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Die Frage der '''methodologischen Zuordnung an Geistes- oder Naturwissenschaften''' bildet bis in die Gegenwart eine '''Hauptauseinandersetzung in den''' '''Sozialwissenschaften[[Grundlagen_sozialwissenschaftlicher_Methodologie_-_Glossar/Sozialwissenschaft#2.17 Sozialwissenschaft|[1]]]''', was auch in der Trennung von '''quantitativen[[Methodologische_Gegensatzpaare#1.4.2 quantitativ|[2]]]''' Methoden und '''qualitativen[[Methodologische_Gegensatzpaare/Qualitativ-Quantitativ#1.4.1 qualitativ|[3]]]''' Verfahren zum Ausdruck kommt.
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Die Frage der '''methodologischen Zuordnung an Geistes- oder Naturwissenschaften''' bildet bis in die Gegenwart eine '''Hauptauseinandersetzung in den''' '''Sozialwissenschaften[[Grundlagen_sozialwissenschaftlicher_Methodologie_-_Glossar/Sozialwissenschaft#2.17 Sozialwissenschaft|[1]]]''', was auch in der Trennung von '''quantitativen[[Methodologische_Gegensatzpaare/Qualitativ-Quantitativ#1.4.2 quantitativ|[2]]]''' Methoden und '''qualitativen[[Methodologische_Gegensatzpaare/Qualitativ-Quantitativ#1.4.1 qualitativ|[3]]]''' Verfahren zum Ausdruck kommt.
  
 
In den heutigen Sozialwissenschaften werden Verstehen und Erklären zunehmend weniger als konkurrierende Paradigmen, sondern als '''unterschiedliche Versuche angenommen, sich soziale Wirklichkeit anzueignen'''. Für die sozialwissenschaftliche Erkenntnis sind letztlich beide Vorgangsweisen von Bedeutung; sie bilden keine einander ausschließenden Alternativen.
 
In den heutigen Sozialwissenschaften werden Verstehen und Erklären zunehmend weniger als konkurrierende Paradigmen, sondern als '''unterschiedliche Versuche angenommen, sich soziale Wirklichkeit anzueignen'''. Für die sozialwissenschaftliche Erkenntnis sind letztlich beide Vorgangsweisen von Bedeutung; sie bilden keine einander ausschließenden Alternativen.
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Die Sozialwissenschaften streben danach, beobachtbare Zusammenhänge nicht nur zu beschreiben, sondern auch in Hinblick auf mögliche '''Ursachen und Wirkungen''' zu analysieren und zu erklären. Der Anspruch des Erklärens beruht auf der Prämisse von '''sozialer Wirklichkeit''' als einem '''System von Gesetzmäßigkeiten''', die als Ursache- Wirkungszusammenhänge beschreibbar sind und weitgehend unabhängig von subjektiven Sinnzusammenhängen existieren.
 
Die Sozialwissenschaften streben danach, beobachtbare Zusammenhänge nicht nur zu beschreiben, sondern auch in Hinblick auf mögliche '''Ursachen und Wirkungen''' zu analysieren und zu erklären. Der Anspruch des Erklärens beruht auf der Prämisse von '''sozialer Wirklichkeit''' als einem '''System von Gesetzmäßigkeiten''', die als Ursache- Wirkungszusammenhänge beschreibbar sind und weitgehend unabhängig von subjektiven Sinnzusammenhängen existieren.
  
