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Vorheriges Kapitel: 4.1 Vordenker
Contents
- 1 4.2 Frühe VertreterInnen
- 1.1 Inhalt
- 1.2 4.2.1 Richard Thurnwald
- 1.3 4.2.2 Tausch und Gabe: Frühe Beiträge zur ökonomischen Anthropologie
- 1.3.1 4.2.2.1 Bronislaw Malinowski
- 1.3.1.1 4.2.2.1.1 Funktionalismus und Ökonomie
- 1.3.1.2 4.2.2.1.2 Kula
- 1.3.1.3 4.2.2.1.2.1 Kula-Objekte und Tauschbeziehungen
- 1.3.1.4 4.2.2.1.2.2 Andere Tausch-Objekte
- 1.3.1.5 4.2.2.1.2.3 Von Person zu Person, von Insel zu Insel
- 1.3.1.6 4.2.2.1.2.4 Ruhm, Macht und Reichtum
- 1.3.1.7 4.2.2.1.2.5 Ökonomie, Gesellschaft, Symbol
- 1.3.1.8 4.2.2.1.2.6 Kula, Reziprozität und "primitive" Ökonomie
- 1.3.2 4.2.2.2 Marcel Mauss
- 1.3.3 4.2.2.3 Mauss und Malinowski
- 1.3.1 4.2.2.1 Bronislaw Malinowski
- 1.4 4.2.3 Bibliographie und weiterführende Literatur
4.2 Frühe VertreterInnen
Verfasst von Gertraud Seiser und Elke Mader
Der Begriff Substantivisten wurde erst 1957 durch Karl Polanyi geprägt. Durch die Auseinandersetzung[1] zwischen Substantivisten und Formalisten in den späten 1950er und 1960er Jahren ist es erst zur Formierung der Ökonomischen Anthropologie als eigener Subdisziplin gekommen.
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind vor allem drei Autoren zu nennen, die empirisch und theoretisch bis heute die Kultur- und Sozialanthropologie und insbesondere die Ökonomische Anthropologie maßgeblich beeinflussten:
- Richard Thurnwald
- Bronislaw Malinowski
- Marcel Mauss
Verweise:
Inhalt
4.2.1 Richard Thurnwald
Die frühe ökonomische Anthropologie (Malinowski, Mauss, Firth, Herskovits) wurde entscheidend von deutschsprachigen Autoren und insbesondere dem gebürtigen Österreicher Richard Thurnwald (1869-1954) beeinflusst.
So schreibt Marcel Mauss in seiner berühmten Gabe:
Das Buch von Malinowski, wie das von Thurnwald, zeugt von der meisterhaften Beobachtung eines wirklichen Soziologen. Es sind im übrigen die Beobachtungen von Thurnwald über das mamoko (...), die uns auf die Spur eines Teils dieser Fakten gebracht haben." (Mauss 1990: 65, FN 60)
Thurnwald lehnte sowohl den Evolutionismus als auch die Kulturkreislehre seiner Zeitgenossen ab. Er plädierte für die Herausarbeitung von "repräsentativen Lebensbildern"auf empirischer Grundlage, die weder evolutionäre Stufen, noch Kulturkreise, noch Idealtypen darstellen sollten (Köcke 1979: 145ff).
Die Ökonomie ist bei Thurnwald sozial determiniert. Die einzelnen Wirtschaftsarten sind Resultate von permanenten Anpassungsprozessen an verschiedene Umweltbedingungen. Gleichzeitig sind sie in unterschiedliche politische und soziale Konfigurationen eingebettet. Aus der Kombination verschiedener Wirtschaftsarten und unterschiedlicher politischer und sozialer Systeme ergeben sich die 'Wirtschaftscharaktere', die aber keiner historischen Stufenfolge entsprechen. (Link zu Steward)
ThurnwaldsKernkonzept (1932a, 1932b) bezieht sich auf die Verschränkung des Ökonomischen mit dem Politischen. Zunehmende Arbeitsteilung innerhalb einer Gruppe und Kontakte zwischen verschiedenen Gruppen führen zu Differenzierung in der Gruppe und setzen Prozesse sozialer Stratifizierung in Gang. Aus kleinen, homogenen Gemeinschaften können so größere heterogene Gruppen entstehen. Gemeinsam mit einer Akkumulation von Fertigkeiten und Wissen im Umgang mit der physischen Umwelt führten diese Prozesse im Laufe der Geschichte zu immer komplexeren Gesellschaften.
