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Vorheriges Kapitel: 5.1 Neomarxismus in Frankreich und in den USA: ein Vergleich

5.2 Französische VertreterInnen

Verfasst von Gertraud Seiser und Elke Mader

Die marxistisch orientierte Gruppe in Frankreich, zu der mit Ausnahme von Maurice Godelier vor allem Afrikaspezialisten gehören, wird aufgrund des 'starken Einflusses des Strukturalismus'* auch als Structural Marxists'*' (Robotham 2005: 42f; Wilk 1996: 86) bezeichnet.

Das Spezifische dieser Gruppe besteht in der Kombination von traditioneller ethnographischer Empirie mit einer "self-consciously theoretical Orientation" (Robotham 2005: 43). Robotham weist auch darauf hin, dass vorher die theoretischen marxistischen Konzepte dazu tendiert hätten, anthropologische Erkenntnisse zu ignorieren. Vor Beginn der 1960er Jahre versuchte man die ethnographischen Fakten in vorgefertigte theoretische Schemen zu pressen. Anthropologen wie Claude Meillassoux, Maurice Godelier, Emmanuel Terray, Pierre-Phillip Rey, Georges Dupré oder Marc Augé sehen die Feldforschung als notwendigen Ausgangspunkt für Theorienbildung. Sie legen daher auch feinkörnige und detailreiche ethnographische Beschreibungen der ökonomischen, sozialen und politischen Beziehungen der von ihnen untersuchten Gesellschaften vor. "On this basis, they approached theory as a construct that should respect and be supported by the data" (Robotham 2005: 43).

Inhalt

5.2.1 Claude Meillassoux

Claude Meillassoux (1925 -- 2005)

Relevante Werke:

1964: Anthropologie économique des Gouro de Côte d'Ivoire

1975: Femmes, greniers et capitaux

Claude Meillassoux wird als Begründer der Ökonomischen Anthropologie in Frankreich bezeichnet (vgl. Copans 2005: 1). Er studierte zuerst in den USA Ökonomie, dann bei Georges Balandier in Paris, welcher eine gegenwartsbezogene, problemorientierte Afrikaforschung initiierte. Balandier gründete 1958 das Centre d'études africaines (CEA), aus dem eine Reihe links orientierter Ethnologen hervor gegangen sind (Petermann 2004: 831).

Was Claude Meillassoux zeitlebens auszeichnete, ist die enge Verbindung von Empirie, marxistisch inspirierter theoretischer Analyse und politischem Engagement (Schlemmer 2004; Copans 2005).

Meillassoux geht davon aus, dass die Konzepte von Marx über Ausbeutung, Ideologie und Macht gleichermaßen dazu verwendet werden können, staatenlose Gesellschaften und Gesellschaften ohne elaborierte politische Hierarchien zu verstehen. Er argumentiert, dass Verwandtschaft Teil der politischen Ökonomie ist und dass auch in egalitären Gesellschaften und Haushalten es Gruppen gibt, die andere ausbeuten. Die "traditionelle" Ideologie und der Symbolismus, den die Anthropologen so lieben, dienen tatsächlich zu nichts anderem, als diese Ausbeutung zu verstecken und zu rechtfertigen.

Meillassoux im WWW:

https://web.archive.org/web/20051127024807/http://www.alencontre.org/page/France/MeillassouxHommage.htm [1]

https://web.archive.org/web/20060211102345/http://www.alencontre.org/page/print/MeillassouxHommage.htm [2]

https://web.archive.org/web/20051013061642/http://etudesafricaines.revues.org/document4887.html [3]

Verweise:

[1] https://web.archive.org/web/20051127024807/http://www.alencontre.org/page/France/MeillassouxHommage.htm
[2] https://web.archive.org/web/20060211102345/http://www.alencontre.org/page/print/MeillassouxHommage.htm
[3] https://web.archive.org/web/20051013061642/http://etudesafricaines.revues.org/document4887.html


5.2.1.1 Verwandtschaft als Teil der Produktionsverhältnisse


Auf Basis seiner Feldforschung bei den Gouro an der Elfenbeinküste (Cote d'Ivoire) stellt Meillassoux fest, dass Verwandtschaft eng mit den Produktions- und Distributionsverhältnissen verknüpft ist. Jagd, Viehzucht, Ackerbau für den eigenen Verbrauch, aber auch der Anbau von Cash-Crops sind entlang der Verwandtschaft organisiert.

Die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Lineage entscheidet über den Zugang zum wichtigsten Produktionsmittel Land. Ähnlich ist es im Bereich der Zirkulation der wesentlichen Güter, wie sie z.B. über den Brautpreis erfolgen. Meillassoux schließt daraus, dass Verwandtschaft keineswegs Teil des "Überbaus" ist, sondern das wesentliche Produktionsverhältnis in der klassenlosen Gesellschaft der Gouro.

