Difference between revisions of "Geschichte der Organisations- und Betriebsanthropologie/Stille"

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Vorheriges Kapitel: 2.2 Manchester Shop Floor Studies

2.3 1960 bis 1980: "Es tut sich wenig" im Feld der Organisationsanthropologie

Verfasst von Gerlinde Schein und Gertraud Seiser

Foto: Damon Mill, New England, 2007 (© Muffet, Lizenz: CC BY-NC. Quelle)

KommentatorInnen der Geschichte der Organisationsanthropologie sind sich einig: Zwischen 1960 und 1980 tut sich in diesem Feld wenig. Sie sprechen von einer Zeit des Rückzugs (Schwartzman 1993), von einem Schließungsprozess der Anthropologie gegenüber Unternehmen (Jordan 2003: 14ff) und einer geringen Weiterentwicklung der Organisationsanthropologie (Gamst/Helmers 1991). Wright weist auf die fehlenden Nachfolgeprojekte zu den Manchester Shop Floor Studies[1] in Großbritannien hin (1994: 14). Baba berichtet vom Rückgang der anwendungsorientierten Forschung in den USA (2006: 90ff). Womit hängt dies zusammen?[2]

Doch selbst in dieser Zeit forschten AnthropologInnen über Organisationen - wenn auch in anderer Weise als bislang. Immer mehr AnthropologInnen begannen sich für formale Organisationen und Institutionen und den Einfluss, den sie auf das alltägliche Leben ausübten, zu interessieren. Ethnographien wurden in den Kontexten von Nationalstaat und Weltsystem[3] analysiert. Die Industrialisierungs- und Modernisierungsprozesse in verschiedenen Ländern waren im Blick. Laura Nader formulierte die Aufgabe der Anthropologie jener Zeit in ihrem Artikel "Up the Anthropologist. Perspectives Gained from Studying Up" (1969) in Form einer rhetorischen Frage:

What if, in reinventing anthropology, anthropologists were to study the colonizers, rather than die colonized, the culture of power rather than the culture of the powerless, the culture of affluence rather than the culture of poverty? (Nader 1969: 289, zitiert nach Schwartzman 1993: 27)

Zurück zur Organisationsanthropologie: In den Jahren 1960 bis 1980 zeigt sie keine einheitliche Ausrichtung. Baba spricht vielmehr von einer Fragmentierung der "Industrial Anthropology" in drei verschiedene Forschungsbereiche:

1)marxistische und neomarxistische Kritik des Industriekapitalismus in und außerhalb der USA,

2) Ethnographien über Berufsgruppen und

3) Forschung über Industrialisierungsprozesse in Ländern der Dritten Welt (Baba 2006: 92ff).

Marietta L. Baba führt drei weitere Autoren an, die in den Jahren 1960 bis 1980 publizierten und für die Organisationsanthropologie relevant sind. Baba ordnet sie jedoch keiner der oben genannten Forschungsfelder zu: Thomas Rohlen, Edward T. Hall und Alvin Wolfe (Baba 2006: 96f).

Thomas Rohlen (1974) legte eine klassische Ethnographie über eine japanische Bank und die dort praktizierten Managementmethoden vor.

Edward T. Hall (1959) entwickelte eine Kulturtheorie, in der er von "Primärinformationssystemen" (primary message systems) ausging, die in der menschlichen Biologie begründet liegen und durch Kommunikation erweitert und vergrößert werden. Halls Theorie wurde vom Feld der internationalen Managementwissenschaften sowie der interkulturellen Kommunikation aufgegriffen.

Alvin Wolfe (1977) hatte im Zuge seiner Forschungen über den Bergbau im Kongo ein komplexes, globales Netzwerk aus reichen Einzelpersonen, Familien, Unternehmen und Staaten entdeckt, die den Rohstoffabbau kontrollierten. Nationalstaatliche Interessen spielten in diesem Netzwerk keine Rolle. Wolfe entwickelte aus dieser Beobachtung die Idee supranationaler Netzwerke. Er argumentierte, dass Nationalstaaten nicht die höchste bzw. komplexeste Form soziokultureller Integration seien und stellte sich damit gegen namhafte AnthropologInnen wie z.B. Marshall Sahlins. Aus heutiger Sicht erscheinen Wolfes Beobachtungen, wie Baba schreibt, "still [..] fresh and relevant to theorizing on globalization processes" (Baba 2006: 97).

