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Contents
- 1 5.2 Ethnographie als Prozess der Datenerhebung
- 2 Inhalt
- 3 5.2.1 Forschungsdesign klassischer Ethnographien
5.2 Ethnographie als Prozess der Datenerhebung
Eine ethnographische Untersuchung zielt in der Regel darauf ab, Menschen über einen längeren Zeitraum in ihrem alltäglichen Leben zu beforschen. Das heißt, der/die EthnographIn bzw. FeldforscherIn nimmt physisch mit der Gesamtheit seiner/ihrer Person über einen längeren Zeitraum an ausgewählten Lebenswelten teil, mit dem Ziel, Daten zu erheben und Beschreibungen anzufertigen, die als Grundlage für spätere Analysen dienen.
Ethnographische Feldforschung ist, wie andere sozialwissenschaftliche Verfahren (z.B. Fragenbogenerhebung, teilstrukturierte Interviews,...), eine Methode der Datenerhebung, die sich aber in zumindest zwei Bereichen grundlegend von anderen Verfahren unterscheidet. Diese ergeben sich daraus, dass Methoden nicht nur Verfahren der Datenerhebung sind, sondern auch Verfahren der In-Beziehung-Setzung zum Feld. Das heißt, Methoden legen bestimmte Formen der Interaktion mit dem Untersuchungsfeld nahe. Ethnographische Feldforschung zeichnet sich durch eine besonders intensive und langfristige, über die reine Datenerhebung hinausgehende In-Beziehung-Setzung zum Untersuchungsfeld aus. Dies ist ein zentrales Qualitätskriterium ethnographischer Forschung. Ethnographische Feldforschung ist somit nicht nur ein Verfahren der Datenerhebung, sondern vor allem auch ein Verfahren zur Generierung von Erfahrungen und Erlebnissen, welche den/die FeldforscherIn zunehmend zu einem Teil des Feldes machen.
Ein zentrales Moment des Feldforschungsprozesses besteht darin, diese Erfahrungen und Erlebnisse durch das systematische Anlegen und Ausarbeiten von Feldnotizen[1] in Daten zu transformieren. Im Gegensatz zu anderen Methoden determiniert bei der ethnographischen Feldforschung das Feld selbst in einem viel größeren Ausmaß den Einsatz und die Anwendbarkeit von Forschungsstrategien und Methoden.
Insgesamt bedarf ethnographische Feldforschung einer gezielten Vorbereitung[2], welche unter anderem den Erwerb von sachlichem[3] und regionalem Know-How[4] und sprachlich-kommunikativen Kompetenzen[5] umfasst. Am Beginn der Feldforschung steht die Herausforderung, einen Zugang zum Feld zu finden, die Definition der eigenen Rolle[6] in Auseinandersetzung mit dem Feld vorzunehmen und die Zusammenarbeit mit InformantInnen auf eine tragfähige Basis zu stellen.
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.2.3
[2] Siehe Kapitel 5.2.2.1
[3] Siehe Kapitel 5.2.2.1.1.4
[4] Siehe Kapitel 5.2.2.1.1.3
[5] Siehe Kapitel 5.2.2.1.1.5
[6] Siehe Kapitel 5.1.1.2.1
Inhalt
- 5.2 Ethnographie als Prozess der Datenerhebung
- 5.2.1 Forschungsdesign klassischer Ethnographien
- 5.2.2 Die praktische Umsetzung einer ethnographischen Feldforschung
- 5.2.2.1 Worin besteht die richtige Vorbereitung für eine Feldforschung?
- 5.2.2.1.1 Fachlich-wissenschaftliche Vorbereitung
- 5.2.2.1.2 Praktisch-organisatorische Vorbereitung
- 5.2.2.1.3 Persönliche Vorbereitung: Selbstreflexion der ForscherIn
- 5.2.2.1.1 Fachlich-wissenschaftliche Vorbereitung
- 5.2.2.1 Worin besteht die richtige Vorbereitung für eine Feldforschung?
- 5.2.3 Wie schreibt man Feldnotizen?
- 5.2.3.1 Headnotes und Fieldnotes
- 5.2.3.2 Von der ethnographischen Erfahrung zu den Feldnotizen
- 5.2.3.3 Feldnotizen als Daten
- 5.2.3.4 Fieldnotes als unterschiedliche Textsorten
- 5.2.3.4.1 Stichwortzettel
- 5.2.3.4.2 Ausgearbeitete fieldnotes
- 5.2.3.4.3 Organisation der fieldnotes
- 5.2.3.4.4 Transkripte
- 5.2.3.4.5 Spezialisierte Datensammlungen
- 5.2.3.4.6 Metadatendokumentation
- 5.2.3.4.7 Schriftliche Interaktionen aus dem Feld
- 5.2.3.4.8 Literatur
- 5.2.3.4.1 Stichwortzettel
- 5.2.3.5 Analyse der Fieldnotes
- 5.2.3.5.1 Das Lesen der Feldnotizen als Daten
- 5.2.3.5.2 Das Stellen von Fragen an die Fieldnotes
- 5.2.3.5.3 Das Kodieren der Feldnotizen
- 5.2.3.5.4 Das Verfassen von Memos
- 5.2.3.5.1 Das Lesen der Feldnotizen als Daten
- 5.2.4 Literatur
- 5.2.3.1 Headnotes und Fieldnotes
- 5.2.1 Forschungsdesign klassischer Ethnographien
5.2.1 Forschungsdesign klassischer Ethnographien
Das Forschungsdesign einer Ethnographie wird bestimmt durch:
- das Forschungsziel,
- die theoretischen Grundannahmen,
- die methodische Ausrichtung und ihre entsprechenden Techniken
- sowie die gesellschaftspolitischen Voraussetzungen im Forschungs- wie Ursprungsland der EthnographIn.