Thurnwald war zutiefst davon überzeugt, dass der Mensch ein gesellschaftliches Wesen ist und von der Gemeinschaft, in der er lebt, abhängt. Eine Interaktion zwischen Personen folgt in homogenen Gemeinschaften dem Prinzip der Reziprozität und in stratifizierten Gesellschaften dem Prinzip der (Re)Distribution (Thurnwald 1912). "Primitive" Ökonomien beruhen wie unsere Ökonomie auf denselben allgemeinen Prinzipien des sozialen Lebens, nämlich Reziprozität und Distribution. Insbesondere diese zwei Begriffe wurden aufgegriffen und von Malinowski, Polanyi und Sahlins weiterentwickelt (Köcke 1979: 156ff).
4.2.2 Tausch und Gabe: Frühe Beiträge zur ökonomischen Anthropologie
Die VertreterInnen der ökonomischen Anthropologie gehen prinzipiell von einer starken Vernetzung von Gesellschaft bzw. Kultur und ökonomischem Handeln aus. Je nach ihren generellen Standpunkten im Rahmen der kultur- und sozialanthropologischen Theorienbildung wird dem Individuum oder der Gemeinschaft mehr oder weniger Bedeutung bei der Gestaltung von wirtschaftlichen Prozessen zugemessen.
Dies kommt deutlich bei zwei wichtigen Vertretern der ökonomischen Anthropologie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zum Ausdruck, die wesentlich zur Professionalisierung der Kultur- und Sozialanthropologie als eigenständige Disziplin betrugen:
- Bronislaw Malinowski
- Marcel Mauss
Im Mittelpunkt ihrer Arbeiten stehen Fragen der Distribution und des Austausches von Produkten. Ihre Analysen dieser Prozesse betonen die Verflechtungen von Ökonomie und Gesellschaft, von sozialen und religiösen Institutionen und Konzepten sowie von individuellen Bedürfnissen und Interessen.
- Bronislaw Malinowski liefert eine genaue ethnographische Beschreibung der Institution Kula in all ihren Dimensionen und analysiert sie im Rahmen des Funktionalismus. Seine Erkenntnisse basieren auf langjährigen Feldforschungen auf den Trobriand Inseln.
- Marcel Mauss erstellt vergleichende Analysen und theoretische Überlegungen zum Konzept des Tausches bzw. der Gabe, wobei er (aufbauend auf der Arbeit von Malinowski) Kula zu anderen Formen von Austausch in verschiedenen Regionen und historischen Epochen (z.B. Potlatch in Nordwestamerika, Geschenksaustausch in Polynesien, Neuseeland und auf den Andamanen sowie im alten römischen und germanischen Recht) in Beziehung setzt.
4.2.2.1 Bronislaw Malinowski
Bronislaw Malinowski (1884-1942)
Relevante Werke:
1922: Argonauts of the Western Pacific
1935: Coral Gardens and Their Magic
Bronislaw Malinowski ist einer der bekanntesten Anthropologen des 20. Jahrhunderts. Seine methodischen und theoretischen Überlegungen sowie vor allem seine ethnographischen Beschreibungen etablierten wesentliche Merkmale der Fachdisziplin im allgemeinen und der britischen Sozialanthropologie im besonderen.
Er gilt als "Erfinder" der ethnologischen Feldforschung, dem methodischen Charakteristikum der Disziplin. Von seinen persönlichen Feldaufenthalten in Ozeanien (Trobriand-Inseln) stammen mehrere ausführliche Monographien über verschiedene Facetten der lokalen Kultur (u.a. Wirtschaft, Tausch und Handel 1922, Arbeit, Magie und Recht 1935, Sexualität, Liebe, Ehe 1929), die bis in die Gegenwart den Stil bzw. die Form ethnologischen Schreibens geprägt haben und prägen (vgl. Clifford 1986). Weiters hinterließ Malinowski ein Feld-Tagebuch (1967), das Anlass zu verschiedenen Kontroversen über politische und persönliche Dimensionen seiner Datenerhebungen gab.
Malinowki steht - gemeinsam mit A.R. Radcliffe-Brown [2] - im Mittelpunkt der funktionalistischen bzw. struktural-funktionalistischen Theorienbildung. Diese Betrachtungsweisen gehen vom Grundsatz aus, dasseine Gesellschaft eine organisierte, systematische und integrale Ganzheit darstellt, deren einzelne Teile funktional miteinander verbunden sind und zusammenwirken.