Die Prämisse des klassischen Erklärungsansatzes geht auf '''John Stuart Mill[http://de.wikipedia.org/wiki/John_Stuart_Mill &#91;1&#93;]''' (1806- 1873) zurück. Um von einer Erklärung sprechen zu können, müsse nach Mill eine Beziehung zwischen Wirkung und Ursache vorliegen und die Ursache der Wirkung zeitlich vorangehen. Andere Erklärungen und Schlüsse seien auszuschließen. Mill definiert '''Erklärung''' als einen '''kausalen Zusammenhang[[Grundlagen_sozialwissenschaftlicher_Methodologie_-_Glossar/Kausalität#2.11 Kausalität|[2]]]''' '''von Ursache und Wirkung''': als einen nicht umkehrbaren empirischen Zusammenhang zwischen zwei oder mehreren Variablen. Voraussetzung ist eine '''Feststellung der unabhängigen''' (der einflussgebenden) und der '''abhängigen''' (beeinflussten) '''Variablen[[Grundlagen_sozialwissenschaftlicher_Methodologie_-_Glossar/Variable#2.23 Variable|[3]]]'''. Durch gezielte Manipulation der unabhängigen Variablen, wie dies idealiter im '''Experiment[[Grundlagen_sozialwissenschaftlicher_Methodologie_-_Glossar/Experiment#2.4 Experiment|[4]]]''' der Fall ist, kann die veränderte Wirkung auf die abhängige Variable gemessen werden. Der '''Wert von Kausalerklärungen''' liegt in ihrer '''Voraussagekraft''', sie verlangen den Einsatz '''quantitativer[[Methodologische_Gegensatzpaare#1.4.2 quantitativ|[5]]]''' Methoden.
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Die Prämisse des klassischen Erklärungsansatzes geht auf '''John Stuart Mill[http://de.wikipedia.org/wiki/John_Stuart_Mill &#91;1&#93;]''' (1806- 1873) zurück. Um von einer Erklärung sprechen zu können, müsse nach Mill eine Beziehung zwischen Wirkung und Ursache vorliegen und die Ursache der Wirkung zeitlich vorangehen. Andere Erklärungen und Schlüsse seien auszuschließen. Mill definiert '''Erklärung''' als einen '''kausalen Zusammenhang[[Grundlagen_sozialwissenschaftlicher_Methodologie_-_Glossar/Kausalität#2.11 Kausalität|[2]]]''' '''von Ursache und Wirkung''': als einen nicht umkehrbaren empirischen Zusammenhang zwischen zwei oder mehreren Variablen. Voraussetzung ist eine '''Feststellung der unabhängigen''' (der einflussgebenden) und der '''abhängigen''' (beeinflussten) '''Variablen[[Grundlagen_sozialwissenschaftlicher_Methodologie_-_Glossar/Variable#2.23 Variable|[3]]]'''. Durch gezielte Manipulation der unabhängigen Variablen, wie dies idealiter im '''Experiment[[Grundlagen_sozialwissenschaftlicher_Methodologie_-_Glossar/Experiment#2.4 Experiment|[4]]]''' der Fall ist, kann die veränderte Wirkung auf die abhängige Variable gemessen werden. Der '''Wert von Kausalerklärungen''' liegt in ihrer '''Voraussagekraft''', sie verlangen den Einsatz '''quantitativer[[Methodologische_Gegensatzpaare/Qualitativ-Quantitativ#1.4.2 quantitativ|[5]]]''' Methoden.
  
 
Neben kausalen Erklärungen existieren auch teleologische Erklärungen. Als '''teleologische Erklärung''' gilt der Versuch, etwas durch seinen Zweck zu erklären. Diese Form der Erklärung gilt jedoch als logisch nicht einwandfrei.
 
Neben kausalen Erklärungen existieren auch teleologische Erklärungen. Als '''teleologische Erklärung''' gilt der Versuch, etwas durch seinen Zweck zu erklären. Diese Form der Erklärung gilt jedoch als logisch nicht einwandfrei.
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[[Methodologische_Gegensatzpaare/Ideographisch-Nomothetisch|'''Nächstes Kapitel: 1.2 idiographisch vs. nomothetisch''']]
 
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Latest revision as of 14:17, 24 September 2020

Vorheriges Kapitel: 1. Methodologische Gegensatzpaare

1.1 verstehen vs. erklären

Verfasst von Christoph Reinprecht et al.

Die Gegenüberstellung von Verstehen[1] und Erklären[2] geht auf den Historiker Johann Gustav Droysen[3] (1808-1884) und den Philosophen Wilhelm Dilthey[4] (1833- 1911) zurück, die den Geisteswissenschaften einen von den Naturwissenschaften unabhängigen wissenschaftlichen Status zuschrieben. Mit dem Hinweis auf die Eigengesetzlichkeit des menschlichen (Geistes)Lebens begründete Dilthey die Notwendigkeit einer spezifischen Methode.