Meillassoux definiert eine häusliche Produktionsweise (*domestic mode of production*), in der die älteren Männer die jüngeren Männer und die Frauen ausbeuten, in dem sie die Kontrolle über deren Arbeitskraft ausüben. Ältere Männer steuern über das Verwandtschaftssystem die Heiraten der Töchter und Söhne, deren Brautpreis oder Mitgift.

Während in der kapitalistischen Produktionsweise die Abschöpfung von Mehrwert über das Eigentum an Produktionsmittel erfolgt, sind in der häuslichen Produktionsweise die Abschöpfung von Mehrarbeit und Mehrprodukt in der Kontrolle von Menschen begründet. Die Ältesten entscheiden, wer wen heiratet, zu welcher Lineage die Kinder gehören und wer ein Stück Land zur Bearbeitung erhält. Der ökonomische Surplus wird über Gebräuche und Familienverbindungen gesteuert und nicht über Löhne oder Tribute.

Für Meillassoux und Godelier ist Verwandtschaft jedenfalls ein Machtsystem, über das Arbeit organisiert und die Produkte von Arbeit gesteuert werden.

  • Auf einer Hochzeit in Ghana. Foto: Ulrike Davis-Sulikowski
  • Auf einer Hochzeit in Ghana. Foto: Ulrike Davis-Sulikowski


5.2.1.2 Reproduktion und die Entstehung von Ungleichheit


"Cash and Carry Ventures", Ghana. Foto: Ulrike Davis-Sulikowski

In den "Wilden Früchten der Frauen" (1978) arbeitet Meillassoux im ersten Teil heraus, wie Produktion und Reproduktion in verschiedenen Wirtschaftsweisen organisiert sind, insbesondere die Spezifika der Haushaltswirtschaft in Getreidebaugesellschaften. Diese Produktionsform zieht ihre Stabilität aus der Fähigkeit, die Hausgemeinschaft über Generationen hinweg auf einer ständigen Kreditbasis zu reproduzieren.

Die Rhythmen des Jahreszyklusses bedingen das Anlegen von Vorräten, die reinvestiert werden müssen, um ein Mehrprodukt zu erringen. Dies bindet die Individuen aneinander. Es macht Sinn, bis zur Ernte zusammen zu bleiben und wegen des Saatguts bis zur nächsten Aussaat.

In dieser Sicht ist der landwirtschaftliche Zyklus von einer immer wieder erneuerten Zirkulation von Vorschüssen und Rückzahlungen des Produkts zwischen den produzierenden Gruppen der aufeinander folgenden Jahreszeiten begleitet: Die Gesamtheit der Arbeiter einer Saison schießt denen der folgenden Saison Nahrung und Saatgut vor" (Meillassoux 1978: 55).

Im Laufe der Zeit erfolgt ein Wechsel der Generationen, die Alten schießen den Jungen Saatgut vor, sie speichern das Produkt, während die Jungen die Aussaat besorgen und somit die Arbeit leisten. In der Hausgemeinschaft, die so aus dem Ackerbau entstand, sind die Hierarchisierung der Gesellschaft und das dauerhafte Zusammenleben in einer Haushaltsgemeinschaft angelegt. Die Hierarchisierung ergibt sich daraus, dass die Alten den Jungen immer etwas vorschießen.

Dies entspricht auch der Mauss'schen[1] Logik der Gabe, die davon ausgeht, dass das Geschenk, die Gabe, immer eine Schuld begründet, die den Nehmenden in eine untergeordnete Position gegenüber den Gebenden setzt.

Meillassoux sieht in den internen Dynamiken, die den Produktions- und vor allem den Reproduktionsverhältnissen der Hauswirtschaften im Ackerbau inhärent sind, das Potenzial für deren Ausbeutbarkeit angelegt. Durch die Notwendigkeit, über das Jahr und über die Generationen hinweg Vorräte zu erwirtschaften, die zur Risikominimierung das Niveau des unbedingt Nötigen überschreiten müssen, wird Mehrarbeit zur Selbstverständlichkeit und zur Quelle von Mehrprodukt, das abschöpfbar ist.

Verweise:

[1] Siehe Kapitel 4.2.2.2


5.2.1.3 Reproduktion und die fortgesetzte "ursprüngliche Akkumulation"


"Everything is step by step", Ghana. Foto: Ulrike Davis-Sulikowski

Im zweiten Teil der 'Wilden Früchte der Frauen' überprüft Meillassoux die Theorien des Lohns und der ursprünglichen Akkumulation (Meillassoux 1978: 113ff).