Bronislaw Malinowski im WWW:
https://web.archive.org/web/20051220083630/http://www.mnsu.edu/emuseum/information/biography/klmno/malinowski_bronislaw.html [3]
https://web.archive.org/web/20051122170340/http://www.rzuser.uni-heidelberg.de/~tkirrste/bronislaw_malinowski.html [4]
https://web.archive.org/web/20051226110413/http://www.vanderbilt.edu/AnS/Anthro/Anth206/malinowski.htm [5]
Verweise:
[1] https://web.archive.org/web/20051113133547/http://perso.wanadoo.fr/geza.roheim/html/malinow.htm
[2] http://en.wikipedia.org/wiki/Alfred_Reginald_Radcliffe-Brown
[3] https://web.archive.org/web/20051220083630/http://www.mnsu.edu/emuseum/information/biography/klmno/malinowski_bronislaw.html
[4] https://web.archive.org/web/20051122170340/http://www.rzuser.uni-heidelberg.de/~tkirrste/bronislaw_malinowski.html
[5] https://web.archive.org/web/20051226110413/http://www.vanderbilt.edu/AnS/Anthro/Anth206/malinowski.htm
4.2.2.1.1 Funktionalismus und Ökonomie
Der Funktionalismus bildete eine wichtige theoretische Strömung der Anthropologie im 20.Jahrhundert und formulierte eine holistische und integrative Gesellschaftstheorie.
Er betrachtet sozio-kulturelle Erscheinungen unter dem Gesichtspunkt ihrer Funktion innerhalb einer Gesellschaft. Eine Gesellschaft wird dabei als ein organisches Ganzes verstanden, als ein Gefüge von Komponenten, die miteinander verbunden sind und sinnvoll zusammenwirken. Wichtige Fragestellungen des Funktionalismus beziehen sich auf die Prinzipien dieses Zusammenwirkens, z.B. auf die soziale Organisation. Einzelne Aspekte einer Gesellschaft werden nicht isoliert betrachtet und als Einzelphänomene mit anderen Gesellschaften verglichen, sondern im Kontext ihres spezifischen sozialen und kulturellen Gefüges untersucht und analysiert.
Ökonomie bzw. ökonomische Handlungen bilden in diesem Sinn einen integralen Bestandteil des sozialen und kulturellen Gefüges einer Gemeinschaft, erfüllen bestimmte Funktionen und sind eng mit anderen Gesellschaftsbereichen verbunden. Die Studie Malinowski´s über das Tauschsystem des Kula-Rings bildet ein klassisches Beispiel für diese Forschungsrichtung.
Der Funktionalismus wurde mit Aspekten des Strukturalismus kombiniert (Struktural-Funktionalismus) und war lange Zeit ein zentrales Paradigma der europäischen (vor allem der britischen) Sozialanthropologie. Viele Thesen des (Struktural-) Funktionalismus bauen auf den Theorien des Soziologen und Anthropologen Émile Durkheim[1] auf, wichtige Vertreter dieser Schule sind u.a. Bronislaw Malinowski, A.R. Radcliffe-Brown, Raymond Firth[2] (vgl. auch Kuper 1975).
Kritik am (Struktural-) Funktionalismus bezieht sich u.a. auf die holistische Betrachtung einzelner Kulturen und auf das Vernachlässigen transkultureller Interaktionen und Veränderungsprozesse.
Das Buch "Die Argonauten des westlichen Pazifik" (Malinowski 1922) gilt als eine der ersten großen Monographien im Forschungsfeld der ökonomischen Anthropologie.
Es beschäftigt sich mit verschiedenen Dimensionen von Produktion, Distribution und Konsumption in ihrem sozialen und religiösen Kontext. Im Mittelpunkt der Analyse steht das Tauschsystem des Kula. Das Buch beruht auf Feldforschungen die Malinowski 1915/16 und 1917/18 auf den pazifischen Trobriand Inseln durchgeführte.
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 4.1.1
[2] Siehe Kapitel 3.1
4.2.2.1.2 Kula
Kula ist ein Tauschsystem und erstreckt sich auf 14 Inselgruppen vor Ost-Papua Neuguinea (Trobriand). Es stellt keineswegs die einzige Form des Tausches in der Region dar (in Trobriand existieren ca. 80 verschiedene Formen des Tausches), es ist vielmehr die wichtigste Institution. Getauscht werden beim Kula im Kreis der Inseln zwei Typen von Wertgegenständen aus Muscheln: Im Uhrzeigersinn zirkulieren soulawa (rote Hufmuschel - Halsketten), gegen den Uhrzeigersinn zirkulieren mwali (weiße Armbänder aus Kegelschnecken). In diesem Sinne spricht man auch vom "Kula Ring".