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 2.2
[2] Siehe Kapitel 2.1.5
[3] Siehe Kapitel 5.3.4.1 der Lernunterlage Theoretische Grundlagen der Ökonomischen Anthropologie


Inhalt


2.3.1 (neo)marxistische Kritik des Industriekapitalimus

Ein Fokus der anthropologischen Auseinandersetzung mit Unternehmen und Arbeit ab 1960 lag darauf, die Auswirkungen des Industriekapitalismus kritisch zu untersuchen. AnthropologInnen nutzten dazu marxistische[1] und neomarxistische[2] Theorie (Baba 2006; vgl. auch Jiménez 2007: xxvi; Schwartzman 1993; Wright 1994). Sie interessierten sich

  • für die Strategien des Managements, die Produktivität der ArbeiterInnen zu steigern. Automation und neue Technologien führten zur Beschleunigung der Produktionsprozesse, zum "de- skilling" der ArbeiterInnen und dazu, dass die ArbeiterInnen die Kontrolle über den Arbeitsprozess verloren, die sie vor dem 2. Weltkrieg in vielen Produktionsbetrieben noch hatten.
  • für die Strategien der ArbeiterInnen, mit diesen Arbeitsbedingungen umzugehen. Gemeinsam mit qualitativen SoziologInnen zeigten AnthropologInnen außerdem "the informal working knowledge that people use on the job, both to get the job done and to protect their jobs, skills, and earnings" (Baba 2006: 93).
  • für Frauen als Arbeiterinnen und Gender im Arbeitskontext,
  • für die Zusammenhänge zwischen Unternehmen, dem Nationalstaat und der globalen Ökonomie (Baba 2006: 92ff).

Helen Schwartzman (1993) und June Nash (1998) ordnen diese kritischen Studien des Industriekapitalismus den Anfängen der "Anthropology of Work Studies" zu. Die hier beschriebenen Forschungsinteressen wurden auch nach 1980 weiter verfolgt[3].

Beispiele:

  • die Forschungen von Louise Lamphere über die Textilindustrie in New England, USA (Lamphere 1979, 1986, 1987)
  • die Studie von June Nash über ein multinationales Unternehmen der Petrochemie (Nash 1979)

Websites:

Louise Lamphere[4]

June Nash[5]

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 2.3 der Lernunterlage Theoretische Grundlagen der Ökonomischen Anthropologie
[2] Siehe Kapitel 5 der Lernunterlage Theoretische Grundlagen der Ökonomischen Anthropologie
[3] Siehe Kapitel 2.5.1
[4] https://en.wikipedia.org/wiki/Louise_Lamphere
[5] https://en.wikipedia.org/wiki/June_Nash

2.3.2 Ethnographien über Berufsgruppen: "industrial ethnology" - "occupational ethnographies"

Ein Zweig der "Anthropology of Work" widmet sich der ethnographischen Untersuchung von Berufsgruppen. Frederick C. Gamst und Herbert Applebaum sind zentrale VertreterInnen dieser "industrial ethnology" (Gamst 1977) bzw. der "occupational ethnographies" (Schwartzman 1993).

Analog zum klassischen Kulturkonzept der Anthropologie werden sog. Arbeitskulturen ("work cultures") beschrieben. Herbert Applebaum bspw. befasst sich in seinem Buch "Royal Blue" (1981) mit der Kultur von Bauarbeitern. Er versteht unter Arbeitskultur "a system of knowledge, techniques, attitudes, and behaviors appropriate to the performance of work and social interactions in a particular work setting" (Baba 2006: 94).

Frederick C. Gamst (1977) fordert, die Ethnographien sollen den "natives’ point of view" vorstellen und von der emischen Perspektive ausgehend die weitere soziale Realität untersuchen. In seiner Studie "The Hoghead" (1980) beschreibt Gamst die us-amerikanische Eisenbahn daher zunächst aus der Sicht eines Lokomotivführers. Er beginnt mit einer Beschreibung dessen Tagesarbeit und beleuchtet letztlich die Entwicklung der Bahngesellschaften in den USA. Gamst sieht sich in der Tradition von W. Lloyd Warner stehend und ordnet sich einer "Neo Human Relations Perspektive" zu (Schwartzman 1993: 31; Gamst/Helmers 1991: 36).

John Van Maanen, ein ethnographisch arbeitender Soziologe, forschte über die Polizei (1973; 1977; 1978; 1982). 1979 schrieb er in einem Artikel über sein Forschungsinteresse: Sein Ziel sei es, "to uncover and explicate the ways in which people in particular work settings come to understand, account for, take action, and otherwise manage their day-to- day situation" (Van Maanen 1979: 540, zitiert nach Schwartzman 1993: 31).

Weitere Beispiele sind die Ethnographien von William Pilcher über Hafenarbeiter (1972) und von James P. Spradley und Brenda Mann über Kellnerinnen (1975). Wieder andere Studien befassten sich mit HolzfällerInnen, StahlarbeiterInnen, MinenarbeiterInnen, KellnerInnen, StripteasetänzerInnen, BuchhalterInnen, MedizinstudentInnen, SozialarbeiterInnen, usw. - d.h. nicht nur mit HandwerkerInnen und (Fach-) ArbeiterInnen, sondern auch mit Angestellten und akademischen Berufen (Baba 2006: 95).