Die Phase der ursprünglichen Akkumulation wurde von Karl Marx als Übergangsphase aufgefasst, in der es im Bereich der kapitalistischen Produktionsweise zu einem besonders raschen Anwachsen des Kapitals gekommen ist. Durch den ständigen Zustrom von Arbeitskräften aus den nicht kapitalisierten Bereichen konnten die Löhne unter den gesamten Reproduktionskosten der Arbeitskraft[1] gehalten werden.

Für die von diesen Prozessen betroffenen Menschen[2] bedeutete dies Verelendung, Enteignung, Migrationsdruck, Migration in rasch wachsende Städte, entfremdete Arbeit unter meist katastrophalen Bedingungen, Slumbildung.

Zumindest die Produktion der Arbeitskraft als solche erfolgte im vorkapitalistischen Sektor. Diese Phase der ursprünglichen Akkumulation wurde als Übergangszeit theoretisiert, die mit der vollständigen Durchkapitalisierung abgeschlossen sein würde.

Meillassoux (1978:116f) weist nun darauf hin, dass der Bereich der bäuerlichen Hauswirtschaften keineswegs zur Gänze dem kapitalistischen Sektor unterworfen ist und auch hinreichend viel Spielraum erhält, um selbst reproduktionsfähig zu sein. Bäuerliche Gesellschaften bleiben qualitativ von der kapitalistischen Produktionsweise verschieden, aber:

die allgemeinen Bedingungen der Reproduktion des sozialen Ganzen dagegen hängen nicht mehr von den der häuslichen Produktionsweise innewohnenden Determinanten ab, sondern von im kapitalistischen Sektor getroffenen Entscheidungen. Durch diesen im Wesen widersprüchlichen Prozess wird die häusliche Produktionsweise sowohl erhalten wie zerstört: Erhalten als soziale Organisationsform, die für den Imperialismus Wert produziert; zerstört, da die Ausbeutung sie allmählich ihrer Reproduktionsmittel beraubt" (Meillassoux 1978: 116).

Durch die mehr oder weniger künstliche Aufrechterhaltung eines nicht vollständig durchkapitalisierten Sektors lässt sich die ursprüngliche Akkumulation in ein permanentes Ausbeutungsverhältnis umwandeln, insofern als es Regionen und gesellschaftliche Bereiche gibt, die Arbeitskräfte außerhalb der Zirkulationssphäre der reinen Warenwirtschaft produzieren und reproduzieren.

Meillassoux bezieht dieses Phänomen insbesondere auf Rotationswanderungen, wie sie beispielsweise durch das südafrikanische Apartheidsystem erzwungen wurden. In den Homelands wurde die häusliche Produktionsweise künstlich aufrechterhalten, um den Minenarbeitern nicht die vollen Reproduktionskosten bezahlen zu müssen (Meillassoux 1978: 135ff).

Regionen, in denen Subsistenzwirtschaft zumindest zum Teil beibehalten wird, dienen als Arbeitskraftreserven für die Industriegebiete. Ein klassischer Indikator für die Existenz und damit die Ausbeutung solcher nicht zur Gänze durchkapitalisierter Bereiche ist ein "doppelter" Arbeitsmarkt. Damit sind Berufssparten gemeint, in denen deutlich niedrigere Löhne ausbezahlt werden und in die bestimmte Bevölkerungsgruppen gezwungen werden.

Meillassoux hat sich damit als einer der ersten Anthropologen mit Fragen der Arbeitsmigration und dem Verhältnis zwischen kapitalistischer und häuslicher Produktionsweise befasst. Die häusliche Produktionsweise geht durch die kapitalistische Produktionsweise nicht unter, sondern liefert beständig billige Arbeitskräfte nach.

Trotz Kritik in vielen Teilbereichen wurde diese Arbeit von Meillassoux sowohl in der feministischen Anthropologie als auch in der Migrationsforschung und in der ökonomischen Anthropologie rezipiert und weiter entwickelt.

Verweise:

[1] Siehe Kapitel 2.1.2.1
[2] Siehe Kapitel 2.1.1


5.2.2 Maurice Godelier

Maurice Godelier (geb. 1934)

Relevante Werke:

1982: La production des Grands Hommes

1984: L'idéel et le matériel

Maurice Godelier studierte zuerst Philosophie, interessierte sich dann für Ökonomie und kam durch Claude Lévi-Strauss zur Sozialanthropologie. Als Schüler des marxistischen Philosophen Louis Althusser und durch den Einfluss von Lévi-Strauss ist er stark strukturalistisch geprägt. Zwischen 1966 und 1988 führte Maurice Godelier mehrere Feldforschungen bei den Baruya im Hochland Papua-Neuguineas durch. Auf dieser ethnographischen Basis aufbauend beschäftigte er sich mit dem Verhältnis zwischen Ökonomie und Sozialstruktur, mit der Entstehung politischer Macht und der Bedeutung von ideellen Konstrukten.