Der Tausch der Kula-Objekte ist in ein komplexes Gefüge von sozialen Prozessen und religiösen Ritualen eingebunden. Im Rahmen des Kula-Tausches wird Reichtum transferiert, Status erworben, Allianzen zwischen Personen und Gruppen werden geschlossen oder in Frage gestellt.
Every movement of the Kula articles, every detail of the transactions is fixed and regulated by a set of traditional rules and conventions, and some acts of the Kula are accompanied by an elaborate magical ritual and public ceremonies." (Malinowski 1922: 81)
4.2.2.1.2.1 Kula-Objekte und Tauschbeziehungen
Im Rahmen des Kula werden soulawa (rote Hufmuschel - Halsketten) und mwali (weiße Armbänder aus Kegelschnecken) immer gegeneinander getauscht. Mehrere tausend solcher Objekte zirkulieren im Kula Ring. Ziel ist nicht die Akkumulation der Kula-Objekte, die immer nur im temporären Besitz einer Person sind, sondern das Etablieren von Tauschpartnerschaften.
... thus no man keeps any of the articles for any length of time in his possession. One transaction does not finish the Kula relationship, the rule being 'once in the Kula, always in the Kula'", and a partnership between two men is a permanent and lifelong affair." (Malinowski 1922: 81)
Wenn eine Person z.B. 'soulawa' - Ketten erhält, so muss sie eine entsprechende Menge 'mwali' - Armbänder zurückgeben. Da eine gleichwertige Rückgabe die Kula-Transaktion und die Tauschpartnerschaft beenden würde, wird immer ein höherer Wert als jener der Gabe zurückgegeben. Somit bleibt eine "Schuld" bestehen und die Tauschbeziehung wird fortgesetzt.
Das Etablieren und Erhalten von Tauschpartnerschaften in verschiedenen sozialen und geographischen Räumen ist mit komplexen ökonomischen, sozialen und rituellen Handlungen verknüpft.
4.2.2.1.2.2 Andere Tausch-Objekte
Side by side with the Kula, the subsidiary trade goes on, the visitors acquiring a great number of articles of minor value, but of great utility, some of them unprocurable in Kiriwina, as, for instance, rattan, fibre, belts, cassowary feathers, certain kinds of spear wood, obsidian, red ochre and many other articles." (Malinowski 1922: 105).
Kula-Transaktionen beschränken sich nicht auf den Tausch der Kula-Objekte im engeren Sinn ('soulawa' und 'mwali'). Sie beinhalten - wie aus der obigen Beschreibung einer Kula-Expedition hervorgeht - ein breites Spektrum von "sekundären Tauschartikeln" bzw. Handelsgütern.
Neben den Prestigegütern zirkulieren also im Kula-Ring auch andere Materialien und Produkte: Auf diese Weise entstehen komplexe Handelsbeziehungen zwischen Inseln mit unterschiedlichen ökologischen Gegebenheiten, Ressourcen und SpezialistInnen.
4.2.2.1.2.3 Von Person zu Person, von Insel zu Insel
Kula-Tausch findet in verschiedenen sozialen und geographischen Räumen statt. Eine Person verfügt immer über mehrere Tauschpartnerschaften, und zwar entsprechend Alter und Prestige, über eine unterschiedliche Zahl von Partnern in verschiedenen geographischen Zonen.
- Inland-Kula: Getauscht wird innerhalb einer Kula-Gemeinschaft - zwischen verschiedenen Personen bzw. zwischen verschiedenen Dörfern einer Insel. Durch die Tauschbeziehungen werden soziale und ökonomische Netzwerke aufgebaut und persönlicher Status in der Gemeinschaft erlangt.
- Kula-Gemeinschaft: Sie besteht aus einem Dorf oder einer Reihe von Dörfern, die gemeinsam im Kula-System nach außen agieren, d.h. gemeinsam Übersee -- Kula Expeditionen durchführen, die entsprechenden Rituale veranstalten etc.
- Übersee-Kula: Getauscht wird zwischen Inseln bzw. Inselgruppen. Die Transaktionen auf dieser Ebene erfordern groß angelegte Schiffsreisen, die Tauschpartner sind Personen mit hohem sozialen Status bzw. politische Führer. Der Kula ist auf dieser Ebene mit weitreichenden sozialen und politischen Allianzen verbunden.
