyse geht auf Foucault zurück und beschäftigt sich mit Diskursformationen, die unterschiedliche Texte durchziehen. Es geht im Unterschied zur Hermeneutik [1] nicht darum, einen Text in seiner Ganzheit zu verstehen und zu interpretieren, sondern darum, wie gesellschaftliche Interaktion Gegenständen, Themen, Begriffen etc. konsituiert und wie sich diese, im Sinne einer "Archäologie des Wissens", im Laufe der Zeit verändern.

Zentrale Fragestellungen sind

  • die kommunikative Konstitution von Wirklichkeit,
  • Veränderungen dieser Wirklichkeitskonstruktionen,
  • das soziale Wissen bestimmter Gruppen oder der Gesamtgesellschaft
  • diskursive Machtwirkungen: Was darf gesagt werden? Was darf nicht gesagt werden?


Der Diskurs im Sinne Foucaults trägt dazu bei, Gesellschaft zu konstituieren und er legt die Möglichkeiten des Sagbaren fest. D.h. Diskurse konstituieren gleichzeitig Ausschließungsmechanismen in Form von Verboten, Grenzziehungen, Theorien, Doktrinen und Ritualen, welche das Sagbare unter gewissen sozialen und historischen Bedingungen eingrenzen. Unter solchen Bedingungen, die Foucault Möglichkeitsbedingungen nennt, werden jeweils nur bestimmte Dinge als wahr angenommen und diese wirken prägend auf zukünftige diskursive Ereignisse. Foucault geht es um die Rekonstruktion dieser diskursiven Voraussetzungen und deren Transformationen.

Dabei unterscheidet er zwischen Ereignissen (spontane Elemente in einer Äußerung), die zu Serien (Keimzellen diskursiver Formationen) werden können. Durch die Verdichtung von Serien können neue diskursive Strukturen mit spezifischer Regelhaftigkeit entstehen, die selbst wieder Möglichkeitsbedingungen des Sagbaren konstituieren.


Weiterführende Literatur:

Foucault, Michel (1973): Die Archäologie des Wissens. Suhrkamp, Frankfurt am Main.

Foucault, Michel (1976): Überwachen und Strafen. Suhrkamp, Frankfurt am Main.

Foucault, Michel (1989): Sexualität und Wahrheit. Suhrkamp, Frankfurt am Main. 3 Bände.

Foucault, Michel (1991 [1970]): Die Ordnung der Diskurse. Fischer, Frankfurt am Main.


Verweise:
[1] Siehe Kapitel 2.3.1



6.3.3.2 kritische Diskursanalyse

So wie unter der Diskursanalyse an sich ist auch bei der kritischen Diskursanalyse (KDA) keine einheitliche und homogene Methode zu verstehen, vielmehr werden unter diesem Begriff unterschiedliche Verfahren subsumiert. Neben Michel Foucault stellen insbesondere Antonio Gramsci und die Frankfurter Schule, d.h. der Neomarxismus, den theoretischen Hintergrund der kritischen Diskursanalyse dar.

Wodak veranschaulicht die allgemeinen Prinzipien der kritischen Diskursanalyse in acht Punkten (1996: 17-20), die wie folgt zusammengefasst werden können:

  1. Die kritische Diskursanalyse beschäftigt sich mit sozialen Problemen und nicht mit Sprache oder Sprachgebrauch per se. Im Zentrum steht der linguistische Charakter sozialer und kultureller Prozesse und Strukturen.
  2. Die KDA untersucht diskursiv konstituierte Machtbeziehungen in Diskursen als auch Macht über den Diskurs.
  3. Gesellschaft und Kultur werden einerseits diskursiv geschaffen und konstituieren andererseits in einem dialektischen Verhältnis den Diskurs. Sprachgebrauch reproduziert/transformiert Gesellschaft und Kultur sowie die Machtbeziehungen.
  4. Sprachgebrauch kann ideologisch sein.
  5. Diskurse sind historisch und nur kontextuell/situativ zu verstehen.
  6. Die Verbindung zwischen Text und Gesellschaft wird mittels eines soziopsychologischen Modells des Textverstehens erklärt, welches als Vermittlungsinstanz dient.
  7. Diskursanalyse versteht sich sowohl als interpretativ wie auch erklärend.
  8. Diskurs wird als Form sozialer Handlung konzipiert und die kritische Diskursanalyse versteht sich als sozialwissenschaftliche Richtung.