Über die intensive Beschäftigung mit klassenlosen Gesellschaften wie den Baruya kommt er zum Schluss, dass soziale Ungleichheit auch über das Verwandtschaftsverhältnis und die Ideologie hergestellt werden kann. Diese werden zum Produktionsverhältnis, das Alte und Junge, Männer und Frauen von einander trennt. Insbesondere die Frauen werden mit ideologischen Konstruktionen ihrer Produktionsmittel beraubt.

Es gibt nämlich keine Beziehung zwischen ökonomischer und politischer Macht in dieser klassenlosen Gesellschaft. Manche Baruyamänner werden zwar über den Salzhandel, den Gartenbau und die Jagd reich, sie können aber diesen Reichtum nicht in Macht verwandeln und Chefs werden. Politische Macht entsteht ausschließlich durch Erfolg in der Kriegsführung, durch die Kontrolle über Magie und Ritual und in erster Linie durch die Manipulation von Verwandtschaft. Verwandtschaft ist die wahre Basis aller Machtdifferenzen in der Baruyagesellschaft. Verwandtschaft ist in einer Ideologie verankert, welche die Macht den Männern auf Basis ihrer Kontrolle über die Fruchtbarkeit der Frauen zuordnet.

Godelier im WWW:

https://de.wikipedia.org/wiki/Maurice_Godelier [2]

https://web.archive.org/web/20051226022937/http://www.virginia.edu/anthropology/events/godelier-bio.html [3]

https://web.archive.org/web/20050909002410/http://www.soc.hawaii.edu/asao/pacific/honoraryf/godelier.htm [4]

Verweise:

[1] https://web.archive.org/web/20050216115222/http://europa.eu.int/comm/research/rtdinfo/37/article_61_en.html
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Maurice_Godelier
[3] https://web.archive.org/web/20051226022937/http://www.virginia.edu/anthropology/events/godelier-bio.html
[4] https://web.archive.org/web/20050909002410/http://www.soc.hawaii.edu/asao/pacific/honoraryf/godelier.htm


5.2.2.1 Die Produktion der Großen Männer


"Großer Mann" der Baruya, Godelier 1986, Abb. 18.

Die Baruya, ein etwa 2000 Menschen zählender Stamm im Hochgebirge Papua-Neuguineas, kamen 1951 erstmals mit Weißen "physisch" in Berührung, waren aber bereits ein Jahrzehnt früher von deren materiellen Gütern wie Stahläxte und Macheten ökonomisch abhängig. 1960 fielen sie unter australische Kolonialverwaltung.

Godelier, der ab 1966 immer wieder lange und umfangreiche Feldforschungen bei ihnen durchführte, fasst sein Material 1982 unter dem Titel Die Produktion der Großen Männer'*'. Macht und männliche Vorherrschaft bei den Baruya in Neuguinea'*' zusammen. Es geht ihm dabei explizit um die Analyse der Mechanismen und Vorstellungen, die in dieser klassenlosen und bis 1960 staatenlosen Gesellschaft die männliche Herrschaft organisieren und legitimieren. Denn ohne Führungsklasse zu sein bedeutet nicht, dass es auch keine Ungleichheiten gibt:

Ein Teil der Gesellschaft, die Männer, lenkte den anderen, die Frauen; sie regierten die Gesellschaft zwar nicht ohne die Frauen, aber gegen sie. Damit kommt der Fall der Baruya, einer klassenlosen Gesellschaft, zu all denen hinzu, die bereits deutlich davon zeugen, daß die Ungleichheit unter den Geschlechtern, die Unterordnung, Unterdrückung, ja Ausbeutung der Frauen gesellschaftliche Realitäten sind, die nicht erst mit dem Auftauchen der Klassen entstanden, sondern schon vorher existierten, auch wenn sich die Herrschaft der Männer mit den tausend Formen der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, die den unseren vorausgingen, auf tausenderlei Arten gefestigt und erneuert hat." (Godelier 1987: 10)

Auch unter den Männern sind nicht alle gleich. Obwohl es keine soziale Klasse gibt, die sich über eine andere erhebt, existieren doch eine Anzahl von Funktionen, verdient oder ererbt, die Große Männer hervorbringen.

"Die Produktion »Großer Männer« ist somit die unerläßliche Ergänzung und Krönung der männlichen Herrschaft" (Godelier 1987: 11) und Godelier's zentrale Fragestellung.