Abbildung: Person erklärt mathematische Formel, Quelle: B. Rieger

Während die naturwissenschaftliche Arbeitsweise von der Existenz "objektiver"[5] Gesetzmäßigkeiten und Regeln ausgeht und nach einer Erklärung gesetzmäßiger Zusammenhänge von Ursache und Wirkung strebt, untersucht die verstehende Vorgangsweise die Sinnzusammenhänge, d.h. die Beweggründe und Bedeutungen menschlichen Handelns.

Abbildung: Person mit Glühbirne, Quelle: B. Rieger


Verweise:
[1] Siehe Kapitel 1.1.4
[2] Siehe Kapitel 1.1.3
[3] http://de.wikipedia.org/wiki/Johann_Gustav_Droysen
[4] http://de.wikipedia.org/wiki/Wilhelm_Dilthey
[5] Siehe Kapitel 2.15

Inhalt

1.1.1 Geschichtliche Entwicklung

Verfasst von Christoph Reinprecht et al.

Foto: Wilhelm Dilthey, Quelle: http://www.dhm.de, 2010

Die von Dilthey den Natur- und Geisteswissenschaften zugeschriebenen Arbeitsweisen gelten beide auch innerhalb der Sozialwissenschaften. Erklärende und nach Gesetzmäßigkeiten strebende (nomothetische[1]) Zugänge konkurrieren mit verstehenden bzw. deutenden (idiographischen[2]) Vorgangsweisen.

In der Geschichte der Wissenschaftstheorie finden sich mehrere Versuche, die methodologische Spaltung zwischen Verstehen und Erklären zu überwinden. Einflussreich war das Bemühen des Wiener Kreises[3] (1922- 1936) rund um Moritz Schlick, Rudolf Carnap, Otto Neurath und andere um die Etablierung einer Einheitswissenschaft. Dieses Programm beruhte auf der Vorstellung einer Einheit von Wirklichkeit und der Einheit der Erkenntnis und gipfelte in der Forderung nach einem universalen theoretischen System von Basissätzen in einer vereinheitlichten physikalisch-mathematischen Formelsprache. Demnach sollten alle wissenschaftlichen Begriffe auf der Basis physikalischer Grundbegriffe wie z.B. Masse, Raum und Zeit definierbar sein, was sich jedoch rasch als undurchführbar erwies.

Auch spätere Bemühungen, etwa des kritischen Rationalismus von Karl Popper[4], um eine für alle Sozialwissenschaften verbindliche Erkenntnis- und Arbeitsweise, waren zum Scheitern verurteilt, da es nicht gelang, die unterschiedlichen wissenschaftstheoretischen Prämissen zu integrieren.

Eine Schlüsselfrage betrifft die Einschätzung der Beziehung zur sozialen Welt: Existiert diese, wie der kritische Rationalismus behauptet, unabhängig von unserem Wissen, oder ist das, was wir als soziale Welt zu beschreiben und erkennen meinen, nicht immer auch abhängig von unserem historisch geprägten Verständnis von sozialen Phänomenen. Das Argument, dass Wirklichkeit auch sozial konstruiert ist, rechtfertigt die Methode des Verstehens.


Verweise:
[1] Siehe Kapitel 1.2.2
[2] Siehe Kapitel 1.2.1
[3] http://de.wikipedia.org/wiki/Wiener_Kreis
[4] http://de.wikipedia.org/wiki/Karl_Popper


1.1.2 Sozialwissenschaft im Spannungsfeld zwischen Natur- und Geisteswissenschaften

Verfasst von Christoph Reinprecht et al.

Die Frage der methodologischen Zuordnung an Geistes- oder Naturwissenschaften bildet bis in die Gegenwart eine Hauptauseinandersetzung in den Sozialwissenschaften[1], was auch in der Trennung von quantitativen[2] Methoden und qualitativen[3] Verfahren zum Ausdruck kommt.

In den heutigen Sozialwissenschaften werden Verstehen und Erklären zunehmend weniger als konkurrierende Paradigmen, sondern als unterschiedliche Versuche angenommen, sich soziale Wirklichkeit anzueignen. Für die sozialwissenschaftliche Erkenntnis sind letztlich beide Vorgangsweisen von Bedeutung; sie bilden keine einander ausschließenden Alternativen.

