Der Prozess der Datenerhebung/Strategien

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Vorheriges Kapitel: 5. Der Prozess der Datenerhebung

5.1 Strategien der Datenerhebung

Verfasst von Ernst Halbmayer und Jana Salat

Die Strategien der Datenerhebung in der qualitativen Sozialforschung beruhen im Normalfall auf spezifischen und gezielten Anwendungen von Verfahren, die wir tagtäglich einsetzen, um uns in unserer sozialen Umwelt zu orientieren und zurechtzufinden sowie Informationen über sie in Erfahrung zu bringen. Solche Strategien sind zum Beispiel Beobachten, Befragen, Diskutieren, gezieltes Lesen und Experimentieren.

Im Gegensatz zum Alltag werden in der empirischen Sozialforschung solche Verfahren einerseits bewusst und gezielt eingesetzt, andererseits wurden innerhalb der Bereiche von Beobachtung, Befragung, Gruppendiskussion[1], Experiment und Textanalyse unterschiedliche methodische Strategien entwickelt und normiert.


Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.1.2.1.2

Inhalt

5.1.1 Formen der Beobachtung

Die Beobachtung ist ein Akt der Kenntnisnahme eines Phänomens und des Sicherns von Eindrücken und Kenntnissen für wissenschaftliche oder andere Zwecke. Diese Kenntnisnahme kann auf Basis aller menschlichen Sinne (Sehen, Hören, Riechen, Tasten, Schmecken) erfolgen, aber auch mittels technischer Hilfsmittel wie Photographie, Audio- und Videoaufzeichnungen.

Es können unterschiedliche Formen der Beobachtung unterschieden werden:

  • standardisierte vs. nicht standardisierte Beobachtung
  • offene vs. verdeckte Beobachtung
  • teilnehmende vs. nicht teilnehmende Beobachtung
  • direkte vs. indirekte Beobachtung

5.1.1.1 Standardisierte Formen der Beobachtung

Wie auch bei anderen Datenerhebungsverfahren (z.B. Befragung[1]) kann Beobachtung sowohl standardisiert, wie nicht standardisiert durchgeführt werden.

Bei einer standardisierten Beobachtung werden im Vorfeld der Beobachtung die relevanten Indikatoren und Kriterien festgelegt und diese in Form von Beobachtungsbögen (z.B. Beobachtungsbogen zur Erstellung eines Entwicklungsprofils von Kindern[2]), die bei der Datenerhebung zum Einsatz kommen, verschriftlicht. Standardisierte Beobachtung kommt vor allem im Rahmen der quantitativen Forschung zum Einsatz.

Innerhalb der ethnographischen Methoden kommen hingegen zumeist nicht standardisierte Formen der Beobachtung zum Einsatz.


Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.1.2
[2] https://www.datenschutzzentrum.de/uploads/kita/beobachtungsbogen.pdf


5.1.1.1.1 Nicht standardisierte Formen der Beobachtung

Nicht standardisierte Formen der Beobachtung finden im natürlichen Kontext der alltagsweltlichen Ereignisse ohne Einschränkung durch vorgefertigte Kategorien, Indikatoren oder spezifisch inszenierte Beobachtungsarrangements wie bei standardisierter Beobachtung, Experimenten oder Labor-Studien statt.

Im Rahmen der ethnographischen Feldforschung[1] werden nicht standardisierte Formen der Beobachtung dazu eingesetzt, um die lebensweltlichen Konzepte, Erfahrungen und Strategien von AkteurInnen im Feld kennen und nachvollziehen zu lernen und deskriptiv dokumentieren[2] zu können.

Obwohl diese Form der Beobachtung offen und nicht standardisiert ist, so ändert sich im Laufe der Feldforschung das Ausmaß der Fokussierung der Beobachtung.

So unterscheiden etwa Adler und Adler (1998: 87)

  • Anfangsbeobachtungen
  • fokussierte Beobachtungen
  • und selektive Beobachtungen.

Die Anfangsbeobachtung ist primär deskriptiv, unfokussiert und generell orientiert. Sie orientiert sich an allgemeinen Fragestellungen und der/die ForscherIn versucht sich in dieser Phase eine erste Grundorientierung im Feld zu verschaffen.

Wenn man mit dem Feld vertrauter ist und zentrale soziale Gruppen und/oder Personen identifiziert hat, geht man im Normalfall zu einer fokussierten Beobachtung über. Das heißt, um bestimmte Phänomene besser zu verstehen richtet man die Aufmerksamkeit auf einen begrenzteren Ausschnitt des Feldes um ein tieferes Verständnis von diesem zu erlangen. Im Bezug auf eine bestimmte Gruppe von Personen kann dies bedeuten, dass man im Detail verstehen und beschreiben will, wie sie sich verhalten, Räumlichkeiten nützen, Gefühle ausdrücken, welche Strukturen sie im Umgang miteinander ausbilden, wie sie die Welt wahrnehmen und ihr gegenüber handeln etc.

Auf Basis solcher Beobachtungen werden sich Grundannahmen des/der ForscherIn verändern, er/sie wird neue Hypothesen für das Verständnis des Feldes generieren, welche schließlich in selektiven Beobachtungen genauer überprüft und verfeinert werden. Die Selektivität dieser Beobachtung besteht also in ihrem Bezug auf expliziten Annahmen und Hypothesen[3] und nicht unbedingt in einer noch engeren Fokussierung auf begrenzte Teilausschnitte des Feldes.

In dieser Phase kann es vielmehr auch darum gehen, Annahmen über Beziehungen zwischen einzelnen Teilbereichen des Feldes ethnographisch zu überprüfen und dokumentieren.


Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.2
[2] Siehe Kapitel 5.2.3
[3] Siehe Kapitel 2.7.4 der Lernunterlage Einführung in die Empirischen Methoden der Kultur- und Sozialanthropologie

5.1.1.2 Teilnehmende und nicht teilnehmende Beobachtung

Die Unterscheidung zwischen teilnehmender und nicht teilnehmender Beobachtung bezieht sich auf die Rolle des/der ForscherIn im Feld und das Ausmaß seiner/ihrer Involviertheit in die dort stattfindenden Aktivitäten. Diese Unterscheidung ist nicht als dichotome Differenz zu verstehen, vielmehr handelt es sich um ein Kontinuum, dessen Endpunkte einerseits die reine Beobachtung und andererseits die völlige Teilnahme darstellen.