5.2.2.1.1 Die Herrschaft der Männer über die Frauen bei den Baruya


Die Baruya leben in zwei Hochtälern im östlichen Hochland Neuguineas zwischen 1600 und 2300 Meter Seehöhe auf etwa 17 Dörfer verteilt. Es gibt keinen Häuptling, sondern 15 Clans, die wiederum in Lineages und diese in Segmente unterteilt sind. Die soziale Organisation der Clans und Untergruppen ist patrilinear und patrilokal.

Die wesentlichen Produktionszweige sind Brandrodungsfeldbau und der Anbau von Süßkartoffeln in dauerhaften Gärten, sowie die Schweinezucht. Ergänzend kommen Jagd- und Sammelwirtschaft hinzu, die von hohem zeremoniellen Wert aber geringem Subsistenzwert sind. Große ökonomische Bedeutung hatte bis in die 1960er Jahre die Salzproduktion aus einer Trockengrassorte, da Salz bei den Nachbarstämmen gegen Stein- und später Stahläxte und Macheten eingetauscht wurde.

Alle Tätigkeiten unterliegen einer strengen gesellschaftlichen Arbeitsteilung und sind einem bestimmten Geschlecht oder einer Altersgruppe zugewiesen. Nur die Salzproduktion bildet ein spezialisiertes Handwerk, das auf technischen und magischen Geheimnissen beruht und ausschließlich von eigens dafür ausgebildeten Männern durchgeführt wird. Grund und Boden ist im Besitz einer männlichen Abstammungsgruppe und kann von Frauen niemals ge- oder vererbt werden. Insgesamt sind Frauen vom Zugang zu den wichtigsten Produktionsmitteln (Grund und Boden, die Herstellung von und Kontrolle über Werkzeuge) und Destruktionsmitteln (Waffen), sowie von der Salzproduktion kategorisch ausgeschlossen.

Die Unterordnung der Frauen ist in der räumlichen Anordnung der Dörfer, in den Begegnungen, Gesten und Verhaltensnormen zwischen den Geschlechtern tagtäglich sichtbar und präsent. Die an den Hängen gelegenen Dörfer haben im höchst gelegenen Teil einen Bereich mit einem oder mehreren Männerhäusern, der ausschließlich Knaben und Männern vorbehalten ist. Im mittleren Teil leben die Familien und im unteren Teil des Dorfes befinden sich Gestrüpp und Laubverschläge. Dorthin ziehen sich die Frauen zum menstruieren und gebären zurück. Der Bereich der Frauen gilt bei den Männern als unrein und Ekel erregend. Begegnen sich Männer und Frauen am Weg, so haben die Frauen stehen zu bleiben, auszuweichen, sich weg zu drehen und das Gesicht zu bedecken, während die Männer vorbeigehen, als wäre da niemand.

Godelier fragt sich nun, worauf diese offensichtliche Herrschaft der Männer über die Frauen begründet ist.

An der Arbeitsteilung kann es nicht liegen, weil diese die Unterordnung der Frauen unter die Männer bereits voraussetzt. Die Tätigkeiten der Frauen werden systematisch abgewertet. Es sind ihnen nur die mühsamen, eintönigen, sich täglich wiederholenden Arbeiten erlaubt. Frauen ist es verboten - und zwar zum Teil unter Androhung der Todesstrafe - Wissen und Kenntnisse über die hoch bewerteten Männerarbeiten zu erwerben.

Frauen verrichten fast die gesamte Arbeit in den Kartoffelgärten und füttern die Schweine. Wird ein Tier geschlachtet, so steht der überwiegende Teil des Fleisches -- mit Ausnahme der Eingeweide und der Zunge, die als unrein gelten -- wiederum nur den Männern zu. Die besten Teile werden ins Männerhaus geliefert und dort von den Initianten und verheirateten Männern gemeinsam gegessen.

Diese Entnahme und dieser kollektive Verzehr bezeugen deutlich die männliche Herrschaft und bekräftigen die kollektive Kontrolle der Männer über ein Produkt, das sie im wesentlichen der Arbeit der Frauen verdanken." (Godelier 1987: 35f)


5.2.2.1.2 Die Ursachen der Ungleichheit


Während der Initiationszeremonie der Baruya, Godelier 1986, Abb. 16.