Unterschiedliche Forschungsdesigns klassischer Ethnographien werden an folgenden Beispielen deutlich.
5.2.1.1 Historischer Partikularismus - Franz Boas
Der historische Partikularismus wurde Ende des 19. Jahrhundert von Franz Boas[1] im Gegensatz zu den spekulativen Rekonstruktionen der Evolutionisten und ihrer vergleichenden Methode (comparative method) entwickelt.
Er forderte bei der historischen Rekonstruktion von Kulturen die Beschränkung auf eine bestimmte Kultur bzw. auf ein Kulturareal. (Theoretische Grundannahmen des historischen Partikularismus[2])
Boas forderte ein induktives Vorgehen in der Kulturanthropologie; allgemeine Schlussfolgerungen seien nur auf Grund ausreichend gesammelten Feldforschungsmaterials zulässig. (Methoden und Techniken des historischen Partikularismus[3])
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.2.1.1.1
[2] Siehe Kapitel 5.2.1.1.2
[3] Siehe Kapitel 5.2.1.1.3
5.2.1.1.1 Franz Boas
Franz Boas (1858 - 1942) wurde in Deutschland geboren und naturwissenschaftlich ausgebildet (Physik, Geographie und Mathematik).
Schon bei seinen ersten (geographischen) Forschungen 1883 bei den Inuit auf Baffin Island und ab 1886 bei den NW-Küstenindianern British Columbia's (hauptsächlich den Kwakiutl) erkennt Boas, dass kulturelle Faktoren eine wesentlichere Rolle spielen als geographische.
Er habilitiert bei A. Bastian in Berlin und geht ab 1887 in die USA. Dort unterrichtet er ab 1896 an der Columbia University in New York und wird zur dominanten Figur in der amerikanischen Anthropologie und patriarchalischer Lehrer mehrerer SchülerInnengenerationen, welche ihm an Bedeutung und Prominenz kaum nachstehen (Benedict, Kroeber, Sapir, Herskovits, Lowie, Radin, Wissler, Mead u.v.a.).
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Boas vertritt die so genannte four-field-anthropology. Darunter ist eine allgemeine Anthropologie bestehend aus Rasse/physische Anthropologie, Sprache, Kultur und Archäologie zu verstehen, wobei jeder dieser Teilbereiche getrennt und mit jeweils anderen Methoden zu studieren ist. (Methoden und Techniken des historischen Partikularismus[1])
Im Rahmen der Kulturanthropologie wendet er sich gegen die spekulativen Erkenntnisse der Evolutionisten und fordert eine Beschränkung der historischen Rekonstruktion auf eine bestimmte Kultur bzw. ein Kulturareal.
Unter Boas wird das intensive Sammeln von ethnographischem Material durch die Feldforschung zur unerlässlichen Basis der Kulturanthropologie; erst bei ausreichender Datenlage und unter gebotener Vorsicht können Generalisierungen ins Auge gefasst werden. (Theoretische Grundlagen des historischen Partikularismus[2])
Boas war Begründer der American Anthropological Association und gab die Zeitschrift American Anthropologist heraus.
Seine bedeutendsten Werke sind The Central Eskimo (1888), The Social Organization and Secret Societies of the Kwakiutl Indians (1897), The Mind of Primitive Man (1911), Primitive Art (1927), Anthropology and Modern Life (1928), Race, Language and Culture (1940), Race and Democratic Society (1945).
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.2.1.1.3
[2] Siehe Kapitel 5.2.1.1.2
5.2.1.1.2 Theoretische Grundannahmen des historischen Partikularismus
Die Grundzüge des historischen Partikularismus nach Franz Boas[1] bestanden aus folgenden theoretischen Grundannahmen:
- Im Gegensatz zu den spekulativen Rekonstruktionen der Evolutionisten und ihrer vergleichenden Methode sind nur auf eine bestimmte Kultur oder ein Kulturareal (culture area) begrenzte historische Rekonstruktionen zu vertreten.
- Jede Kultur besteht aus Kulturelementen, welche durch Diffusion von anderen Kulturen übertragen wurden.
- Jedes durch Diffusion übernommene Kulturelement wird überformt, um in die neue Kultur zu passen.
- Dieser Prozess verläuft aber nie vollständig, so dass Kultur immer nur ein lose organisiertes Gebilde und kein eng geknüpftes System darstellt.
- Das soziale Leben wird bestimmt von Sitten und Gebräuchen (nicht von Rationalität und Nützlichkeit).
- Jede Kultur ist einzigartig, da sie das Resultat von diffusionistischen Prozessen und lokalen Bedürfnissen darstellt.