Als ForscherIn kann man also unterschiedliche Beobachtungsrollen einnehmen und diese im Laufe der Feldforschung auch verändern. Üblicherweise wechseln sich im Verlauf einer Feldforschung Phasen der intensiven Teilnahme mit solchen der distanzierteren Beobachtung der Vorkommnisse im Feld ab.


5.1.1.2.1 Beobachtungsrollen

Üblicherweise nimmt man im Laufe einer Feldforschung zu unterschiedlichen Zeitpunkten unterschiedliche Rollen ein:

  • völlige Teilnahme
  • teilnehmende Beobachtung
  • beobachtende Teilnahme
  • nicht teilnehmende Beobachtung

Gerade aus diesem Rollenwechsel zwischen distanzierter Betrachtung und Reflexion und dem Aufgehen im Feld als lokale/r AkteurIn (going native) entsteht ein umfassendes und vielschichtiges Bild des untersuchten Feldes.

Aus der Sicht ethnographischer Feldforschung sind Beobachtungen, die ausschließlich auf nicht teilnehmender Beobachtung oder auf völliger Teilnahme beruhen, problematisch.

Ausschließlich nicht teilnehmende Beobachtung bedeutet keinerlei direkten Kontakt, emotionale Beziehungen und persönliche Auseinandersetzungen mit den Personen im Feld einzugehen. Dies hat im Normalfall ein Festhalten an eigenen Beobachtungskategorien zur Folge, wobei Chancen für deren interaktive Überprüfung und Revidierung in direkter Auseinandersetzung mit den Personen im Feld ungenutzt bleiben.

Im Gegensatz dazu birgt die völlige Teilnahme ohne Wechsel in andere Rollen die Gefahr in sich, dass es zwar zu intensivem direktem Kontakt, emotionalen Beziehungen und persönlichen Auseinadersetzungen kommt, diese aber über die Ebene oft nicht weiter reflektierter, persönlicher Erfahrungen nicht hinaus gehen. Eine dauerhafte völlige Teilnahme ohne systematische (Selbst-)Beobachtung schließt auch aus, dass es zu einer Transformation von gemachten Erfahrungen in analysierbare Daten kommt. Damit wäre eine zentrale Grundlage der ethnographischen Feldforschung als Datenerhebungsstrategie nicht gewährleistet.

5.1.1.3 Direkte und indirekte Beobachtung

Während sich die Unterscheidung von teilnehmender und nicht teilnehmender Beobachtung[1] auf das Ausmaß der Involviertheit des/der ForscherIn im Feld bezieht, geht es bei der Unterscheidung zwischen direkter und indirekter Beobachtung um die Frage, ob der/die ForscherIn während der Beobachtung auch für die Beobachteten wahrnehmbar und präsent ist. Bei indirekter Beobachtung ist eine solche wahrnehmbare Präsenz nicht gegeben. Dies ist z.B. in Laborversuchen der Fall oder aber bei Beobachtungen via Audio- bzw. Videoübertragungen bzw. von - Aufzeichnungen. Im Normalfall ist eine indirekte also eine nicht teilnehmende Beobachtung.

Im Rahmen ethnographischer Feldforschung haben wir es im Normalfall mit direkten Beobachtungen zu tun.

Unter Bedingungen neuer technischer Möglichkeiten und Kommunikationsmedien besteht die Möglichkeit, dass sich dieses Verhältnis im Rahmen der Cyber- und Media Anthropology auch anders gestaltet.


Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.1.1.2

5.1.1.4 Offene und verdeckte Beobachtung

Die Unterscheidung zwischen offener und verdeckter Beobachtung bezieht sich auf die Offenlegung der Rolle des/der ForscherIn. Bei verdeckter Beobachtung sind die Beobachteten nicht über die Forschungstätigkeit aufgeklärt. In wieweit verdeckte Beobachtung legitim ist, ist eine forschungsethische Frage und hängt vom Untersuchungsgegenstand ab. Wenn man sich z.B. der ethnographischen Erforschung öffentlicher Plätze widmet, wird und kann die Beobachtung nicht durchgehend offen erfolgen. Als sensible/r ForscherIn sollte man sich aber bewusst sein, dass die Grenze zwischen öffentlich und privat kulturell unterschiedlich gezogen wird und innerhalb öffentlicher Räume auch private bzw. intime "Bereichsblasen" (Lofland 1994) geschaffen werden.

Jenseits der Unterscheidung von offener und verdeckter Beobachtung stellt sich insbesondere im Rahmen der ethnographischen Feldforschung die Frage der Informationspolitik gegenüber den Beforschten, deren Zustimmung und Möglichkeiten zur Mitbestimmung, das heißt zur Partizipation und aktiven Mitgestaltung des Forschungsprozesses.

5.1.1.5 Literatur

Lofland, L. (1994) Observations and observers conflict: Field research in the public realm. In S. Cahill & l. Lofland (Hg.), The community of the streets. Greenwich, CT: JAI.

Adler, Patricia A. und Peter Adler (1998) Observational Techniques. In: Denzin, Norman K. & Yvonna S. Lincoln (Hg.): Handbook of Qualitative Research. Sage: London, S. 377-392.

5.1.2 Formen von Befragungen

Grundlage einer Befragung ist mittels sprachlicher Interventionen (mündlich bzw. schriftlich) Reaktionen bei den Interviewten auszulösen, mit dem Ziel, bestimmte inhaltlich thematische Angaben und Informationen zu gewinnen.

In der sozialwissenschaftlichen Methodenliteratur wird eine enorme Vielfalt unterschiedlicher Befragungstechniken bzw. Interviewarten[1] unterschieden. Zentrale Dimensionen, die diesen verschiedenen Befragungsarten zu Grunde liegen, sind:

  • Art und Ausmaß der Standardisierung[2]
  • Stil der Kommunikation [3]
  • Einzel- vs. Gruppeninterview[4]
  • Form und Medium[5] der Kommunikation
  • Zielsetzung[6] des Interviews

Die meisten der in der Literatur unterschiedenen Interviewarten beziehen sich zumindest auf eine der genannten Dimensionen. So verweisen Begriffe wie offenes, teilstandardisiertes oder standardisiertes Interview auf die erste der oben genannten Dimensionen. Die Unterscheidung von harten, neutralen und weichen Interviews bezieht sich auf den Stil der Kommunikation, während sich z.B. mündliche, schriftliche, postalische, telefonische und face-to-face Interviews auf die Form und das verwendete Medium der Kommunikation beziehen. Die Zielsetzungen von Befragungen können sich auf die quantitative Feststellung empirischer Varianz oder das verstehende Nachvollziehen lebensweltlicher Zusammenhänge beziehen. Etliche Interviewarten definieren sich nicht nur in Bezug auf eine dieser Dimensionen, sondern kombinieren spezifische Ausprägungen dieser Dimensionen.


Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.1.2.2
[2] Siehe Kapitel 5.1.2.1.1
[3] Siehe Kapitel 5.1.2.1.4
[4] Siehe Kapitel 5.1.2.1.2
[5] Siehe Kapitel 5.1.2.1.3
[6] Siehe Kapitel 5.1.2.1.6

5.1.2.1 Unterscheidungskriterien qualitativer Interviews

Qualitative Interviews können nach verschiedenen Kriterien unterschieden werden. Dazu zählen insbesondere:

  • das Ausmaß der Standardisierung (Strukturierung),
  • die Frage ob eine oder mehrere Personen gleichzeitig interviewt werden (Einzel- vs. Gruppeninterview),
  • ob die Befragung mündlich und face-to-face oder technisch vermittelt und schriftlich durchgeführt wird (Form und Medium der Kommunikation),
  • Stil der Kommunikation,
  • die Frageform und
  • die Zielsetzung des Interviews.

5.1.2.1.1 Strukturierung

Befragungen können in unterschiedlichem Ausmaß strukturiert sein. So kann man aus der Sicht des/der InterviewerIn

  • informelle Gespräche
  • nichtstrukturierte
  • teilsturkturierte
  • und vollstrukturierte Interviews unterscheiden.

Je weniger eine Befragung von dem/der InterviewerIn vorstrukturiert ist, desto mehr Strukturierungsmöglichkeiten werden im Zuge der Befragung dem/der Interviewten eingeräumt.

An einem Ende des Kontinuums befinden sich vollstrukturierte schriftliche Fragebögen mit geschlossenen Fragen, das heißt vorgegebenen Antwortkategorien. Der Freiheit des/der Interviewten eigene Ideen, Themen oder Ansichten einzubringen und über diese in eigenen Kategorien zu berichten wird hier kein Platz eingeräumt. Diese Art der vollstandardisierten Befragung kommt in groß angelegten Untersuchungen im Rahmen der quantitativen Sozialforschung zum Einsatz.

Am anderen Ende des Kontinuums befinden sich informelle Interviews bzw. Gespräche[1], die sich völlig unstrukturiert und zufällig in unterschiedlichen sozialen Feldern ergeben. Dafür werden in der Literatur unterschiedliche Begrifflichkeiten verwendet. Bernard (2002: 204) spricht vom informellen Interviewen, Lamnek (2005) vom rezeptiven Interview[2] und Girtler (2001) vom ero-epischen Gespräch[3]. Da diese Gespräche in keinem speziell vereinbarten Rahmen (Zeitpunkt, Ort des Interviews) stattfinden und die GesprächspartnerInnen die Situation nicht immer als Forschungssituation wahrnehmen, handelt es sich um ungeplant stattfindende Gespräche im Zuge der ethnographischen Feldforschung. Eine Strategie, informelle freundschaftliche Gespräche in formelle Interviews zu transformieren, stellt das ethnographische Interview[4] nach Spradley (1979) dar.

Im Gegensatz zu diesen ungeplanten Befragungen, empfiehlt es sich, bei geplanten und vereinbarten Befragungen von Interviews zu sprechen. Diese können in unterschiedlichem Ausmaß und nach unterschiedlichen Kriterien strukturiert sein. Das betrifft das Ausmaß der Fokussierung auf einen bestimmten Themenbereich, die Anzahl im Vorfeld explizierter Fragen, die Abfolge dieser Fragen und die Offenheit bzw. Geschlossenheit der Antwortmöglichkeiten. Bei unstrukturierten offenen und/oder narrativen Interviews[5] beschränkt sich die Standardisierung auf die Festlegung eines Themas und die Formulierung eines Eingangsstatements, welches den/die Interviewte/n auffordert zu erzählen. Im weiteren Interviewverlauf werden von dem/der InterviewerIn Interventionen gesetzt, die den Fortgang des Erzählflusses unterstützen, zu weiteren Spezifizierungen auffordern, etc. Es ist aber der/die Interviewte, welcheR die Strukturierung der Erzählung vornimmt.

Bei teilstrukturierten Interviews bedient man sich eines Interviewleitfadens, der die Fragen, nicht aber die Antwortmöglichkeiten vorgibt. Auch beim Einsatz eines Interviewleitfadens kann in unterschiedlichem Ausmaß strukturiert bzw. unstrukturiert erfolgen. In seiner unstrukturiertesten Anwendungsweise stellt der Leitfaden nur einen Pool von Fragen zur Verfügung, die nach Möglichkeit gestellt werden sollen. In einer strukturierteren Form müssen zumindest alle Fragen des Leitfadens gestellt werden und in der strukturiertesten Form müssen nicht nur alle Fragen des Leitfadens gestellt werden, sondern auch eine vom Leitfaden vorgegebene Abfolge der Fragen muss eingehalten werden.

In der qualitativen Sozialforschung kommen Fragen mit bereits im Vorfeld definierten Antwortkategorien kaum zum Einsatz.


Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.1.2.2.2
[2] Siehe Kapitel 5.1.2.2.2.1
[3] Siehe Kapitel 5.1.2.2.2.2
[4] Siehe Kapitel 5.1.2.2.4
[5] Siehe Kapitel 5.1.2.2.3.3


5.1.2.1.2 Einzel- vs. Gruppeninterviews/Diskussionen

Mittels qualitativer Befragungen können sowohl Einzelpersonen wie auch Gruppen untersucht werden. In Feldforschungssituationen ist diese Trennung nicht immer leicht herzustellen. Wenn man ganz gezielt Einzelinterviews führen will, sollte man gewährleisten, dass diese außerhalb des üblichen sozialen Umfeldes (Familie, Freunde, etc.) stattfinden. Gründe, die für ein solches Vorgehen sprechen, können sein:

  • dass man die persönliche Meinung eines/r Befragten jenseits eines sozialen Gruppendrucks erkunden will.
  • Dies ist insbesondere dann wichtig, wenn man bestimmte Personengruppen (Frauen, Jugendliche, Kinder,...) befragen will, denen auf Grund existierender soziokultureller Hierarchien die Kompetenz abgesprochen wird, zu einem bestimmten Thema ihre Meinung zu äußern.