Nachdem Godelier die Subsistenzweise, die Produktions- und Arbeitsprozesse, die soziale Struktur der Baruya, die Rituale der Männer -- und Fraueninitiationen, die Vorstellungen über Körper und Sexualität dargelegt hat, gelangt er zu folgenden Schlüssen: Es ist "die Maschinerie der männlichen und weiblichen Initiationen", welche die "allgemeine, prinzipielle Herrschaft der Männer, aller Männer als solcher, über die Frauen, alle Frauen als solche, zu instituieren und zu legitimieren" vermag. (Godelier 1987: 111)

Was passiert nun in der Knabeninitiation, die insgesamt zehn Jahre dauert und in der Initiation der Mädchen, die nach zwei Wochen abgeschlossen ist:

Die Knabeninitiation trennt die etwa zehn Jahre alten Buben von ihren Müttern und überführt sie ins Männerhaus, wo sie in einer ausschließlichen Männerwelt bis zu ihrem zwanzigsten Lebensjahr erzogen werden. Sie werden ohne Frauen als Männer quasi neu geboren, der Anteil der Frauen an der Produktion von Männern soll damit ausgelöscht werden. Im Männerhaus werden die Initianten in die Grundlagen der sozialen und kosmischen Ordnung eingeführt, die sie später zu den Großen Männern in ihrer Gesellschaft machen können. Dazu gehört vor allem das Wissen über die Bedeutung, die den Körperflüssigkeiten, insbesondere dem Sperma zukommt: "Und auch im Prozess der Produktion des Lebens behaupten sie, die erste Rolle zu spielen, da sie das Kind im Bauch der Mutter erzeugen, mit ihrem Sperma den Fötus und die Mutter ernähren, mit Hilfe der Sonne, des göttlichen Vaters aller Menschen" (Godelier 1987: 298).

Für die ältern Schwestern eines jüngeren Knaben wird dieser durch die

Initiation zum älteren Bruder.
Die männliche Initiation verwandelt folglich alle Frauen in die jüngeren Schwestern ihrer jüngeren Brüder und verschiebt aus politischen und ideologischen Gründen den Platz, den die Frauen innerhalb der Genealogien und Verwandtschaftsbeziehungen einnehmen, nach unten" (Godelier 1987: 111).

Die Schwelle zum Männerhaus bildet ein bemaltes Brett und dieses Brett ist das Symbol für den Körper aller Frauen, den jeder Initiant, jeder erwachsene Mann im Laufe seines Lebens viele hunderte Male überschreitet. Das Geheimnis dieser symbolischen Unterordnung der Frauen wird aber nicht den zehnjährigen Buben, die ins Männerhaus kommen, mitgeteilt, dieses Geheimnis erfahren sie erst kurz bevor sie mit etwas über zwanzig das Männerhaus verlassen, um dann als erster Frau ihrer Ehegattin gegenüber zutreten. Die Ehen werden nämlich bereits bei der Geburt der Kinder oder spätestens zu Beginn der Pubertät zwischen den Patrilineages arrangiert, meist in Form des einfachen Schwesterntauschs.

Verwandtschaftssystem und Ideologie, die am stärksten in der Knabeninitiation zum Ausdruck kommen, begründen und legitimieren somit die Abwertung und Unterordnung der Frauen.

Verstärkt wird dies durch die Mädcheninitiation, die nach der ersten Menstruation durchgeführt wird, und in der alle Frauen dem jungen Mädchen nur eines versuchen zu vermitteln: Dass sie die Unterordnung unter die Männer zu akzeptieren haben.

5.2.2.1.3 Zur Beteiligung der Frauen an der Herrschaft der Männer


Ritueller Übergang von der weiblichen zur männlichen Welt, Godelier 1986, Abb. 9.

Im letzten Teil der Produktion der Großen Männer, den Godelier mit 'Die Bauchrednermaschine' übertitelt, geht er auf die Beteiligung der Frauen an der Herrschaft der Männer ein:

Dieser Glaube [an die Überlegenheit der Männer] aber wurde von beiden Geschlechtern geteilt, den eben diese gemeinsamen Vorstellungen bildeten die wichtigste, stumme und unsichtbare Kraft der männlichen Herrschaft" (Godelier 1987: 299).

Aber das Teilen der Ideen reicht nicht aus, Herrschaft funktioniert überall dann am klaglosesten, wenn die Unterdrückten die Schuld am eigenen Schicksal tragen:

Und wir wissen, daß, was die Unterdrückung betrifft, die Herrschaft eines Teils der Gesellschaft über einen anderen (Geschlecht, Kaste, Klasse, Rasse) nur dann wirklich begründet, legitimiert ist, wenn die Opfer die schuldigen werden, wenn sie für das Los das sie erdulden, als erste verantwortlich sind." (Godelier 1987: 303f)

Die einfachste Möglichkeit, einen gesellschaftlichen Unterschied zu legitimieren, besteht darin, ihn in der "Natur " fest zu machen, an natürlichen Unterschieden. Die Körper von Männer und Frauen unterscheiden sich und damit kann das gesellschaftliche Unterdrückungsverhältnis für alle evident gemacht werden. Die Frauen stimmen ihrem Schicksal zu, da sie ihren anderen Körper nicht zum Verschwinden bringen können (vgl. Godelier 1987: 304).