- Wenn jede Kultur einzigartig ist, können keine allgemeinen Urteile über eine bestimmte Kultur gefällt werden; sie kann nur aus dem kulturellen Kontext, in dem sie situiert ist, verstanden werden.
- Betonung der emischen Analyse (Perspektive der AkteurInnen einer Kultur) gegenüber der etischen (Perspektive der ForscherInnen von außen); bedeutend sind die Werte, Normen und Emotionen der untersuchten Kultur.
- Deshalb können auch nur schwer Verallgemeinerungen zwischen Kulturen getroffen werden; wenn, dann nur mit Vorsicht und bei ausreichender Datenlage.
- Betonung der Feldforschung, um möglichst viele Daten zu sammeln.
- Induktives Vorgehen; ohne vorgefasste Theorien in die Feldforschungssituation; wenn allgemeine Erklärungen erfolgten, dann nur auf Grund einer großen Menge an gesammelten Daten (Methoden und Techniken des historischen Partikularismus[2]).
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.2.1.1.1
[2] Siehe Kapitel 5.2.1.1.3
5.2.1.1.3 Methoden und Techniken des historischen Partikularismus
- Im Gegensatz zu den spekulativen Rekonstruktionen der Evolutionisten und ihrer vergleichenden Methode beschränkt Franz Boas[1] die historische Rekonstruktion auf eine bestimmte Kultur bzw. ein Kulturareal.
- Die Feldforschung wird betont, um möglichst viele empirische Daten zu sammeln und Spekulationen zu vermeiden (positivistisch).
- Im Sinne eines induktiven Vorgehens geht Boas ohne vorgefasste Theorien in die Feldforschungssituation und trifft nur bei ausreichendem Datenmaterial sehr vorsichtig formulierte generalisierende Aussagen.
- Boas vertritt die sog. four-field-anthropology. Darunter ist eine allgemeine Anthropologie bestehend aus Rasse/physische Anthropologie, Sprache, Kultur und Archäologie zu verstehen, wobei jeder dieser Teilbereiche getrennt und mit jeweils anderen Methoden zu studieren ist.
- Kultur wird von ihm bzw. seinen SchülerInnen nach Verbreitungsmerkmalen (Diffusion) von Kulturelementen und nach holistischen Mustern (patterns) untersucht
- Boas nimmt eine Vielzahl an indigenen Texten (Mythen, Erzählungen, Erinnerungen an die Vergangenheit u.a.) in der Originalsprache auf, versehen mit interlinearer englischer Übersetzung durch InformantInnen oder DolmetscherInnen.
- Boas' wichtigster Mitarbeiter wird George Hunt, ein Mann von schottischer und Tlingit Herkunft, der in einem Kwakiutl-Dorf herangewachsen und der Kwakwala-Sprache mächtig war. Er wird von Boas in der richtigen Aufnahme der Texte und ihrer Transkription unterwiesen, in einigen der publizierten Texte fungiert er auch als Co-Autor. Der Kontakt von Boas zu Hunt bleibt auch nach dieser Zusammenarbeit über mehr als 30 Jahre aufrecht.
- Weitere von Boas angewandte Techniken sind (teilnehmende) Beobachtung, Aufnahme von Lebensgeschichten (life histories), unstrukturierte Interviews.
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.2.1.1.1
5.2.1.2 Funktionalismus - Bronislaw Malinowski
Bronislaw Malinowski[1] gilt als Begründer der modernen ethnographischen Datenerhebung.
Entgegen den spekulativen Rekonstruktionen der armchair-anthropologists wird durch ihn das Sammeln von first-hand Daten im Feld zum gültigen Standard und die von Malinowski programmierte participant observation zu „der“ Methode der Kultur- und Sozialanthropologie (Methoden und Techniken des Funktionalismus[2]).
Der (strukturale) Funktionalismus als theoretische Strömung wird ab dem Beginn des 20. Jahrhunderts (1922) zur zentralen Ausrichtung innerhalb der britischen Sozialanthropologie. Während Malinowski's Kulturtheorie bereits gegen Ende der 1930er Jahre abgelehnt wird, behält der strukturale Funktionalismus von Radcliffe-Brown bis in die 1960er Jahre seine Bedeutung.
Von naturwissenschaftlichen Vorstellungen geleitet geht der Funktionalismus von der Beziehung (Funktion) einzelner Teile innerhalb einer übergeordneten Ganzheit bzw. zu dieser aus (Organismusanalogie). (Theoretische Grundannahmen des Funktionalismus[3])
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.2.1.2.1
[2] Siehe Kapitel 5.2.1.2.3
[3] Siehe Kapitel 5.2.1.2.2
5.2.1.2.1 Bronislaw Malinowski
Bronislaw Malinowski (1884 - 1942) zählt gemeinsam mit A. R. Radcliffe-Brown zu den Begründern der britischen Sozialanthropologie. Sein Bekanntheitsgrad reicht weit über das Fach hinaus, so greift u.a. S. Freud auf Malinowskis Arbeiten zurück.