Gegen eine streng individualisierte Befragung spricht jedoch, dass der natürliche lebensweltliche soziale Kontext, der selbst eine reichhaltige Informationsquelle darstellt, verloren geht. Bei Gruppenbefragungen werden immer auch die soziale Dynamik und die sozialen Beziehungen innerhalb der Gruppe unabhängig vom spezifischen Thema der Befragung sichtbar. Es ist auch zu beachten, dass sich Meinungen, Einstellungen und Orientierungen oft erst situativ innerhalb des von dem/der ForscherIn initiierten Gruppendiskussionskontextes herausbilden. Die Kultur- und Sozialanthropologie versucht Gruppeninterviews und Gruppendiskussionen zumeist innerhalb natürlich vorkommender sozialer Gebilde (Vereine, Kooperativen, Familien, Freundeskreisen, etc.) durchzuführen und damit die kollektiv verankerten Orientierungen dieser Gruppe zu ergründen. Im Gegensatz dazu stehen Verfahren, die solche Gruppen nach bestimmten vorher festgelegten Kriterien zusammensetzen, wie dies etwa bei Fokusgruppen[1] der Fall ist.


Verweise:
[1] http://www.qualitative-research.net/index.php/fqs/article/view/591


5.1.2.1.3 Form und Medium der Befragung

Die Form der Befragung kann schriftlich oder mündlich erfolgen und sich dabei unterschiedlicher Medien bedienen.

Mündliche Befragungen können in face-to-face Interaktionen durchgeführt werden, es kann sich aber auch um technisch vermittelte Befragungen wie Telefoninterviews oder Interviews via Internet und Webcams handeln. Das heißt, qualitative mündliche Befragungen beruhen auf räumlicher oder virtueller Kopräsenz, die eine unmittelbare gegenseitige Wahrnehmbarkeit des/der Interviewten und des/der InterviewerIn ermöglichen.

Nicht- oder teilstrukturierte schriftliche Befragungen können innerhalb der qualitativen Sozialforschung sowohl asynchron z.B. in Form von Briefen, e-Mails, oder Diskussionsforen, wie auch synchron in Form von Chats zum Einsatz kommen.


5.1.2.1.4 Stil der Kommunikation

Man kann Interviews auch nach dem Stil der Kommunikation, also nach dem Interviewerverhalten unterscheiden.

Lamnek (2005: 343f) unterscheidet etwa

  • weiche,
  • harte
  • und neutrale Interviews

und stellt gleichzeitig fest, dass die in der qualitativen Sozialforschung anwendbare Methode „nur die weichen bis neutralen Interviews“ umfasst. Während das neutrale Interview „den unpersönlich-sachlichen Charakter der Befragung, die Einmaligkeit der Kommunikation und die soziale Distanz zwischen den Befragungspartnern betont“ (Koolwijk 1994: 17 zit. nach Lamnek 2005: 344), versucht das weiche Interview „das sympathisierende Verständnis für die spezielle Situation des Befragten zum Ausdruck zu bringen“ (ebd.: 343) und ein Vertrauensverhältnis zum/zur Befragten zu entwickeln (siehe auch Bernard 1998: 346).


5.1.2.1.5 Frageformen

Während in der quantitativen Sozialforschung vorwiegend geschlossene Fragen mit vorgegebenen Antwortkategorien Verwendung finden, ist der Interviewverlauf innerhalb der qualitativen Sozialforschung durch die Verwendung offener Fragen charakterisiert. Offene Fragen geben keine Antwortmöglichkeiten vor und lassen dem/der Befragten größeren Spielraum mittels eigener Formulierungen, Fakten und illustrativen Beispielen die für ihn/sie relevanten Bedeutungszusammenhänge darzustellen. Bei offenen, unstrukturierten Befragungen, die wie z.B. das narrative Interview[1] darauf abzielen, Erzählungen zu generieren, beschränken sich die Interventionen des/der InterviewerIn auf so genannte erzählungsgenerierende Einstiegsfragen und auf Interesse und Aufmerksamkeit signalisierende Äußerungen, die den Erzählfluss stimulieren und aufrechterhalten, aber auch weitere Explikationen anregen sollen.


Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.1.2.2.3.3


5.1.2.1.6 Zielsetzung

Während in der quantitativen Sozialforschung das Ziel der Befragung die Feststellung der Häufigkeit empirischer Ausprägungen an Hand vordefinierter Indikatoren und Fragestellungen ist, wird in der qualitativen Forschung das Ziel verfolgt, die Lebenswelten, Sichtweisen und die emischen Kategorien der Interviewten verstehend zu erschließen.

5.1.2.2 Beispiele für qualitative Interviewverfahren

In der sozialwissenschaftlichen und insbesondere soziologischen Methodenliteratur findet sich ein Wildwuchs unterschiedlicher Interviewarten, von denen hier ohne Anspruch auf Vollständigkeit exemplarisch einige genannt werden sollen:

  • ExpertInneninterview[1]
  • ethnographisches Interview
  • diskursives Interview
  • episodisches Interview
  • evaluatives Interview
  • fokussiertes Interview
  • problemzentriertes Interview[2]
  • narratives Interview[3]
  • biografisches Interview
  • informatorisches Interview
  • analytisches Interview
  • diagnostisches Interview
  • klinisches Interview
  • Struktur- oder Dilemmainterview
  • rezeptives Interview[4]
  • assoziatives Interview
  • ero-episches Gespräch[5]
  • Tiefeninterview
  • ermittelndes Interview
  • freies Interview
  • gelenktes Interview
  • halbstandardisiertes Interview[6]
  • hartes Interview[7]
  • individuelles Interview
  • neutrales Interview[8]
  • offenes Interview[9]
  • persönliches Interview
  • postalisches Interview
  • schriftliches Interview[10]
  • standardisiertes Interview[11]
  • strukturiertes Interview[12]
  • unstrukturiertes Interview[13]
  • telefonisches Interview[14]
  • weiches Interview[15]
  • zentriertes Interview


Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.1.2.2.3.1
[2] Siehe Kapitel 5.1.2.2.3.2
[3] Siehe Kapitel 5.1.2.2.3.3
[4] Siehe Kapitel 5.1.2.2.2.1
[5] Siehe Kapitel 5.1.2.2.2.2
[6] Siehe Kapitel 5.1.2.1.5
[7] Siehe Kapitel 5.1.2.1.4
[8] Siehe Kapitel 5.1.2.1.4
[9] Siehe Kapitel 5.1.2.1.5
[10] Siehe Kapitel 5.1.2.1.3
[11] Siehe Kapitel 5.1.2.1.5
[12] Siehe Kapitel 5.1.2.1.1
[13] Siehe Kapitel 5.1.2.1.1
[14] Siehe Kapitel 5.1.2.1.3
[15] Siehe Kapitel 5.1.2.1.4


5.1.2.2.1 Biographische Interviews

Literaturhinweise:

Fischer-Rosenthal, Wolfram und Gabriele Rosenthal (1997) Narrationsanalyse biographischer Selbstpräsentation. In: Hitzler, R.; Honer, A. (Hg.) Sozialwissenschaftliche Hermeneutik. Eine Einführung. Opladen, S. 133-165.