Die Sexualität wirkt wie eine Bauchrednermaschine. Sie spricht selbst nicht und doch wird ständig durch sie gesprochen. Durch sie wird gezeigt, wo der Platz der Männer und wo jener der Frauen im ideologischen System und im realen Leben der Baruya ist.

Diese Argumentationsweise Godelier's wurde von Nicole-Claude Mathieu (1985, vgl. auch Langheiter 1989) heftig kritisiert. Die These der Zustimmung und des Mitmachens unterschätzt nämlich die Gewalt, der Frauen physisch wie symbolisch tagtäglich ausgesetzt sind. Obwohl man nicht sagen kann, dass Godelier diese Gewalt gänzlich verleugnet, so schwächt er sie doch deutlich ab:

In der männlichen Macht gibt es neben der Gewalt auch die List, den Betrug, das Geheimnis, bewußt eingesetzt, um den Abstand, der die Männer von den Frauen trennt und sie vor ihnen schützt und ihre Überlegenheit sichert, aufrecht zu erhalten und zu vertiefen." (Godelier 1987: 303)

5.2.2.2 Marx, Durkheim und Lévi-Strauss bei Godelier


Godelier verwendet eine marxistische Terminologie, gleichzeitig sind seine Ansichten in hohem Ausmaß von Durkheim und Lévi-Strauss geprägt. Ein Beispiel für diese Synthese bietet folgendes Zitat:

Und was eigentlich besagt das Inzesttabu? Grundsätzlich ist es in jeder Gesellschaft die Anwesenheit eines Ordnungsgesetzes, einer grundlegenden Eigenschaft des menschlichen Daseins. Weil die Menschen im Unterschied zu den geselligen Tieren und ihren Vettern, den Schimpansen und Pavianen -- ungeachtet der Soziologen und Anthropologen -, nicht nur in Gesellschaft leben, sondern auch Gesellschaft produzieren, um leben zu können. Und eben dieses Ordnungsgesetz zeigt sich und wirkt durch das Inzesttabu und weit darüber hinaus. Das wurde von Lévi-Strauss ausgezeichnet gesehen und gesagt. Doch woran liegt es, daß der Mensch sich nicht damit zufrieden gibt, in Gesellschaft zu leben, sondern seine Gesellschaft auch produziert und verändert, um leben zu können, wenn nicht an einem objektiven, unumgänglichen Faktum, das nicht von seinem Willen abhängt: nämlich an der Tatsache, daß er die ihn umgebende Natur verändern und damit seine eigene Natur verändern kann? Das Inzestverbot, das den Wunsch des Individuums von denjenigen ablenkt, die zusammengearbeitet haben, um ihm das Leben zu schenken (und nicht nur seine nahen Angehörigen), bekräftigt tagtäglich und überall, daß das Individuum, so groß es auch sei, niemals der Ausgangspunkt der Gesellschaft ist, daß kein Individuum und keine Gruppe aus sich selbst, in der Isolierung und der Autarkie alle Bedingungen finden kann, die notwendig sind, um real, das heißt gesellschaftlich zu existieren." (Godelier 1987: 308f)

Durch den Produktionsprozess[1] verändert der Mensch die Natur um sich und damit auch sich selbst. Da er ein grundsätzlich gesellschaftliches Wesen ist, produziert er auch Gesellschaft[2]. Gesellschaft wird damit zur Existenzbedingung von Menschen, die nicht auf dem Willen von Individuen beruht. Der Beweis dafür ist das Inzesttabu als Ordnungsgesetz, das in jeder Gesellschaft "tagtäglich und überall" wirkt (vgl. Lévi-Strauss [3]).

Verweise:

[1] Siehe Kapitel 2
[2] Siehe Kapitel 4.1.1
[3] Siehe Kapitel 3.3 in der Lernunterlage Kultur- und Sozialanthropologie Lateinamerikas. Eine Einführung


5.2.3 Emmanuel Terray

Romuald Hazoumé, "Citoyenne", 1997, Foto: Pascal Maître. Quelle: Zinsou 2005.

Emmanuel Terray geb. 1935

Relevante Werke:

1974 Zur politischen Ökonomie der 'primitiven' Gesellschaften

1974 Long Distance Exchange and the Formation of the State. The Case of the Abron Kingdom of Gyaman

Als Schüler von Louis Althusser geht Terray davon aus, dass die Inhalte, Widersprüche und Antagonismen einer Produktionsweise für jede Gesellschaft einzeln bestimmt werden können, wobei immer eine Interdependenz von lokalen Ausprägungen und der jeweiligen, in letzter Instanz übergeordneten, globalen Produktionsweise besteht.