Malinowski gilt als der Initiator der modernen ethnographischen Datenerhebung und des Funktionalismus als theoretische Strömung innerhalb der Sozialanthropologie. (Theoretische Grundannahmen des Funktionalismus[1])
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Er studiert zunächst Mathematik, Physik und Philosophie in seiner Geburtsstadt Krakau, danach in Leipzig bei W. Wundt Psychologie und schließlich in London Anthropologie bei E. Westermarck und C. G. Seligman.
1914 findet seine erste Feldforschung bei den Mailu (Australien) statt, gefolgt von mehrmonatigen Aufenthalten auf den Trobriand Inseln (PNG). Mit Ausbruch des 1. Weltkrieges wird Malinowski auf Grund seiner polnischen Nationalität (Polen war zu diesem Zeitpunkt der K&K Monarchie Österreich-Ungarn eingegliedert) zum Staatsfeind, der zwar nicht ausreisen, aber seinen Forschungen frei nachgehen darf.
Dieser unfreiwillig verlängerte Aufenthalt legt den Grundstein für den Mythos Malinowski: Er entwickelt die sog. participant observation (teilnehmende Beobachtung), welche ein über einen längeren Zeitraum hinweg intensives Zusammenleben mit der untersuchten Bevölkerung vorsieht. (Methoden und Techniken des Funktionalismus[2])
Später unternimmt Malinowski kürzere Feldforschungen in verschiedene Gebieten Afrikas (meist im Rahmen von Besuchen seiner forschenden StudentInnen) und in Mexiko.
Von 1923 bis 1938 unterrichtet Malinowski an der London School of Economics (ab 1927 als Professor) und wird zum charismatischen Lehrer bedeutender VertreterInnen der Sozialanthropologie (z.B. Firth, Evans-Pritchard, Nadel, Meyer-Fortes, Schapera, Richards, Kaberry u.v.a.). Ab 1939 bis zu seinem Tode lehrt er in Yale, New Haven, in den Vereinigten Staaten.
Seine bedeutendsten Werke sind Argonauts of the Western Pacific (1922), Crime and Custom in Savage Society (1926), Sex and Repression in Savage Society (1927), The Sexual Life of Savages in North-Western Melanesia (1929), Coral Gardens and Their Magic (1935), A Scientific Theory of Culture (1944), Freedom and Civilization (1944), Magic, Science and Religion (1948), A Diary in the Strict Sense of the Term (1967).
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.2.1.2.2
[2] Siehe Kapitel 5.2.1.2.3
5.2.1.2.2 Theoretische Grundannahmen des Funktionalismus
Die Grundzüge des (strukturalen) Funktionalismus sind:
- Wie die Theoretischen Grundannahmen des historischen Partikularismus[1] richtete sich der Funktionalismus gegen die spekulativen Rekonstruktionen der Evolutionisten und die vergleichenden Methode der armchair-anthropologists.
- Entgegen den Annahmen von Franz Boas[2] ist der Funktionalismus ahistorisch eingestellt, da die historische Perspektive nur bei Vorhandensein exakter schriftlicher Belege angestrebt werden kann.
- Organismusanalogie: die Gesellschaft wird mit einem biologischen Organismus verglichen, in dem die einzelnen Organe zusammenwirken müssen (Funktion), um den Erhalt des gesamten Körpers (Struktur) sicherzustellen.
- Gesellschaften bzw. ihre Teile zielen nach Ordnung (Equilibrium) und verlaufen nach bestimmten Mustern; der harmonische Zustand ist relativ stabil, Konflikte tendieren zu einem neuerlichen Equilibriumszustand.
- Das soziale Leben ist empirisch mittels ethnographischer Datenerhebung fassbar und für wissenschaftliche Analysen geeignet (Methoden und Techniken des Funktionalismus[3]).
- Ziel ist das Herausfinden von Gesetz- bzw. Regelmäßigkeiten des sozialen Lebens im naturwissenschaftlichen Sinne.
- Im Mittelpunkt der Forschungen stehen die sog. Institutionen als Kristallisationspunkte (nach Durkheim); die Kulturtheorie von Bronislaw Malinowski[4] leitet die wesentlichen Institutionen als Kulturreaktionen auf menschliche Grundbedürfnisse ab
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.2.1.1.2
[2] Siehe Kapitel 5.2.1.1.1
[3] Siehe Kapitel 5.2.1.2.3
[4] Siehe Kapitel 5.2.1.2.1
5.2.1.2.3 Methoden und Techniken des Funktionalismus
Bronislaw Malinowski[1] gilt als Begründer der modernen ethnographischen Datenerhebung.
Gemäß den theoretischen Grundannahmen des Funktionalismus[2] wird in der britischen Sozialanthropologie die empirische Datengewinnung zum Ausgangspunkt aller wissenschaftlichen Analysen über das soziale Leben.
Jede/r Forscher/in hatte zunächst möglichst viel Material über ein bestimmtes Areal oder eine Ethnie zusammenzutragen (induktives Vorgehen), woraus eine Vielzahl an bemerkenswerten "Stammesmonographien" resultierte.
Als Feldforschungsgebiete dienten die ehemaligen britischen Kolonien in den Überseegebieten.