Die verstehende Vorgangsweise[4] hat einen heuristischen, d.h. einen auffindenden, entdeckenden Wert. Sie trägt zur Exploration von Lebenswelten und Sinnkonstruktionen bei und ermöglicht die Interpretation und Illustration von statistisch gewonnenen Ergebnissen.

Die Methode der Erklärung[5] dient der Überprüfung von Hypothesen über Ursache- Wirkungs- Relationen, sie ermöglicht verallgemeinerbare und bis zu einem gewissen Grad auch prognostische Aussagen.


Verweise:
[1] Siehe Kapitel 2.17
[2] Siehe Kapitel 1.4.2
[3] Siehe Kapitel 1.4.1
[4] Siehe Kapitel 1.1.4.1
[5] Siehe Kapitel 1.1.3.1

1.1.3 erklären

Verfasst von Christoph Reinprecht et al.

Die Sozialwissenschaften streben danach, beobachtbare Zusammenhänge nicht nur zu beschreiben, sondern auch in Hinblick auf mögliche Ursachen und Wirkungen zu analysieren und zu erklären. Der Anspruch des Erklärens beruht auf der Prämisse von sozialer Wirklichkeit als einem System von Gesetzmäßigkeiten, die als Ursache- Wirkungszusammenhänge beschreibbar sind und weitgehend unabhängig von subjektiven Sinnzusammenhängen existieren.

Die Prämisse des klassischen Erklärungsansatzes geht auf John Stuart Mill[1] (1806- 1873) zurück. Um von einer Erklärung sprechen zu können, müsse nach Mill eine Beziehung zwischen Wirkung und Ursache vorliegen und die Ursache der Wirkung zeitlich vorangehen. Andere Erklärungen und Schlüsse seien auszuschließen. Mill definiert Erklärung als einen kausalen Zusammenhang[2] von Ursache und Wirkung: als einen nicht umkehrbaren empirischen Zusammenhang zwischen zwei oder mehreren Variablen. Voraussetzung ist eine Feststellung der unabhängigen (der einflussgebenden) und der abhängigen (beeinflussten) Variablen[3]. Durch gezielte Manipulation der unabhängigen Variablen, wie dies idealiter im Experiment[4] der Fall ist, kann die veränderte Wirkung auf die abhängige Variable gemessen werden. Der Wert von Kausalerklärungen liegt in ihrer Voraussagekraft, sie verlangen den Einsatz quantitativer[5] Methoden.

Neben kausalen Erklärungen existieren auch teleologische Erklärungen. Als teleologische Erklärung gilt der Versuch, etwas durch seinen Zweck zu erklären. Diese Form der Erklärung gilt jedoch als logisch nicht einwandfrei.


Verweise:
[1] http://de.wikipedia.org/wiki/John_Stuart_Mill
[2] Siehe Kapitel 2.11
[3] Siehe Kapitel 2.23
[4] Siehe Kapitel 2.4
[5] Siehe Kapitel 1.4.2


1.1.3.1 Methode des Erklärens


Verfasst von Christoph Reinprecht et al.

Grafik: Frau erklärt eine Kurve auf einer Tafel, Quelle: http://www.openclipart.org, 2010

Die Methode der Erklärung ist ein wesentlicher Bestandteil der nomothetisch[1] ausgerichteten Wissenschaften. Das Vorgehen ist deduktiv-nomologisch oder induktiv- statistisch.

Das deduktiv- nomologische Verfahren geht auf Überlegungen von Carl Gustav Hempel[2] ' und Paul Oppenheim[3] ' zurück und bildet die einzige logisch vollständige Art der Erklärung. Ein zu erklärendes Phänomen (z.B. sinkende Geburtenrate) wird aus allgemeinen Gesetzen (wenn der Wohlstand steigt, sinkt die Geburtenrate) und spezifischen Randbedingungen (in Land X steigt der Wohlstand) logisch abgeleitet.