"Die Zielsetzung der kritischen Diskursanalyse ist es die meist nicht bewusste gegenseitige Beeinflussung von Sprache und sozialer Struktur bewusst zu machen" (Titscher et al. 1998: 181). Dies geschieht z.B. im Rahmen der Vorurteilsforschung (Rassismus, Sexismus), des Sprachgebrauchs in Organisationen, etc.



6.3.3.3 Einige methodische Anweisungen

Ganz allgemein formuliert beruht die Durchführung einer Diskursanalyse[1] auf der Festlegung einer Fragestellung (des zu untersuchenden Diskursthemas) und des den Diskurs konstituierenden Praxisfeldes (z.B. zentrale Akteure, Medien, Institutionen).

Auf Basis dieser Voraussetzung wird der zu untersuchende Textkorpus anhand von Schlüsselwörtern des Themas und damit verbundenen Inhaltsaspekten festgelegt und begründet. Es handelt sich dabei um eine explizite und begründete Auswahl und Begrenzung des Korpus, entlang von zentralen Akteuren, wichtigen Medien und Institutionen, innerhalb eines gewählten Untersuchungszeitraums und nicht um ein repräsentatives Sample[2] im statistischen Sinne.

So ein Korpus kann mittels unterschiedlicher Strategien analysiert werden.


Verweise:
[1] Siehe Kapitel 6.3.3
[2] Siehe Kapitel 3 der Lernunterlage Qualitative Methoden der Kultur- und Sozialanthropologie



6.3.3.3.1 Grob- und Feinanalysen

Im Allgemeinen kann man zwischen Grob- und Feinanalyse unterscheiden.

Die Grobanalyse kann sich sowohl auf die Abfolge des Diskurses (diachron), als auch auf bestimmte Inhalte und Positionen (synchron) beziehen.

Bei der Abfolge des Diskurses stehen die thematischen Diskursstränge und ihre unterschiedlichen Ebenen im Zentrum der Aufmerksamkeit, sowie die unterschiedlichen Phasen und Sequenzen in der Diskursabfolge.

Bei der synchronen Analyse geht es um die Rekonstruktion unterschiedlicher Positionen an Hand von Streitfragen, konkurrierenden Auffassungen, Auslassungen sowie häufig vorkommenden Allgemeinpositionen.

Neben einer solchen Grobanalyse existieren eine Reihe unterschiedlicher Anweisungen zur Durchführung diskursanalytischer Feinanalysen (siehe z.B. unterschiedliche Strategien der kritischen Diskursanalyse in Titscher et al. 1998: 182ff; Jäger 2004). Im Folgenden werden einige ausgewählte Aspekte genannt, auf die sich solche Feinanalysen beziehen können, ohne damit jedoch den Anspruch zu verbinden hier deren methodische Umsetzung vermitteln zu können.

Auf der Textebene kann nach Inhalt und Form (der Organisation) des Textes gefragt werden. Dazu gehören sowohl linguistische Aspekte des Textes (Phonologie, Grammatik, Vokabular, Semantik) aber auch die Textorganisation, d.h. die Makrostruktur des Textes und bestimmter Textgattungen.

Auf der Ebene der argumentativen bzw. diskursiven Praxis stehen z.B. Fragen nach

  • den Diskursen der Differenz (Wir/Sie- Diskurs) und deren sprachliche Realisierung,
  • den Strategien und Techniken der Argumentation, Rechtfertigung und Beschuldigung (Schwarz/Weiß-Malerei, Opfer/Täter-Umkehr, Abschieben von Schuld etc.),
  • sowie den Formen der Versprachlichung auf Textebene (Vergleiche, Zitate, irreale Szenarien etc.), Satzebene (rhetorische Fragen, Anspielungen, Metaphern etc.) und Wortebene (Vagheiten, Verharmlosungen etc.)


im Zentrum.

Auf der Ebene der sozialen Praxis steht das Verständnis des Kontextes des Diskurses, sowie die Konfrontation der getätigten Aussagen mit überprüfbaren Daten und Fakten im Zentrum der Analyse, welche die Spezifität und Selektivität der Aussagen deutlich machen soll.


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