Obwohl Malinowski seinen eigenen Ansprüchen über die Qualität einer Ethnographie nicht immer gerecht werden konnte (vgl. seine Tagebuchnotizen in A Diary in the Strict Sense of the Word, 1967 posthum ohne Zustimmung publiziert), gelten diese auch heute noch als Standard.
Malinowski's Richtlinien für ethnographische Erhebungen lauteten:
- Feldaufenthalt über einen längeren Zeitraum hinweg (zumindest für ein Jahr, um den gesamten Jahreszyklus dokumentieren zu können);
- planmäßiger Abbruch aller Kontakte des/r Forschers/in zur eigenen Kultur;
- Erlernen der "Eingeborenensprache";
- zum Kernstück wird die sog. participant observation (teilnehmende Beobachtung), die zu einem weitgehenden Einleben und Verstehen der fremden Kultur durch den/die ForscherIn führen soll ("We have to become They");
- Ziel ist die vollständige Integration des/der Forschers/in in die untersuchte Kultur; die Anwesenheit des/der Ethnographen/in muss so selbstverständlich sein, dass er/sie nicht mehr als störend empfunden wird;
- die Person des/der Forschers/in wird zum Messinstrument im Feld (im naturwissenschaftlichen Sinn);
Trotz dieser hohen Ansprüche war auch Malinowski auf die Mitarbeit von InformantInnen und DolmetscherInnen angewiesen.
Neben der teilnehmenden Beobachtung führte er (üblicherweise unstrukturierte) Interviews, sammelte Genealogien und Lebensgeschichten (life histories).
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.2.1.2.1
[2] Siehe Kapitel 5.2.1.2.2
5.2.1.3 Human Relations Area Files (HRAF) - George P. Murdock
Die Human Relations Area Files (HRAF) sind eine Datenbank, in welcher systematisch geordnetes ethnographisches Datenmaterial von rund 400 Kulturen für weitere statistische Auswertungen zur Verfügung steht. (Theoretische Grundannahmen, Methoden und Techniken der HRAF[1])
Die HRAF wurden 1949 von George P. Murdock[2] gegründet und gingen aus dem 1937 entwickelten Cross-Cultural Survey hervor.
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.2.1.3.2
[2] Siehe Kapitel 5.2.1.3.1
5.2.1.3.1 George P. Murdock
George Peter Murdock (1897 - 1985) war ein amerikanischer Anthropologe, der zum Schülerkreis von Franz Boas[1] zählte. Im Gegensatz zu seinem Lehrer versuchte er die vergleichende Methode (comparative method) wieder in die Anthropologie einzuführen und diese als nomothetische Wissenschaft zu etablieren.
Murdock lehrte in Yale und Pittsburgh. 1937 richtete er in Yale den Cross-Cultural Survey als Datenbank für ethnographisches Material ein, aus welchem 1949 die Human Relations Area Files (HRAF) hervorgingen. (Human Relations Area Files (HRAF) - George P. Murdock[2], Theoretische Grundannahmen, Methoden und Techniken der HRAF[3])
1962 gründete Murdock die Zeitschrift Ethnology mit dem Ziel, die ethnographische Datenproduktion und -kommunikation zu steigern.
Ebenso förderte er ethnographische Datenerhebungen im Pazifik und entwickelte ein Programm, das vom Office of Naval Research unterstützt wurde.
Seine bedeutendsten Werke sind Our Primitive Contemporaries (1934), Social Structure (1949), Outline of South American Cultures (1951), Outline of World Cultures (1954), Africa: Its People and Their Cultural History (1959), Culture and Society (1965), Atlas of World Cultures (1981).
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.2.1.1.1
[2] Siehe Kapitel 5.2.1.3
[3] Siehe Kapitel 5.2.1.3.2
5.2.1.3.2 Theoretische Grundannahmen, Methoden und Techniken der HRAF
Im Gegensatz zu seinem Lehrer Franz Boas[1] bemühte sich George P. Murdock[2] um eine Wiedereinführung der vergleichenden Methode (comparative method) im Sinne von Morgan und Tylor in die Anthropologie und um deren Ausrichtung als nomothetische Wissenschaft.
Zu diesem Zweck entwickelte er 1937 zunächst den Cross-Cultural Survey, aus welchem 1949 die Human Relations Area Files (HRAF) hervorgingen. Bei beiden handelt es sich um eine Datenbank, in der systematisch (nach einem ethnographischen Index) gesammeltes Material von rund 400 Kulturen bereitgestellt ist.
Das Datenmaterial sollte anderen ForscherInnen für statistische Auswertungen zur Verfügung stehen, um Verteilungen von Kulturmerkmalen und historische Beziehungen für bestimmte Kulturareale oder für ähnliche Kulturtypen zu konstruieren.
In seinem bekanntesten Werk, Social Structure (1949), untersucht Murdock ein Sample von 250 repräsentativen Gesellschaften z.B. nach dem Zusammenhang von Deszendenzregeln und postmaritalen Heiratsregelungen. So kann er bereits früher vermutete Zusammenhänge zwischen patrilinearer Deszendenz und virilokaler Residenz bzw. zwischen matrilinearer Deszendenz und uxori-lokaler oder viri-avunculokaler Residenz mittels präziser Korrelationen bestätigen. Diese Muster setzt er wiederum statistisch zu anderen Mustern (z.B. Subsistenzformen oder Verwandtschaftsterminologien) in Beziehung, um (multi-)evolutionshistorische Entwicklungen aufzuzeigen.