Fischer-Rosenthal, Wolfram und Gabriele Rosenthal (1997) Warum Biographieforschung und wie man sie macht. In: Zeitschrift für Sozialisationsforschung und Erziehungssoziologie17, S. 405-427.

Schütze, Fritz (1983) Biographieforschung und narratives Interview. In: Neue Praxis 3, S. 283-293.


5.1.2.2.2 Formen informeller Gespräche

Hauptkriterium informeller Interviews bzw. Gespräche ist, dass sie sich zufällig in unterschiedlichen sozialen Feldern ergeben. Sie zeichnen sich durch eine weitgehende Unstrukturiertheit von Seiten des/der InterviewerIn aus. Es sind vielmehr die Befragten, die den zentralen Beitrag zur Strukturierung des Gesprächs leisten.

Formen informeller Interviews unterscheiden sich insbesondere durch das Ausmaß der Beteiligung und des aktiven Beitrags des/der Forschers/in am Gespräch. Während sich beim rezeptiven Interview der/die InterviewerIn als SprecherIn weitgehend zurücknimmt und zuhört, hat er/sie beim ero-epischen Gespräch eine aktive Rolle inne und bringt seine/ihre eigene Geschichte und Meinung ins Gespräch mit ein. Das Konzept des ero-epischen Gesprächs geht davon aus, dass man seine Rolle als FeldforscherIn[1] im Feld bereits definiert und explizit gemacht hat, weshalb diese im Rahmen des Gesprächs thematisiert werden kann, aber nicht zum Thema werden muss. Das rezeptive Interview kann hingegen auch verdeckt eingesetzt werden.


Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.1.1.2.1


5.1.2.2.2.1 Das rezeptive Interview

Das rezeptive Interview (nach Kleining 1988) zeichnet sich, wie der Name bereits impliziert, dadurch aus, dass die interviewende Person vornehmlich als ZuhörerIn auftritt und sich als FragestellerIn vollkommen zurück nimmt. Somit kann es in seiner einseitigen Kommunikationsbeziehung als eine Extremform der qualitativen Befragung betrachtet werden, da es durch seine Befragtenzentriertheit neben den Antwortmöglichkeiten sogar die Themenwahl den befragten Personen überlässt und somit vollkommen von deren Lebenswelt determiniert ist.

Voraussetzung für diese Form des einseitigen Gesprächs ist ein lockeres und nicht autoritäres Klima zwischen ForscherIn und befragter Person, da ohne diese eine asymmetrische Kommunikation, in der "der/die Interviewte" einfach erzählt und der/die InterviewerIn nur zuhört, unwahrscheinlich ist.

Der Intervieweinstieg kann von der Auskunftsperson selbst übernommen werden, in dem sie von sich aus ein Gespräch beginnt oder aber die/der ForscherIn leitet durch eine sehr allgemeine, aber gleichzeitig gegenstandsorientierte Frage ein Gespräch ein, das sich in Folge in ein rezeptives Interview transformiert. Für beides gilt, dass sich die ForscherInnen zurücknehmen, verbal möglichst wenig eingreifen und den Erzählfluss durch aktives Zuhören (eine positiv bestärkende Mimik und Gestik) stimulieren. Vor allem sollte der Eindruck vermieden werden, dass die befragte Person „ausgehorcht“ (Lamnek 2005: 379) wird.

In seiner an Alltagskommunikation orientierter Form eignet sich das rezeptive Interview besonders für schwer zugängliche und tabuisierte Untersuchungsgegenstände und besitzt exploratives Potential.

Im Unterschied zu den meisten anderen Interviewtechniken werden die Personen im rezeptiven Interview nicht über Inhalt, Gegenstand und Form der Befragung aufgeklärt, was laut Kleining den Vorteil bringt, dass die Natürlichkeit des sozialen Feldes nicht verändert wird und somit die sonst gegebene Reaktivität und den Einfluss des/der Befragenden minimal gehalten werden können. Insofern wird es auch im Rahmen verdeckter Forschung [1] eingesetzt, die besondere ethische Probleme aufwirft.

Literatur:

Lamnek, Siegfried (2005) Qualitative Sozialforschung. Beltz PVU: Weinheim, Basel. S. 373-382.


Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.1.1.4


5.1.2.2.2.2 Das ero-epische Gespräch

Der Begriff des ero-epischen Gesprächs (nach Girtler) setzt sich aus den zwei altgriechischen Wörtern Erotema (Frage) bzw. erotemai (fragen, befragen, nachforschen) und Epos (Erzählung, Nachricht, Kunde, aber auch Götterspruch) zusammen.

Grundlegend für diese Art des Forschungsgesprächs ist, dass sich sowohl der/die Befragte als auch der/die ForscherIn öffnen und ins Gespräch einbringen. Dadurch, dass der/die ForscherIn auch von sich erzählt (z.B. über die Arbeitsweise, das Forschungsinteresse oder von eigenen Erlebnissen das Thema betreffend) wird einerseits eine lockere, vertraute und persönliche Gesprächsebene geschaffen und gleichzeitig der/die GesprächspartnerIn angeregt, von sich selbst zu erzählen. Die Fragen ergeben sich aus der Situation und werden nie im Vorhinein festgelegt. Zudem bringt der/die Fragende das Gegenüber nie in Zugzwang und unter Antwortdruck (wie es bei anderen Interviewarten wie z.B. dem narrativen Interview[1] der Fall ist), die Personen sollen von selbst zu erzählen beginnen, wobei sich der/die ForscherIn von dem/der GesprächspartnerIn leiten lässt. Problematisch ist, dass laut Girtler auch die Anwendung von Suggestivfragen erlaubt ist, was zu tendenziösen Forschungsergebnissen führen kann. Girtler hingegen betrachtet Suggestivfragen als oftmals sehr aufschlussreich, da sie zu weiteren bisher noch nicht gegebenen Informationen ermuntern können ("Suggestivfragen bzw. ähnliche das Gespräch diktierende Fragen sind auch dann zu empfehlen, wenn der Interviewer durch eine bewusst falsche Unterstellung den Interviewten zu weiteren Informationen anregen will." [Girtler 2001: 160]). Bedeutend ist jedoch, den/die Befragte/n als gleichwertige/n GesprächspartnerIn und ExpertenIn des Feldes anzusehen.