Das zu erklärende Phänomen wird als "Explanandum", Gesetz und Randbedingung als "Explanans" bezeichnet. Diese Vorgehensweise hat den Vorteil, dass Hypothesen systematisch getestet und widerlegt (falsifiziert) werden können. Ein Argument in den Sozialwissenschaften gegen das deduktiv-nomologische Erklärungsmodell besteht darin, dass bei der Erklärung von Handlungen die erforderliche Unabhängigkeit von Ursache und Wirkung nicht gegeben ist: Intention und Verhalten sind bei der Beschreibung einer Handlung formal nicht trennbar.

Grafik: Darstellung einer Normalverteilung, Quelle: http://commons.wikimedia.org, 2010

Da das Auftreten sozialer Phänomene aufgrund vielfach möglicher Einflussfaktoren jedoch niemals vollständig, sondern immer nur annäherungsweise mit Sicherheit bestimmbar ist, findet in den Sozialwissenschaften zumeist das induktiv- statistische bzw. probabilistische Modell Anwendung. In diesem Fall wird das Gesetz als wahrscheinliches Auftreten formuliert (wenn der Wohlstand steigt, sinkt mit n-prozentiger Wahrscheinlichkeit die Geburtenrate). Damit ist der behauptete Zusammenhang zwar nicht mehr falsifizierbar. Das Verfahren ermöglicht aber eine Rechtfertigung, warum gewisse Ereignisse zu erwarten sind bzw. waren. In der Forschungspraxis berücksichtigen die Erklärungsmodelle meist mehrere Einflussvariablen und deren Wechselwirkungen.

Kausale Zusammenhänge müssen klar von Korrelationen unterschieden werden. Korrelationen zeigen an, dass Phänomene gleichzeitig auftreten, Ursache und Wirkung sind jedoch nicht bestimmt. Korrelationen erlauben keine Aussage über die funktionale oder kausale Abhängigkeit der Variablen[4] voneinander.


Verweise:
[1] Siehe Kapitel 1.2.2
[2] http://de.wikipedia.org/wiki/Carl_Gustav_Hempel
[3] http://de.wikipedia.org/wiki/Paul_Oppenheim
[4] Siehe Kapitel 2.23

1.1.4 verstehen

Verfasst von Christoph Reinprecht et al.

Die verstehende Arbeitsweise beruht auf einem komplexen und kreativen Prozess des Nacherlebens von Erleben und Verhalten, soziale Phänomene werden aus der Perspektive des subjektiven Handelns nachvollzogen, durch ein Sichhineinversetzen in eine Situation oder in einen Menschen, dessen spezifische und individuelle Merkmale, Äußerungen oder Werke.

Foto: Buddha mit Fragezeichen, Quelle: http://commons.wikimedia.org, 2010

Im verstehenden Verfahren, so Dilthey, werde das Objekt der Erkenntnis als geistiges Objekt konstruiert und in seinem konkreten Zusammenhang aufgefasst. Im Gegensatz dazu sei ein Nacherleben der Natur nicht möglich, natürliche Vorgänge seien vielmehr auf der Grundlage von Annahmen zu beobachten und zu erklären.

Die Methode des Verstehens geht auf Wilhelm Dilthey[1] (1833-1911) zurück, der unter Verweis auf die Eigengesetzlichkeit des menschlichen (Geistes)Lebens für die Begründung einer spezifischen geisteswissenschaftlichen Methode plädierte, mit deren Hilfe die Handlungen der Menschen nachvollziehbar und interpretierbar werden. "Die Natur erklären wir", schreibt Dilthey, aber "das Seelenleben verstehen wir".

In den Sozialwissenschaften ist die verstehende Methode auch mit dem Namen Max Weber[2] (1864-1920) verbunden. Weber definiert die Soziologie als eine Handlungswissenschaft. Das Verstehen subjektiver Handlungen und der sich daraus formenden historischen Wirklichkeiten wird als primäres Erkenntnisziel definiert.

(siehe auch idiographisch[3], qualitativ[4], induktiv[5])


Verweise:
[1] http://de.wikipedia.org/wiki/Wilhelm_Dilthey
[2] http://de.wikipedia.org/wiki/Max_Weber
[3] Siehe Kapitel 1.2.1
[4] Siehe Kapitel 1.4.1
[5] Siehe Kapitel 1.3.1


1.1.4.1 Methode des Verstehens


Verfasst von Christoph Reinprecht et al.