Thus the Kula partnership provides every man within its ring with a few friends near at hand, and with some friendly allies in the far- away, dangerous foreign districts. ... We see that all around the ring of Kula there is a network of relationsships, and that naturally the whole forms one interwoven fabric." (Malinowski 1922:92)
4.2.2.1.2.4 Ruhm, Macht und Reichtum
Durch den gezielten und erfolgreichen Tausch von Kula-Objekten kann eine Person Ruhm, Macht und Reichtum erlangen.
- Ruhm: Der soziale Aufstieg in der Gesellschaft der Trobriander besteht darin, sich "auf der Straße des Kula" einen Namen zu machen. Die Geschichten der großen Kula-Fahrten der Vorfahren werden in Mythen besungen und tradiert. Der temporäre Besitz und ein möglichst großer "flow" vieler Kula-Objekte sowie die "Kunst des Kula" - das Erlangen und die Weitergabe der Objekte in einem komplexen Netzwerk - schaffen Prestige.
- Macht: Erfolg im Kula wird einer besonderen, persönlichen Macht bzw. "Magie" zugeschrieben. Das Konzept von persönlicher spiritueller Macht ist in Ozeanien weit verbreitet (z.B. mana). Aufgrund solcher Fähigkeiten (oder Begabungen) kann sich eine Person im Kula profilieren.
- Reichtum: Je höher der Rang einer Person ist, je mehr Tauschpartner sie hat, umso mehr Güter befinden sich (temporär) in ihrem Besitz. Das wesentliche am Besitz ist die Möglichkeit, ihn an Andere zu verteilen. Jeder, der etwas besitzt, ist dazu verpflichtet, es zu teilen - je höher sein Rang ist, umso größer ist diese Verpflichtung. Großzügigkeit bei der Verteilung von Gütern bringt wiederum Prestige.
Thus the main symptom of being powerful is to be wealthy, and of wealth is to be generous." (Malinowski 1922: 97)
4.2.2.1.2.5 Ökonomie, Gesellschaft, Symbol
Bronislaw Malinowski bezeichnet ökonomische Aktivitäten explizit als soziales Phänomen; er schließt hiermit an Èmile Durkheim[1] an und wird in vieler Hinsicht als Wegbereiter der Substantivisten bewertet. Mit seiner Studie trägt Malinowksi auch wesentlich zu späteren Debatten um das Verhältnis von Ökonomie und Gesellschaft bei:
- Grundsätzlich geht er von der Annahme aus, dass alle Menschen auf rationale Weise ihre Bedürfnisse befriedigen wollen, dazu benutzen sie unterschiedliche Modelle und Lösungen, deren "Rationalität" nur im Rahmen spezifischer kultureller Parameter zu verstehen ist. Konkret wandte sich Malinowski mit diesem Ansatz gegen eine Reihe von Kolonialbeamten und Missionare, welche den Kula und andere Aspekte der Kultur der Trobriander als "verrückte und sinnlose Bräuche" abwerteten.
- Malinowski stellt die universelle Gültigkeit der Prinzipien neoklassischer Ökonomie in Frage oder lehnt sie generell ab. Das Prinzip des Eigeninteresses im ökonomischen System der Trobriander erachtet er als irrelevant'*, den Begriff eines universellen 'homo economicus* ("Primitive Economic Man") hält er für unbrauchbar, um das ökonomische Handeln in verschiedenen Gesellschaften zu erklären. Eine Dominanz des utilitaristischen Handelns ist laut Malinowski weder für die Trobriander noch für den westlichen Kapitalismus zutreffend: Beide Systeme sind "voll von Magie und Symbolismus" (Malinowksi 1931: 636), handlungsleitend für ökonomische Aktivitäten sind generell Fragen von Prestige und Macht, von Glauben und Magie. In diesem Sinne - sowie in Hinblick auf das Konzept von Kultur - steht Malinowski auch in der Tradition von Max Weber[2] (vgl. Rössler 1999:77, Wilk 1996:113-114).
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 4.1.1
[2] Siehe Kapitel 4.1.2
4.2.2.1.2.6 Kula, Reziprozität und "primitive" Ökonomie
Die Institution des Kula steht im Mittelpunkt vieler sozial- und kulturanthropologischer Theorien des 20.Jahrhunderts. In Bezug auf die ökonomische Anthropologie sind vor allem folgende Themenfelder relevant.
- Tausch: Malinowski betont die enge Verbindung von Formen des Tausches mit einem spezifischen sozialen und symbolischen System: So existieren in Trobriand ca. 80 verschiedene Formen des Tausches, die mit bestimmten Objekten und sozialen Beziehungen verknüpft sind. Die Verbindungsweisen von (dominanter) Tauschform und Gesellschaftsform bilden eine der zentralen Fragestellungen (und Debatten) der ökonomischen Anthropologie (vgl. Davis 1992).