Die bisher genannten AutorInnen und Studien beziehen sich alle auf die USA. Britische Beiträge finden sich in dem von Sandra Wallman herausgegebenen Sammelband "The Social Anthropology of Work" (1979). Darin schreiben u.a. Gerald Mars über HafenarbeiterInnen in Israel, Leonard Mars über HafenarbeiterInnen in Kanada, Morris Fred über SozialarbeiterInnen in Schweden und Mary Searle-Chatterjee über StraßenkehrerInnen in Benares.


2.3.3 Verwendete und weiterführende Literatur

Applebaum, Herbert A.

1981 Royal Blue: The Culture of Construction Workers. New York: Holt, Rinehart and Winston

Baba, Marietta L.

2006 Anthropology and Business. In: James Birx (ed.), Encyclopedia of Anthropology; pp. 83- 117. Thousand Oaks: Sage

Fred, Morris

1979 How Sweden Works. A Case from the Bureaucracy. In: Sandra Wallman (ed.), The Social Anthropology of Work; pp. 159- 176. London: Academic Press. (A.S.A. Monograph 19)

Gamst, Frederick C.

1977 An Integrating View on the Underlying Premises of an Industrial Ethnology in the United States and Canada. Anthropological Quarterly 50: 1-8.
1980 The Hoghead. An Industrial Ethnology of the Locomotive Engineer. New York: Holt, Rinehart, and Winston

Gamst, Frederick C., and Sabine Helmers

1991 Die kulturelle Perspektive und die Arbeit: Ein forschungsgeschichtliches Panorama der nordamerikanischen Industrieethnologie. Zeitschrift für Ethnologie 116: 25-41.

Hall, Edward T.

1959 The Silent Language. New York: Doubleday

Holzberg, Carol S., and Maureen J. Giovannini

1981 Anthropology and Industry. Reappraisal and New Directions. Annual Review of Anthropology 10: 317-60.

Jiménez, Alberto Corsín

2007 The Anthropology of Organisations. Ashgate

Jordan, Ann T.

2003 Business Anthropology. Prospect Heights: Waveland Press

Lamphere, Louise

1979 Fighting the Piece Rate System. New Dimensions of an Old Struggle in the Apparal Industry. In: Andrew Zimbalist (ed.), Case Studies in the Labor Process; pp. 257- 276. New York: Monthly Review Press
1986 From Working Daughters to Working Mothers. Production and Reproduction in an Industrial Community. American Ethnologist 13: 118-130.
1987 From Working Daughters to Working Mothers. Immigrant Women in a New England Industrial Community. Ithaca, NY: Cornell University Press

Mars, Gerald

1979a The Stigma Cycle. Values and Politics in a Dockland Union. In: Sandra Wallman (ed.), The Social Anthropology of Work; pp. 135- 158. London: Academic Press. (A.S.A. Monograph 19)

Mars, Leonard

1979b Learning the Ropes. The Politics of Dockland. In: Sandra Wallman (ed.), The Social Anthropology of Work; pp. 43- 68. London: Academic Press. (A.S.A. Monograph 19)

Nader, Laura

1972 Up the Anthropologist. Perspectives Gained from Studying Up. In: Dell Hymes (ed.), Reinventing Anthropology. New York: Random House

Nash, June

1979 The Anthropology of the Multinational Corporation. In: G. Huizer and B. Mannheim (eds.), The Politics of Anthropology. From Colonialism and Sexism to a View From Below; pp. 421- 446. Paris: Mouton
1998 Twenty Years of the Anthropology of Work. Changes in the State of the World and the State of the Arts. Anthropology of Work Review 18: 1-6.

Rohlen, Thomas

1974 For Harmony and Strength. Berkeley: University of California Press

Schwartzman, Helen B.

1993 Ethnography in Organizations. London: Sage

Searle-Chatterjee, Mary

1979 The Polluted Identity of Work. A Study of Benares Sweepers. In: Sandra Wallman (ed.), The Social Anthropology of Work; pp. 269- 286. London: Academic Press. (A.S.A. Monograph 19)

Spradley, James P., and Brenda Mann

1975 The Cocktail Waitress. Woman’s Work in a Man’s World. New York: Wiley

Van Maanen, John

1978 On Watching the Watchers. In: Peter K. Manning and John Van Maanen (eds.), Policing. A View From the Street; pp. 309-250. Santa Monica, CA: Goodyear Press
1979 The Fact of Fiction in Organizational Ethnography. Administrative Science Quarterly 24: 539- 550.

Van Maanen, John, and Stephen R. Barley

1982 Occupational Communities, TR-10 (Technical Report). Cambridge, MA: Sloan School of Management, MIT

Wallman, Sandra (ed.)

1979 The Social Anthropology of Work. London: Academic Press

Wright, Susan

1994 Culture in Anthropology and Organizational Studies. In: Susan Wright (ed.), Anthropology of Organizations; pp. 1-31. London and New York: Routledge

Wolfe, Alvin

1977 The Supranational Organization of Production. An Evolutionary Perspective. Current Anthropology 19: 615-635.

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