Literatur:

Girtler, Roland (2001) Methoden der Feldforschung. Böhlau: Wien, S. 147-168.


Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.1.2.2.3.3


5.1.2.2.3 Formen formeller Interviews

Im Gegensatz zur Unstrukturierteheit und dem zufälligen Zustandekommen der informellen Gespräche zeichnen sich formelle Interviews durch eine bewusste Planung aus. Diese beginnt mit der Vereinbarung eines Interviewtermins bzw. der gemeinsamen Definition einer Interviewsituation. Sowohl InterviewerIn wie Interviewte/r sind sich also darüber im Klaren, dass es sich um ein Interview, das heißt eine Befragungssituation handelt, die sich von üblichen alltagsweltlichen Kommunikationsformen unterscheidet. Die Gestaltung dieser Befragungssituationen kann deutliche Unterschiede aufweisen, in Bezug auf

  • die Strukturierung [1] des Interviews,
  • die Anzahl der interviewten Personen[2],
  • die eingesetzten Medien und die Form der Befragung[3],
  • den Stil der Kommunikation[4],
  • die Frageformen[5],
  • und die Zielsetzungen[6].


Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.1.2.1.1
[2] Siehe Kapitel 5.1.2.1.2
[3] Siehe Kapitel 5.1.2.1.3
[4] Siehe Kapitel 5.1.2.1.4
[5] Siehe Kapitel 5.1.2.1.5
[6] Siehe Kapitel 5.1.2.1.6


5.1.2.2.3.1 Das ExpertInneninterview

Bei ExpertInneninterviews handelt es sich im Normalfall um Leitfaden gestützte, offene Interviews, das heißt, man versucht im Vorfeld eine Vorstrukturierung zentraler Fragestellungen und Themen vorzunehmen, um gegenüber den ExpertenInnen auch als kompetente/r GesprächspartnerIn auftreten zu können. Der Leitfaden wird in der Regel flexibel und nicht als standardisiertes Frageschema eingesetzt. Als InterviewerIn ist man offen für neue Themen und Inhalte, die durch den/die Interviewte/n eingebracht werden.

Die Unterscheidung zwischen ExpertInnen und Laien ist nicht immer eindeutig und einfach zu treffen, im Normalfall geht man davon aus, dass ExpertInnen über eine besondere Expertise und damit verbundenes Sonderwissen verfügen, welches oft an bestimmte sozial institutionalisierte Rollen (Berufe, DorfvorsteherIn, HeilerInnen etc.) gebunden ist. Zudem wird der/die ExpertIn nicht als Einzelfall, sondern als RepräsentantIn einer Gruppe bestimmter ExpertInnen betrachtet.

Eine kritische Auseinandersetzung mit dem ExpertInneninterview als eigenständige Interviewform findet sich unter http://www.qualitative-research.net/index.php/fqs/article/view/476


5.1.2.2.3.2 Das problemzentrierte Interview

Im Gegensatz zum narrativen Interview[1], bei dem methodologisch streng induktiv vorgegangen wird (d.h. eine anfängliche konzeptuelle Festlegung durch den/die ForscherIn vermieden wird), zeichnet sich das problemzentrierte Interview durch einen Mittelweg aus. Das problemzentrierte Interview kombiniert induktives[2] und deduktives[3] Vorgehen, indem die ForscherInnen zwar mit einem theoretisch wissenschaftlichen Vorverständnis in die Befragung gehen, die Äußerungen der Befragten jedoch von grundlegender Bedeutung für die weitere Modifikation der Konzepte sind. Die ForscherInnen bleiben offen für die Bedeutungsstrukturierung des Problembereichs/der sozialen Lebenswelt durch die befragte Person und teilen ihr theoretisches Konzept im Interview nicht mit, da es nur vorläufig ist und die Interviewten nicht suggestiv beeinflussen soll.

Nach der einleitenden Eingrenzung des Problembereiches regen die InterviewerInnen durch ein Erzählbeispiel oder eine offene Frage die narrative Phase des Interviews an. Zentral für die ForscherInnen ist es, die Erzählsequenzen und Darstellungen der Befragten nachzuvollziehen und zu verstehen. Dies können sie auf drei verschiedene Arten tun:

  • In Form einer Zurückspiegelung teilen die InterviewerInnen in eigenen Worten eine Interpretation der Ausführungen mit und bieten so den Befragten die Möglichkeit, die Interpretationen der ForscherInnen zu korrigieren und zu modifizieren
  • die ForscherInnen können aber auch mittels Verständnisfragen Widersprüche oder ausweichende Aussagen thematisieren, oder aber
  • die Befragten direkt mit den aufgetretenen Ungereimtheiten konfrontieren.
Abschließend kann der/die InterviewerIn mittels Ad-hoc-Fragen von den Befragten bisher noch nicht angesprochene Themenbereiche behandeln. Hierfür kann ein im Vorhinein festgelegter Leitfaden als Gedächtnisstütze und Orientierungsrahmen fungieren.

Am Beginn des problemzentrierten Interviews kann den zu befragenden Personen auch ein standardisierter Kurzfragebogen vorgelegt werden, um eine erste inhaltliche Auseinandersetzung mit den in der Befragung geplanten Problembereichen anzuregen und um den Einstieg in das Gespräch zu vereinfachen.

Literatur:

Lamnek, Siegfried (2005) Qualitative Sozialforschung. Beltz PVU: Weinheim, Basel, S. 363-368.

Witzel, Andreas (2000) Das problemzentrierte Interview. In: Forum: Qualitative Sozialforschung 1(1).
http://www.qualitative-research.net/index.php/fqs/article/view/1132


Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.1.2.2.3.3
[2] Siehe Kapitel 2.1
[3] Siehe Kapitel 2.2



5.1.2.2.3.3 Das narrative Interview

Im narrativen Interview wird von den Befragten eine Erzählung erwartet, in welcher einerseits die Orientierungsmuster ihres Handelns deutlich werden und zugleich rückblickend Interpretationen dieses Handelns erzeugt werden.