Die Files bieten eine wertvolle Basis für vergleichende quantifizierende Untersuchungen in der Kultur- und Sozialanthropologie.
Ihre Vorteile liegen in:
- Zugriffsmöglichkeit für alle Subskribenten (Institutionen, WissenschaftlerInnen) auf Xerox oder Mikrofiche-Basis; neuere Teile sind unter eHRAF[3] abrufbar.
- identes Ausgangsmaterial für vergleichende Studien, u.a. basierend auf einem einheitlichen Kodeschema, dem so genannten Outline of Cultural Materials (Inhaltsverzeichnis[4]).
- umfangreiches Datenmaterial
- Qualität und Tiefe der Informationen gingen bereits in der Initialphase über das bisherige Niveau hinaus, da nach einem ethnographischen Index gesammelt wurde
- das Anwachsen der Files war mit der zunehmenden Bereitschaft von EthnographInnen verbunden, auch quantifizierende Methoden in ihre Forschungen miteinzubeziehen
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.2.1.1.1
[2] Siehe Kapitel 5.2.1.3.1
[3] http://www.library.illinois.edu/edx/hrafgui.htm
[4] http://www.library.illinois.edu/edx/hraf_ocm.pdf
5.2.1.4 Interpretative Anthropologie - Clifford Geertz
Der amerikanische Kulturanthropologe Clifford Geertz[1] vergleicht die Feldforschungssituation mit einem literarischen Text, voll von Bedeutungen, die der/die ForscherIn eher interpretieren als erklären kann (Theoretische Grundannahmen, Methoden und Techniken der interpretativen Anthropologie[2]).
Die in den 1970er Jahren formulierte interpretative Anthropologie leitete das Postmoderne Denken in der Kulturanthropologie ein und führte zu einer Betonung von Schreiben und Text, Bedeutung (meaning) und Interpretation im Gegensatz zu Struktur und Kausalität.
Geertz richtet sein Augenmerk weg von generalisierenden Aussagen auf die tiefe Durchdringung einzelner Fälle (thick description oder dichte Beschreibung[3]).
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.2.1.4.1
[2] Siehe Kapitel 5.2.1.4.2
[3] Siehe Kapitel 5.2.1.4.2.1
5.2.1.4.1 Clifford Geertz
Clifford Geertz (1926 - 2006) war ein bedeutender amerikanischer Kulturanthropologe, der über sein Fach hinaus Beachtung erlangte und Einfluss auf Philosophie, Literaturwissenschaft, Geschichte, Geographie, Ökologie, Politikwissenschaft u.a. nahm.
Ausgebildet in Harvard unterrichtete er zunächst in Berkeley und Chicago, ab 1970 bis zu seinem Tode (als Emeritus) an der School of Social Science at the Institute for Advanced Study an der Universität von Princeton, N.Y..
Seine Themenschwerpunkte waren u.a. Kultur (allgemein), Religion (speziell der Islam), ökonomische Entwicklungen, traditionelle politische Strukturen, Dorf- und Familienleben.
Geertz führte intensive ethnographische Forschungen auf Java, Bali und in Marokko durch.
Er vergleicht die Feldforschungssituation mit einem literarischen Text, voll von Bedeutungen, die der/die ForscherIn eher interpretieren als erklären kann. Den Höhepunkt seines Schaffens erreicht Geertz in den 1970er und 80er Jahren mit der Begründung der interpretativen Anthropologie. (Theoretische Grundannahmen, Methoden und Techniken der interpretativen Anthropologie[1])
Er richtet sein Augenmerk weg von generalisierenden Aussagen auf die tiefe Durchdringung einzelner Fälle (thick description oder dichte Beschreibung[2]).
Seine bedeutendsten Werke sind The Religion of Java (1960), Agricultural Involution (1963), Islam Observed: Religious Development in Morocco and Indonesia (1968), The Interpretation of Cultures: Selected Essays (1973, 2000), Negara: The Theatre State in Nineteenth Century Bali (1980), Works and Lives: The Anthropologist as Author (1988), The Politics of Culture, Asian Identities in a Splintered World (2002).
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.2.1.4.2
[2] Siehe Kapitel 5.2.1.4.2.1
5.2.1.4.2 Theoretische Grundannahmen, Methoden und Techniken der interpretativen Anthropologie
Ausgangspunkt für Clifford Geertz[1] bildet die symbolische Anthropologie, wonach jede Kultur eine relativ autonome Ganzheit, ein System von Bedeutungen darstellt, welches der/die Anthropologe/in durch dekodieren und interpretieren erschließen kann.
In seinem Werk The Interpretation of Cultures (1973) vergleicht Geertz die ethnographische Analyse mit der Durchdringung eines literarischen Dokumentes, voll von Bedeutungen, die der/die ForscherIn eher interpretieren als schlüssig erklären kann. (deshalb die Bezeichnung interpretative Anthropologie).