- Reziprozität: Kula bildet einen ethnographischen Prototyp für Theorien über Reziprozität. Beginnend mit Marcel Mauss wurde (am Beispiel des Kula) die ökonomische und soziale Bedeutung von Gabe und Gegengabe immer wieder aus unterschiedlichen theoretischen Perspektiven untersucht.
- Tausch und Reziprozität gelten vielen Theoretikern als Basis der menschlichen Gesellschaft (z.B. Marcel Mauss[1], Claude Lévi-Strauss [2]).
- Die Formen und der Stellenwert von Reziprozität für ein ökonomisches System wurden in einer großen Bandbreite von Kontexten analysiert und diskutiert (z.B. Karl Polanyi[3], Marshall Sahlins[4]).
- Gegensatz zwischen "primitiver" und "moderner" Ökonomie: Malinowski betont immer wieder die kulturelle Gebundenheit des (ökonomischen) Denkens und Handelns der Trobriander. Die "andere Kultur" geht Hand in Hand mit einer "anderen Wirtschaftsform" (oft auch als "primitive Ökonomie" bezeichnet) - auch wenn alle Formen der Ökonomie dasselbe Ziel verfolgen (nämlich die Befriedigung von Grundbedürfnissen).
- Dieser Ansatz wurde von vielen Autoren aufgegriffen und in diversen theoretischen Zusammenhängen erörtert und weiterentwickelt. Er bildet einen wichtigen Aspekt der Theorien der Substantivisten, die von einer substanziellen Differenz zwischen verschiedenen Typen von Ökonomien ausgehen (z.B. Karl Polanyi[5], George Dalton[6]). Sie postulieren einen grundsätzlichen Unterschied zwischen jenen Wirtschaftsformen, die auf reziprokem Tausch basieren, und der "Marktwirtschaft", in welcher der Warentausch in einem Marktsystem vorherrscht.
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 4.2.2.2
[2] Siehe Kapitel 10.3 der Lernunterlage Mythen in Lateinamerika und Ethnologische Mythenforschung
[3] Siehe Kapitel 4.3.1
[4] Siehe Kapitel 4.3.3
[5] Siehe Kapitel 4.3.1
[6] Siehe Kapitel 4.3.2
4.2.2.2 Marcel Mauss
Marcel Mauss (1872 -- 1950)
1923/24: Essai sur le don, dt.: Die Gabe
In der skandinavischen und in vielen anderen Kulturen finden Austausch und Verträge in Form von Geschenken statt, die theoretisch freiwillig sind, in Wirklichkeit jedoch immer gegeben und erwidert werden müssen.[ ... ] Und da wir feststellen werden, dass diese Moral und diese Ökonomie sozusagen unterschwellig auch noch in unseren eigenen Gesellschaften wirken und da wir glauben, hier einen der Felsen gefunden zu haben, auf denen unsere Gesellschaften ruhen, können wir daraus einige moralische Schlußfolgerungen bezüglich einiger Probleme ziehen, vor die uns die Krise unseres Rechts und unserer Wirtschaft stellt." (Mauss 1990: 17;19)
Der französische Sozialwissenschafter Marcel Mauss, Neffe von Èmile Durkheim[2] und Onkel von Claude Lévi-Strauss, ist ein maßgeblicher Vertreter der Sozialanthropologie des 20. Jahrhunderts. Seine Arbeiten umfassen ein breites Spektrum von thematischen Feldern und erstrecken sich von Fragen der Soziologie und der ökonomischen Anthropologie (Mauss 1923/24.[1990]) zu Forschungen über das Konzept der Person (Mauss 1938) oder über die Prinzipien der Magie (Mauss/Hubert 1902 [1972]).
Im Mittelpunkt seines Interesses steht das Verständnis sozialer Systeme, Mauss führt dabei in vieler Hinsicht die Ansätze Durkheims weiter aus. Verstehen bedeutet für ihn, soziale Phänomene in ihrer Totalität zu sehen, d.h. im Bezugsrahmen einer gesamtgesellschaftlichen Ordnung. Im Gegensatz zu vielen anderen Wissenschaftern seiner Zeit betont Mauss immer wieder die Gleichwertigkeit und Gleichrangigkeit verschiedener Gesellschaften und Zivilisationen und verwendet den sonst so beliebten Begriff des "Primitiven" nicht.