Seine methodisch - theoretischen Überlegungen sind ursächlich mit seinen Forschungen in Westafrika, im Senegal (Dida) und in der Elfenbeinküste (Abron), verbunden, da gerade das postkoloniale Afrika von tief greifenden Widersprüchen zwischen politischer Form und materieller Basis geprägt ist. Für die ökonomische Anthropologie ist sein Ansatz von großer Bedeutung, da er genaue ethnographische und lokale Fragestellungen unter Beibehaltung überlokaler sozio-historischer Perspektiven ermöglicht, was Terray vor allem in seiner Arbeit über Staatsmacht und Fernhandel am Beispiel des Abron Reiches ausführt. Sein Konzept der Produktionsweise ist aber auch insofern wegweisend, als es methodischen Umgang mit sozialer Dynamik operationalisiert.

Das Gesamtwerk von Terray ist von einem anhaltenden Interesse an den Antagonismen zwischen Staat und Ökonomie, Fragen zu Macht, Gewalt und politischer Aktion geprägt. Seit den 1990er Jahren beschäftigt er sich unter großem persönlichem Engagement (Terray und Goussault 1990) vorwiegend mit europäischer Politik, Menschenrechten, Asyl und Migration.


5.2.3.1 Terrays Operationalisierung des Produktionsweisenkonzeptes


In Terrays Analysezugang ist die "Produktionsweise" die zentrale anthropologisch-ökonomische Grundkategorie. Die Produktionsweise umfasst Produktivkräfte (Beziehung Mensch -- Natur) und Produktionsverhältnisse (Beziehung Mensch -- Mensch), hat also technologische und soziale Dimensionen. Er versteht sie als historischen Komplex, der drei Ebenen umfasst:

1) ökonomische Basis

2) rechtlich-politischer Überbau

3) ideologischer Überbau

Anders als Meillassoux[1] sieht Emmanuel TerrayVerwandtschaft nicht als Teil der Ökonomie, die wiederum bei ihm die eigentlich determinierende gesellschaftliche Instanz ist. Verwandtschaft, Politik, Religion, Recht sind Instanzen des Überbaus, in welchem sie auf zahlreichen Ebenen "Repräsentationen" haben, die die Produktionsverhältnisse reflektieren. Letztere allein können Aufschluss geben über die politisch-ideologischen Verhältnisse. In diesem Sinne sind Repräsentationen in der Superstruktur sowohl Ausdruck wie Deformation ihrer Basis, wobei es aber erst durch sie zum Funktionieren jener kommt und sie beträchtliche Eigendynamik entwickeln.

Basierend auf seiner Sichtweise von Marx schlägt er zur Untersuchung einer bestimmten sozioökonomischen Formation oder Gesellschaft folgende Analyseschritte vor:

  • erstens die Bestimmung der Arbeitsprozesse, die Rohstoffe in Produkte verwandeln;
  • zweitens die Verteilung der Produkte, daraus folgt der Zugang zu den Produktionsverhältnissen, die wiederum über die Distribution die Konsumption regeln.

Subjekte des Arbeitsprozesses sind die Produktionseinheiten, die ihrerseits von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen bestimmt sind, z.B. bedingt ein dorfgemeinschaftliches Produktionsverhältnis andere Wirtschaftssubjekte (Haushalt) als ein kapitalistisches (Lohnarbeiter und Kapitaleigner).

Alle drei Ebenen der Produktionsweise spielen in einem einzelnen sozioökonomischen Phänomen eine Rolle und sind in einer *causalité triplement complex*, einer dreifach komplexen Kausalität, miteinander verwoben. Eine Produktionseinheit (Ebene 1) kann z.B. zugleich Verwandtschaftseinheit (Ebene 2) sein, wie auch gleichzeitig eine religiöse Gruppe (Ebene 3) konstituieren. Terray besteht darauf, dass gerade in der Sozialanthropologie immer alle drei Ebenen einer Erscheinung oder Handlung analytisch zu trennen und für sich zu betrachten sind, wobei er voraussetzt, dass sie in der sozialen Realität vernetzt sind oder gleichzeitig auftreten. Weiters nimmt er an, dass die Koexistenz mehrerer Produktionsweisen gleichzeitig möglich ist.

Heftige Kritik erfährt Terray von Pierre-Philippe Rey, der ihm theoretisch unzulängliche Vernachlässigung der Ausbeutungs- und Klassenverhältnisse bei nicht-kapitalistischen Formationen vorwirft (Rey 1975). Eine weitere Kritik kommt von feministischer Seite von Maxine Molyneux, die seine ökonomischen Schlussfolgerungen aufgrund seiner androzentristischen Perspektive als verfälscht und damit ungültig ansieht (Molyneux 1977).

Verweise:

[1] Siehe Kapitel 5.2.1


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