Die in einer Ethnographie dargestellte Kultur ist als ein Zusammenbau verschiedener Texte zu verstehen:
- der Interpretationen der untersuchten Personen über Phänomene ihrer Lebenswelt in Zeit und Raum; Geertz bezeichnet diese als Interpretationen erster Ordnung
- der Interpretationen der InformantInnen über Phänomene der Lebenswelt in Zeit und Raum; Geertz bezeichnet diese als Interpretationen erster oder zweiter Ordnung
- der Interpretationen der EthnographInnen über Phänomene von Lebenswelten, die von deren intellektuellem Hintergrund in Zeit und Raum geleitet werden; Geertz bezeichnet diese als Interpretationen zweiter oder dritter Ordnung.
Die Zusammenführung und Überlagerung dieser einzelnen Interpretationen nennt Geertz thick description oder dichte Beschreibung[2].
Dichte Beschreibungen sind nach Geertz keine „einfachen Beschreibungen“, sondern eine Kombination von Beschreibung und Interpretation.
Den Ausdruck thick description übernimmt Geertz vom Sprachphilosophen Gilbert Ryle, der damit eine schnelle Augenlidbewegung in einer Runde von Knaben beschreibt: nur das interpretative, schnelle Erfassen der Gesamtsituation lässt Wesentliches von Irrelevantem unterscheiden. Ebenso verfährt der/die EthnographIn bei der Zusammenführung aller verfügbaren Interpretationen.
Der tiefen, mikroskopisch genauen Durchdringung einzelner Fälle (dichtes Beschreiben) gibt Geertz den Vorzug gegenüber generalisierenden Aussagen.
Wesentliche Bedeutung für die Präsentation der Ethnographie kommt dem Akt und der Art des Schreibens zu, durch den die dichten Beschreibungen zum Ausdruck kommen. Ethnographische Schriften sind nach Geertz Fiktionen, weil sie etwas künstlich Geschaffenes sind, müssen aber nicht unbedingt falsch sein. Geertz vertritt die Ansicht, dass auch Interpretationen wissenschaftlich sein können.
Die interpretative Anthropologie leitete das Postmoderne Denken in der Kulturanthropologie ein und führte zu einer Betonung von Schreiben und Text, Bedeutung (meaning) und Interpretation im Gegensatz zu Struktur und Kausalität.
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.2.1.4.1
[2] Siehe Kapitel 5.2.1.4.2.1
5.2.1.4.2.1 Beispiel für eine dichte Beschreibung
Textprobe für eine "dichte Beschreibung" nach Clifford Geertz[1] (siehe auch Theoretische Grundannahmen, Methoden und Techniken der interpretativen Anthropologie[2]):
"Der Kampf.
Hahnenkämpfe (tetadjen; sabungan) werden in einem Ring abgehalten, der ungefähr fünfzig Fuß im Quadrat mißt. Gewöhnlich beginnen sie am späteren Nachmittag und dauern drei oder vier Stunden bis zum Sonnenuntergang. Was den allgemeinen Ablauf betrifft, so sind die Kämpfe völlig gleich: es gibt keinen Hauptkampf, keinen Zusammenhang zwischen den einzelnen Kämpfen, keine formalen Unterschiede nach Größen, und ein jeder wird völlig ad hoc arrangiert. Sobald ein Kampf zuende ist und die emotionalen Trümmer beiseite geräumt sind - die Wetten ausbezahlt, die Flüche ausgesprochen und die toten Hähne in Besitz genommen -, begeben sich sieben, acht, vielleicht ein Dutzend Männer unauffällig mit ihren Hähnen in den Ring, um dort einen passenden Gegner für sie zu finden. Dieser Vorgang, der selten weniger als zehn Minuten dauert, oft sogar länger, findet in einer sehr scheuen, verstohlenen, oft sogar verheimlichenden Weise statt. Die nicht unmittelbar Beteiligten schenken dem Ganzen eine allenfalls versteckte, beiläufige Beachtung; diejenigen, die - zu ihrer Verlegenheit - beteiligt sind, tun irgendwie so, als geschähe das alles überhaupt nicht.
Wenn ein Paar zusammengestellt ist, ziehen sich die anderen Aspiranten mit derselben betonten Gleichgültigkeit zurück. Dann legt man den ausgewählten Hähnen ihre Sporen (tadji) an - rasiermesserscharfe, spitze Stahldolche von vier oder fünf Zoll Länge ...
Sind die Sporen angelegt, werden die Hähne in der Mitte des Ringes von den Hahnenführern (die nicht immer identisch mit den Besitzern sind) einander gegenüber in Stellung gebracht. Eine Kokosmuß, in die ein kleines Loch gebohrt ist, wird in einen Eimer mit Wasser geworfen, in dem sie etwa nach einundzwanzig Sekunden untergeht, eine Zeitspanne, die tjeng genannt wird und deren Anfang und Ende durch das Schlagen eines Schlitzgongs angezeigt wird. Während dieser einundzwanzig Sekunden ist es den Führern (pengangkeb) nicht gestattet, ihre Hähne zu berühren. Wenn es, was zuweilen geschieht, in dieser Zeit zu keinem Kampf zwischen den Tieren gekommen ist, nimmt man sie wieder an sich, sträubt ihre Federn, zieht an ihnen, sticht sie und ärgert sie noch auf andere Weise, und setzt sie dann zurück in die Mitte des Ringes, wo der Vorgang von neuem beginnt. Manchmal weigern sie sich selbst dann noch zu kämpfen, oder einer rennt ständig davon; in solch einem Falle werden sie zusammen unter einen Korbkäfig gesteckt, was sie dann für gewöhnlich zum Kämpfen bringt.