Soziale Systeme sind für Mauss Netzwerke von reziproken Verpflichtungen, die im rituellen Austausch von Gütern und Dienstleistungen verwirklicht werden. Beziehungen zwischen verschiedenen Gruppen können entweder durch Kriege oder durch Geschenke geregelt werden. Die Gabe, ein Prozess aus Geben, Annehmen und Zurückgeben, ermöglicht Vertrauen und damit friedliches Zusammenleben.
"Indem die Völker die Vernunft dem Gefühl entgegenstellen und den Willen zum Frieden gegenüber plötzlichen Wahnsinnstaten geltend machen, gelingt es ihnen, das Bündnis, die Gabe und den Handel an die Stelle des Kriegs, der Isolierung und der Stagnation zu setzen." (Mauss 1990: 181)
Marcel Mauss im WWW:
https://web.archive.org/web/20060101012310/http://www.kfunigraz.ac.at/sozwww/agsoe/lexikon/klassiker/mauss/31bio.htm [3]
https://web.archive.org/web/20070928061459/http://www.anthrobase.com/Dic/eng/pers/mauss_marcel.htm [4]
https://web.archive.org/web/20051226202900/http://www.chez.com/sociol/socio/autob/mauss.htm [5]
Verweise:
[1] https://web.archive.org/web/20051201024417/http://www.mnsu.edu/emuseum/information/biography/klmno/mauss_marcel.html
[2] Siehe Kapitel 4.1.1
[3] https://web.archive.org/web/20060101012310/http://www.kfunigraz.ac.at/sozwww/agsoe/lexikon/klassiker/mauss/31bio.htm
[4] https://web.archive.org/web/20070928061459/http://www.anthrobase.com/Dic/eng/pers/mauss_marcel.htm
[5] https://web.archive.org/web/20051226202900/http://www.chez.com/sociol/socio/autob/mauss.htm
4.2.2.2.1 Die Gabe
"Die Gabe" ('Essai sur le don' 1923/24) ist einer der einflussreichsten Aufsätze der Kultur- und Sozialanthropologie schlechthin.
Mauss geht davon aus, dass das soziale Leben eine relativ autonome Ebene der Untersuchung konstituiert. Die Gesellschaft entwickelt strukturelle Vorkehrungen, mit deren Hilfe das menschliche Zusammenleben gewährleistet werden soll.
Eines der sozialen Phänomene, die das friedliche Zusammenleben der Menschen stärken, ist die Gabe, das Geschenk. Dies führt zum Meisterwerk von Marcel Mauss, "Die Gabe".
Die Gabe im Mauss'schen Sinn ist ein "totales soziales Phänomen", das alle Mitglieder einer Gesellschaft zueinander in Beziehung setzt und integriert. Er versteht dabei unter "Gabe" primär Phänomene nicht-staatlicher Gesellschaften, bei denen Geschenke zwischen Individuen und zwischen Gruppen ausgetauscht werden. Als klassische Beispiele aus der Literatur zieht er dafür den "Kula-Austausch" unter den Trobriandern (Malinowski's Argonauten[1]) oder den von Boas in vielen Arbeiten beschriebenen "Potlatch" bei nordamerikanischen Indianern heran. Anhand von zahlreichen weiteren Belegen aus unterschiedlichen, gut dokumentierten Gesellschaften entwickelt Mauss das Reziprozitäts- und Tauschprinzip.
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 4.2.2.1.1
[2] https://web.archive.org/web/20051026144055/http://www.library.state.ak.us/hist/cent/020-0055.jpg
4.2.2.2.1.1 Reziprozitäts- und Tauschprinzip
Laut Marcel Mauss begründet die Gabe eine Schuld; d.h., der Beschenkte fühlt sich in der Schuld des Schenkenden. Er ist bestrebt, diese Schuld durch ein Gegengeschenk auszugleichen. Ist ihm dies aus ökonomischen oder sozialen Gründen nicht möglich oder liegt ein längerer Zeitraum zwischen Gabe und Gegengabe, so wird zwischen Schenkendem und Beschenktem ein soziales Band geknüpft, ein Band von gegenseitigen Verpflichtungen. Genau dadurch wird die Gabe zu einem strukturellen Element, das den sozialen Zusammenhalt über große Distanzen hinweg und auch außerhalb des vertrauten, intimen Familienkreises ermöglicht.
Mauss versucht nachzuweisen, dass das Reziprozitäts- und Tauschprinzip universell ist. Geben, Nehmen und Zurückerstatten werden bei ihm -- unter Verwendung eines Begriffs von Durkheim -- zum "fait social total", zur totalen sozialen Tatsache, die über allem steht. Es gibt bei Mauss natürlich noch andere soziale Tatsachen, aber dieses Tauschprinzip ist das elementarste. Ohne dieses Tauschprinzip kann eine Gesellschaft nicht funktionieren.