Die verstehende Methode bildet einen Bestandteil der idiographischen[1] Wissenschaften. Im Unterschied zu nomothetischen[2] Wissenschaften, welche Gesetzmäßigkeiten und kausale Zusammenhänge erklären[3] möchte, wird mittels Nacherleben und Sichhineinversetzen das Einzigartige und Eigentümliche von individuellen Handlungen, Äußerungen und Schöpfungen zu begreifen versucht.

Foto: Nonverbale Kommunikation an einem Essensstand, S. Krupp, Quelle: http://commons.wikimedia.org, 2010

In der Forschungspraxis wird dazu auf qualitative[4] Verfahren wie (teilnehmende) Beobachtung und subjektives, aber regelgeleitetes Erschließen zurückgegriffen, welche die Bedeutung und den subjektiven Sinn von sozialen Handlungen und Interaktionen sichtbar und nachvollziehbar macht. Auch geht es darum, die kontextabhängigen Bedeutungszuweisungen (Weber spricht in diesem Zusammenhang von "gemeintem Sinn") situativ zu erfassen und mithilfe interpretativer Verfahren zu verstehen. Generalisierbare Aussagen sind auf dieser Grundlage nur durch weitere Untersuchungen möglich.

Der verstehende Ansatz knüpft an die Tradition der Hermeneutik an, die die Welt als eine sinnhafte und mit Symbolen ausgestattete Wirklichkeit begreift, in der der Mensch als kommunikationsfähiges Subjekt eingebunden ist. Aufgabe der Hermeneutik ist es, den in menschliche Handlungen und Schöpfungen eingegangen Sinn deutend herauszulesen. Verstehen bildet so gesehen eine grundlegende Voraussetzung für jede Kommunikation.

Da Forschungsvorhaben selbst immer auch einen Kommunikationsprozess darstellen, nehmen ForscherInnen niemals nur eine neutrale Beobachterrolle ein, sondern sind ein aktiver Teil eines umfassenden Interpretationsgeschehens. Sie beteiligen sich mit ihren Deutungen und Definitionen an der Konstruktion der untersuchten sozialen Phänomene. Als soziale Konstrukte fließen die Forschungsergebnisse in das Alltagsverständnis ein und verändern ihrerseits die soziale Wirklichkeit.


Verweise:
[1] Siehe Kapitel 1.2.1
[2] Siehe Kapitel 1.2.2
[3] Siehe Kapitel 1.1.3
[4] Siehe Kapitel 1.4.1


1.1.4.2 Bedeutung der verstehenden Methode


Verfasst von Christoph Reinprecht et al.

Die schematisch anmutende Gegenüberstellung von Verstehen vs. Erklären[1] wird heute vielfach als überholt kritisiert. Bereits Max Weber spricht von "erklärendem Verstehen" als oberstem Anspruch der sozialwissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung: Erklärendes Verstehen ist für Weber definiert als die deutende Erfassung tieferliegender Sinnstrukturen, in denen die historischen und sozialen Randbedingungen eingelassen sind.

Abbildung: Max Weber 1894, Quelle: http://commons.wikimedia.org 2010

Für die sozialwissenschaftliche Erkenntnisgewinnung ist die Methode[2] des Verstehens nicht zuletzt aber auch deshalb relevant, da sie die Forschung selbst als einen sozialen Prozess definiert: Die Annahme, dass soziale Wirklichkeit nicht unabhängig vom Prozess der Forschung und den daran beteiligten Personen existiert und wissenschaftliche Erkenntnisse durch außerwissenschaftliche Diskurse und Traditionen geprägt sind, fordert dazu auf, Forschungsroutinen und Deutungspraktiken selbst zum Gegenstand der verstehenden Analyse zu machen.


Verweise:
[1] Siehe Kapitel 1.1
[2] Siehe Kapitel 2.13


Nächstes Kapitel: 1.2 idiographisch vs. nomothetisch


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