In den meisten Fällen jedoch fliegen die Hähne beinahe sofort aufeinander los, in einer flügelschlagenden, kopfstoßenden und um sich tretenden Explosion tierischer Wut, so rein, so absolut und auf ihre Weise so schön, dass sie fast abstrakt zu nennen wäre, ein platonischer Begriff des Hasses."
in: Geertz, Clifford (1983) "Deep Play": Bemerkungen zum balinesischen Hahnenkampf. In: ders. Dichte Beschreibung. Frankfurt am Main: Suhrkamp (orig. engl. 1973), S. 214-216
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.2.1.4.1
[2] Siehe Kapitel 5.2.1.4.2
5.2.1.5 Anthropology at Home
Anthropology at Home oder auto-anthropology (nach Edward Ardener) bedeutet ethnographische Forschung, die im Heimatgebiet der EthnographInnen durchgeführt wird.
Anthropology at Home kann als Überbegriff für unterschiedliche kultur- und sozialanthropologische Studien verstanden werden (siehe Vor- und Nachteile der Anthropology at Home[1]), der sich aus den gesellschaftspolitischen Voraussetzungen[2] des Forschungskontextes ableitet.
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.2.1.5.2
[2] Siehe Kapitel 5.2.1.5.1
5.2.1.5.1 Gesellschaftspolitische Voraussetzungen von Anthropology at Home
Im Gegensatz zur sog. exotischen Anthropologie, welche ihre Forschungsgebiete vornehmlich in Überseeländern suchte, betreibt die Anthropology at Home[1] ihre Untersuchungen im Heimatgebiet der EthnographInnen.
Trotz einzelner Studien führte die mainstream Kultur- und Sozialanthropologie bis zu Beginn der 1970er Jahre ihre Erhebungen vorwiegend in Überseegebieten durch.
Einreisebeschränkungen in viele der ehemaligen (kolonialen) Forschungsländer, bei gleichzeitigem rasantem Ansteigen an ausgebildeten AnthropologInnen führten vermehrt dazu, den ethnographischen Blick weg von exotischen Gebieten auf die eigene Kultur/Subkulturen zu richten. Zudem begannen immer mehr indigene, an westlichen Universitäten ausgebildete Kultur- und SozialanthropologInnen, ihre eigenen Heimatgebiete zu erforschen.
Stanley R. Barrett unterscheidet nach den gesellschaftspolitischen Voraussetzungen der Forschungsbedingungen unterschiedliche Typen von Anthropology at Home:
- Insider Anthropology wird von EthnographInnen betrieben, die aus den das Forschungsgebiet dominierenden Gruppen stammen.
- Native Anthropology wird von EthnographInnen betrieben, die aus Minderheiten-Gruppen im Forschungsgebiet stammen.
- Indigenous Anthropology wird von so genannten „3.Welt-AnthropologInnen“ betrieben, die Forschung in ihrem Heimatland betreiben.
Bei dieser Dreiteilung von Barrett wird deutlich, dass sich die Differenz zwischen Insider und Native Anthropology innerhalb der Indigenous Anthropology der 3.Welt-AnthropologInnen wiederholt.
Anthropology at Home kann als Überbegriff für unterschiedliche kultur- und sozialanthropologische Studien verstanden werden (siehe Vor- und Nachteile der Anthropology at Home[2]).
Literatur:
Barrett, Stanley R. (1996) Anthropology. A Student´s Guide to Theory and Method. Toronto: University of Toronto Press
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.2.1.5
[2] Siehe Kapitel 5.2.1.5.2
5.2.1.5.2 Vor- und Nachteile der Antrhopology at Home
Anthropology at Home kann als Überbegriff für unterschiedliche kultur- und sozialanthropologische Studien verstanden werden, der sich aus den gesellschaftspolitischen Voraussetzungen des Forschungskontextes ableitet.
Im Rahmen der Anthropology at Home können bei ethnographischen Untersuchungen sowohl qualitative wie quantitative Methoden herangezogen werden.
Die Vorteile für Anthropology at Home sind:
- Wegfall langer Anreisen und erheblicher Reisekosten,
- linguistische Kompetenz,
- kein bedingungsloses Angewiesensein auf InformantInnen,
- als Insider leichteres Verständnis der kulturellen Problematik,
- sowie größere Kapazität, kulturelle Nuancen von non-verbalen und verbalen Daten wahrzunehmen.
Die Nachteile für Anthropology at Home sind:
- Auf Grund der Vertrautheit werden viele Dinge des Alltagslebens von den ForscherInnen nicht hinterfragt und analysiert.
- Zu geringe soziale Distanz zur untersuchten Gruppe kann einem unparteiischen Verhalten der ForscherInnen entgegenstehen.
- Fehler im Verhalten der EthnographInnen werden nicht toleriert, da erwartet wird, dass die sozialen Regeln bekannt sind.