Wenn er hier von "funktionieren" spricht, so meint er damit, dass ein funktionaler Zusammenhang zwischen den verschiedenen sozialen Tatsachen anzunehmen ist, die allerdings wieder von der Reziprozität geleitet werden. Durch dieses Tauschprinzip ist in einer Gesellschaft alles mit allem verwoben, es ist sozusagen der soziale Kitt, der eine Gesellschaft zusammenhält. Der Tausch ist deswegen die totale soziale Tatsache, weil im Tausch alle Formen von Institutionen gleichzeitig ihren Ausdruck finden; und zwar religiöse, moralische, rechtliche und ökonomische Institutionen.
4.2.2.2.1.2 Ökonomie und Philosophie der Gabe
Wie schon für Durkheim[1] ist auch für Mauss klar, dass derartige systematische Elemente des sozialen Zusammenhalts wie die Gabe nicht nur einen praktischen und einen Orientierungsaspekt haben, sondern immer zugleich auch einen ideellen, einen mentalen Aspekt. Durkheim spricht von Repräsentationen, die den sozialen Zusammenhalt auch dort gewährleisten, wo die Arbeitsteilung noch nicht sehr stark ausgeprägt ist. Mauss geht es in Fortsetzung dieses Ansatzes darum, zu zeigen, dass Handeln und Denken im Idealfall eins sein sollten. Weiters betont er, dass die Menschen nicht nur handeln, sondern spätestens nachher auch darüber nachdenken, was diese Handlungen zu bedeuten haben. Insofern gehen Handlungen, wie der Geschenkaustausch, immer auch mit Klassifikationssystemen einher, mit Vorstellungssystemen, mit Ideengebäuden der jeweiligen Gesellschaft und müssen im Zusammenhang damit auch von der Kultur- und Sozialanthropologie untersucht werden.
Mauss hat bereits 1903 in einem Artikel, den er gemeinsam mit Durkheim über "Primitive Klassifikationsformen" geschrieben hat, darauf hingewiesen, dass die Arbeitsteilung zwischen Gruppen -- die etwa Geschenke austauschen -- immer auch das Modell vorgibt, wie man sich den Austausch der Gaben vorstellt. Die Arbeitsteilung ist also quasi die Vorlage, nach der der Geschenkaustausch gedacht wird.
Verweise:
4.2.2.3 Mauss und Malinowski
- Malinowski hat im Kula-Tausch vor allem die soziale Funktion für den Einzelnen gesehen: Welche Stellung hat die einzelne Person im Netzwerk der Kula-Partner? Als junger Mann tauscht man sich in das Netzwerk hinein, baut dieses aus und verschafft sich mit der Zeit hohes Ansehen.
- Mauss interpretiert Malinowskis Daten nicht aus der Perspektive des Individuums, sondern aus jener der Gesellschaft. Er sieht Geben -- Annehmen -- Erwidern als den Mechanismus, der Menschen, die an sich autark sind, miteinander verbindet.
4.2.3 Bibliographie und weiterführende Literatur
Clifford, James 1986: Introduction: Partial Truths. In J. Clifford, G. E. Marcus. (Hg.): *Writing Culture. The Poetics and Politics of Ethnography*. Berkeley: University of California Press. S. 1-26.
Davis, John 1992: 'Exchange'. Minneapolis: University of Minnesota Press.
Durkheim, Emil; Mauss, Marcel 1903: "De quelques formes primitives de classifications. Contributions à l' étude des représentations collectives." In 'L' Année Sociologique' 6, S. 1-72.
Graeber, David 2001: *Toward an Anthropological Theory of Value. The False Coin of Our Own Dreams*. New York: Palgrave.
Köcke, Jasper 1979: Some Early German Contributions to Economic Anthropology. In G. Dalton (Hg.): 'Research in Economic Anthropology'. A Research Annual. Greenwich, Connecticut: JAI Press Inc, S. 119-167.
Kuper, Adam 1996 (1975): *Anthropologists and Anthropology. The Modern British School*. London, New York: Routledge.
Leach, Jerry W. ; Leach, Edmund (Hg.) 1983: *The Kula. New Perspectives on Massim Exchange*. Cambridge: Cambridge University Press.
Malinowski, Bronislaw 1921: "The Primitive Economics of the Trobriand Islanders." 'Economic Journal' 31, S. 1-16.
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