In vertrauter kollegial freundschaftlicher Atmosphäre und mit einem weichen bis neutralen[1] Interviewstil wird versucht, biographische Erzählungen der Befragten anzuregen, wobei der Detaillierungsgrad der Ausführungen vollkommen den interviewten Personen überlassen bleibt. Im Idealfall beginnen die ForscherInnen die Datenerhebung ohne ein im Vorhinein festgelegtes wissenschaftliches Konzept und entwickeln dieses induktiv[2] aus den Äußerungen der Befragten.

Nach einer Erklärungs- und Einleitungsphase, in der die Interviewten über Erwartungen der ForscherInnen in punkto Erzählrahmen, wichtige Dimensionen und Aspekte in der Geschichte aufgeklärt werden, soll eine möglichst offen formulierte Einstiegsfrage die befragten Personen zum zwanglosen Erzählen bewegen und ihnen genügend Raum für ihre Beschreibungen und Begründungen geben. Die Erzählphase kann durchaus von Pausen und Schweigen durchdrungen sein, den InterviewerInnen kommt die Rolle der aufmerksamen Zuhörenden zu, die versuchen den Erzählfluss durch Aufmerksamkeit bezeugende Äußerungen („hm, hm“) oder Gesten (Kopfnicken) zu unterstützen. Die Erzählphase gilt erst dann als beendet, wenn der/die Befragte selbst darauf hinweist. Falls erforderlich, können in einer Nachfragephase noch unklar gebliebene Fragen oder Widersprüchlichkeiten der Erzählung klargestellt werden und abschließend in einer Bilanzierungsphase direkt die Motivation und Intention der interviewten Personen angesprochen werden und der Sinn der Erzählung mit den Personen gemeinsam beleuchtet und diskutiert werden.

Literatur:

Lamnek, Siegfried (2005) Qualitative Sozialforschung. Beltz PVU: Weinheim, Basel S. 357-361.

Zu den Narrativen Methoden im Allgemeinen, ihren theoretischen Perspektiven, methodischen Verfahren, der Oral history und zur Performanz von Narrationen siehe:

Atkinson, Paul und Sara Delamont (Hg.) (2005) Narrative methods. SAGE: London.


Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.1.2.1.4
[2] Siehe Kapitel 2.1


5.1.2.2.4 Das ethnographische Interview

Das ethnographische Interview ist an die Feldforschungssituation angepasst und gibt methodische Anweisungen, wie freundliche Unterhaltungen und sich ergebende Gespräche im Feld zu Interviews gestaltet werden können. Ausgehend von einer informellen Gesprächssituation versucht man sowohl einen expliziten Zweck des Gespräches einzuführen, wie die GesprächspartnerInnen über das Ziel des Projektes zu informieren. Dazu gehören auch Informationen warum man welche Informationen aufzeichnet und wie man das Interview führt. Man macht im Zuge eines solchen Gesprächs auch die eigene Rolle als ForscherIn transparent. Im Gegensatz zu einer freundlichen Unterhaltung oder einem rezeptiven Interview[1] übernimmt im ethnographischen Interview allerdings der/die ForscherIn die Strukturierung des Gesprächs und stellt fast alle Fragen.

Ein Ziel des ethnographischen Interviews ist das sich im Zuge eines Gesprächs oft einstellende Gefühl eines (scheinbaren) gegenseitigen Verständnisses, durch den Einsatz von Wiederholungen und verschiedenen Fragearten, zu unterlaufen.

Durch den bewussten Einsatz von Wiederholungen (von Fragen und Aussagen des/der InformantIn), statt deren im normalen Gespräch üblichen Vermeidung. Ziel dieser Wiederholungen ist es, weitere Ausführungen und Explikationen anzuregen. Anstatt sich kurz zu halten, regt der/die EthnographIn die InformantInnen dazu an, möglichst ausführlich und detailreich zu erzählen. Die Interpretation des Gesagten wird somit nicht zu einem anderen Zeitpunkt und wie manche Interpretationsstrategien vorschlagen, von anderen Personen vorgenommen. Vielmehr wird diese in Auseinandersetzung mit den InformantInnen im Zuge des ethnographischen Interviews von diesen selbst vorgenommen.

Spradley unterscheidet drei zentrale Arten von Fragen:

  • deskriptive Fragen
  • strukturelle Fragen und
  • Kontrastfragen.

Bei den deskriptiven Fragen ist es notwendig zumindest einen Bereich zu kennen, in dem der/die InformantIn routinemäßige Handlungen ausführt und sich diese beschreiben zu lassen.

Ziel von strukturellen Fragen ist es herauszufinden, wie der/die InformantIn sein/ihr Wissen in bestimmten kulturellen Bereichen (domains) organisiert.

Bei den Kontrastfragen geht es darum herauszufinden, was der/die InformantIn mit den verschiedenen Begrifflichkeiten meint, die er/sie in seiner/ihrer Sprache verwendet und wie sich diese von einander unterscheiden.

Literatur:

Spradley J. P. (1979) The ethnographic interview. Holt, Rinehart & Winston:New York.

Flick, Uwe (2002) Qualitative Sozialforschung. Eine Einführung. Rowohlt: Reinbeck bei Hamburg.


Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.1.2.2.2.1


5.1.2.3 Formen der Transkription von qualitativen Interviews

Um qualitative Interviews analysieren zu können ist es notwendig, eine schriftliche Transkription der Interviews anzufertigen. Hierfür existieren unterschiedlich genaue Transkriptionssysteme (siehe dazu Dittmar 2004; Kowal u. O´Connell 2003), ohne dass sich ein verbindlicher Standard durchgesetzt hätte. Dies liegt vor allem auch daran, dass unterschiedliche textanalytische Verfahren verschiedene Transkriptionsstandards erfordern. Somit ist vor dem Hintergrund der jeweiligen Analysemethode zu entscheiden, welche Form der Transkription gewählt werden sollte. Insgesamt ist ein pragmatisches Vorgehen ratsam und sollte der Genauigkeitsgrad der Transkription (Länge der Pausen, Tonfall, Tonstärke, nonverbale Aspekte der Kommunikation, Interaktion zwischen InterviewerIn und interviewter Person etc.) über das notwendige Maß des Forschungsinteresses und der Analysemethode nicht hinausgehen. Froschauer & Lueger (2003: 223) führen einige einfache und pragmatische Richtlinien für die Gesprächstranskription an. Dazu gehören:

  • die Zeilennummerierung
  • die Kodierung der GesprächsteilnehmerInnen z.B. für InterviewerInnen I1, I2...; für Befragte B1, B2,...)
  • Pausen (pro Sekunde ein Punkt) = . .. . (oder Zeitangabe)
  • Nichtverbale Äußerungen wie Lachen oder Husten in runder Klammer angeben = (B1 lacht)
  • situationsspezifische Geräusche in spitzer Klammer angeben = >Telefon läutet<
  • Hörersignale bzw. gesprächsgenerierende Beiträge als normalen Text angeben = mhm, äh
  • Auffällige Betonung unterstreichen = etwa so
  • Unverständliches als Punkte in Klammer, wobei jeder Punkt eine Sekunde markiert = (.. .)
  • Vermuteter Wortlaut bei schlechtverständlichen Stellen in Klammer schreiben = (etwa so)
  • sehr gedehnte Sprechweise mit Leerzeichen zwischen den Buchstaben = e t w a s o

Ein weiterer Hinweis dieser AutorInnen, die Interviews möglichst exakt unter Beibehaltung sprachlicher Besonderheiten ohne Annäherung an die Schriftsprache vorzunehmen, macht auf die besondere Situation und Problematik von Transkriptionen innerhalb der Kultur- und Sozialanthropologie aufmerksam. Denn in der Kultur- und Sozialanthropologie "A transcription always raises questions about translation." (Clifford 1990: 58). Sehr oft werden Interviews in einer Sprache durchgeführt, die nicht die Muttersprache des/r InterviewerIn ist und in der zumeist auch die Forschungsergebnisse nicht publiziert werden. Die Fähigkeit, Interviews zu führen und vor allem auch die kulturspezifischen Nuancen von Aussagen der InterviewpartnerInnen zu verstehen, hängt also von der Sprachkompetenz des/der ForscherIn ab. Oft wird insbesondere in der Anfangsphase der Feldforschung auch mit ausgewählten mehrsprachigen InformantInnen und ÜbersetzerInnen gearbeitet. Bei der Transkription stellt sich die Frage, ob die Interviews in der Sprache, in der sie geführt wurden, transkribiert werden, oder ob Übersetzungen angefertigt werden.

Bei ausreichenden Sprachkenntnissen[1], deren Erwerb oft eine zentrale Aufgabe zu Beginn der Feldforschung ist, sollten - insofern es sich um eine Schriftsprache handelt - die Transkriptionen in der Originalsprache vorgenommen werden. Schwieriger gestaltet sich die Transkription von Befragungen und Erzählungen in Sprachen, die keine Schriftsprachen sind. Hier gilt es, in einem ersten Schritt ausfindig zu machen, ob lokale Notationssysteme entwickelt wurden, auf die man zurückgreifen kann oder ob man eine phonetische Transkription[2] der Texte vornimmt, was aber nur im Bereich der linguistischen Anthropologie und ethnolinguistischer Arbeiten absolut notwendig ist.

Mittlerweile stehen auch unterschiedliche Softwareprogramme zur Transkription von Sprachaufnahmen zur Verfügung. Eine hilfreiche Freeware zur Segmentierung und Transkription von aufgenommenen Interviews ist z.B. der Transcriber[3].

Literatur:

Dittmar, Norbert (2004) Transkription. Ein Leitfaden mit Aufgaben für Studenten, Forscher und Laien. VS Verlag für Sozialwissenschaften: Wiesbaden.


Verweise:
[1] Siehe Kapitel 5.2.2.1.1.5
[2] http://www.langsci.ucl.ac.uk/ipa/
[3] http://trans.sourceforge.net/en/presentation.php

5.1.2.4 Literatur zum Thema Befragungen

Bührmann, Andrea (2005) Review: Jochen Gläser & Grit Laudel (2004). Experteninterviews und qualitative Inhaltsanalyse. In: In: Forum: Qualitative Sozialforschung 6(2). [1]

Bernard, H. Russell (2002) Interviewing: Unstructured and Semistructured In: ders. Research Methods in Anthropology. Altamira Press: Walnut Creek, CA, S. 210-250.

Bogner, Alexander (Hg.) (2005) Das Experteninterview. Verlag für Sozialwissenschaften: Wiesbaden.

Fontana, Andrea und James H. Frey (1994) Interviewing. In: Denzin, Norman K. & Yvonna S. Lincoln (Hg.) Handbook of Qualitative Research. Sage: London, S. 361-376.

Froschauer, Ulrike und Manfred Lueger (2003) Das qualitative Interview. WUV UTB: Wien.

Flick, Uwe (2002) Qualitative Sozialforschung. Eine Einführung. Rowohlt: Reinbeck bei Hamburg.

Girtler, Roland (2001) Methoden der Feldforschung. Böhlau: Wien, S. 147-211; 168.

Lamnek, Siegfried (2005) Qualitatives Interview. In: ders.Qualitative Sozialforschung. Beltz PVU: Weinheim, Basel, S. 329-402.

Levy, Robert I. und Douglas W. Hollan (1998) Person-centered Interviewing and Observation. In: Bernard, H. Russell (Hg.) Handbook of Methods in Cultural Anthropology. Altamira Press: Walnut Creek, CA, S.333-364.

Spradley J. P. (1979) The ethnographic interview. Holt, Rinehart & Winston: New York .

Witzel, Andreas (2000) Das problemzentrierte Interview. In: Forum: Qualitative Sozialforschung 1(1). [2]


Verweise:
[1] http://www.qualitative-research.net/index.php/fqs/article/view/476
[2] http://www.qualitative-research.net/index.php/fqs/article/view/1132

5.1.3 Methodentriangulation

Unter Methodentriangulation versteht man den bewussten Einsatz unterschiedlicher Erhebungsverfahren[1] (Beobachtung[2], Befragung[3], Experiment, etc.) im Rahmen eines Forschungsprojektes, was in der englischsprachigen Literatur auch als mixed methods approach bezeichnet wird.

Literatur:

Flick, Uwe (2004) Triangulation. Eine Einführung. Verlag für Sozialwissenschaft: Opladen.


Verweise:
[1] Siehe Kapitel 1.1 der Lernunterlage Grundlagen statistischer Auswertungsverfahren
[2] Siehe Kapitel 5.1.1
[3] Siehe Kapitel 5.1.2


Nächstes Kapitel: 5.2 Ethnographie als Prozess der Datenerhebung


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