Geschichte der Organisations- und Betriebsanthropologie/80er
Vorheriges Kapitel: 2.3 1960 bis 1980: "Es tut sich wenig" im Feld der Organisationsanthropologie
2.4 Anthropologie und Organisationsforschung in den 1980er Jahren
Verfasst von Gerlinde Schein und Gertraud Seiser
Die Beziehung zwischen der Kultur- und Sozialanthropologie einerseits und der Organisationsforschung andererseits verstärkte sich in den 1980er Jahren aus zwei Richtungen. Dies gilt insbesondere für die Organisationsforschung in den USA, die im Unterschied zu Europa ein eigenständiges Feld darstellt. In Europa ist die Organisationsforschung stärker an andere Disziplinen gekoppelt, wie bspw. die Organisationspsychologie, Organisationssoziologie und eben auch die Organisationsanthropologie.
1. OrganisationsforscherInnen griffen anthropologische Konzepte, Theorien und Methoden auf und setzten sie in ihren Studien um.
- Es ist insbesondere der Kultur-Begriff, der von der Organisationsforschung ab den späten 1970er Jahren übernommen wird und zwar in mehrfacher Form: als nationale Kultur und als Organisationskultur bzw. Corporate Culture (mehr dazu[1]).
- Besonders häufig bezogen sich OrganisationsforscherInnen auf Clifford Geertz[2]. Auch die Ideen von z.B. Florence Kluckhohn (Kluckhohn/Strodtbeck 1961) und der Culture and Personality School (Ruth Benedict, Margret Mead) wurden aufgenommen (z.B. von Edgar Schein und Geert Hofstede[3]). (Die populäre Literatur zum Thema Organisationskultur[4] bezog sich insbesondere auf die funktionalistische Tradition der Anthropologie: Radcliffe-Brown und Malinowski.)
- Neben "Kultur" fanden auch andere anthropologische Konzepte wie "Ritual", "Mythen" und "Tabu" Eingang in die Organisationsforschung. Für einen kritischen Kommentar vgl. Helmers (1993).
- Innerhalb der Organisationsforschung wurde zu der Zeit der generelle sozialwissenschaftliche Trend zu qualitativen Forschungsmethoden, und damit auch zu ethnographischer Forschung, spürbar (vgl. Bate 1997; Czarniawska-Joerges 1992; Martin et al. 2006; Van Maanen 1998; 2001)
2. Sozial- und KulturanthropologInnen meldeten sich dazu kritisch zu Wort. Sie begannen auch selbst wieder stärker in und über Organisationen zu forschen (mehr dazu[5]).
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 2.4.1
[2] Siehe Kapitel 2.4.2
[3] Siehe Kapitel 3.3.1
[4] Siehe Kapitel 3.2
[5] Siehe Kapitel 2.5
Inhalt
2.4.1 Migration des Kulturbegriffs in die Organisations- und Managementforschung
In den 1970/1980er-Jahren "wanderte" mit dem Kulturbegriff einer der zentralen Begriffe der Kultur- und Sozialanthropologie in die Organisations- und Managementforschung. Innerhalb kürzester Zeit wurde in vier verschiedenen Zusammenhängen von Kultur gesprochen (Sackmann et al. 1997; Wright 1994; vgl. Gamst/Helmers 1991; Schwartzman 1993).
- Die kulturvergleichende Managementforschung[1] begann sich damit zu beschäftigen, wie global agierende Unternehmen geführt werden sollten, deren Produktions- oder Vertriebsstätten in jeweils unterschiedlichen lokalen Nationalkulturen angesiedelt waren. Die Forschung zielte darauf ab, Kulturvergleiche durchzuführen. Die Ergebnisse sollten anwendungsorientiert das Management globaler Unternehmen unterstützen.
- Eine zweiter Themenbereich bezog sich auf interkulturelle Aspekte des Managements und die Zusammenarbeit ethnischer Gruppen in Organisationen.
In diesen ersten beiden Zusammenhängen wird Kultur als "organisations-externe Variable" verstanden: "... culture is viewed as residing in geographic, linguistic or ethnic groups" (Schwartzman 1993: 34). In den nächsten zwei Zusammenhängen wird Kultur innerhalb von Organisationen verortet (mehr[2] zum Thema "Kultur als externe/interne Variable"; Smircich 1983).
- Organisationskultur bzw. Unternehmenskultur wurde auf zwei grundsätzlich verschiedene Weisen verwendet. Sie stand zum Einen für die informellen Konzepte, Einstellungen und Werte einer Organisation. Forschung über Organisationskultur schloss so auf gewisse Weise an die Forschungen über den informellen Bereich von Organisationen an.
- Zum Anderen bezeichnete "Corporate Culture" jene Richtlinien, Werte und Verhaltensweisen, die vom Management eines Unternehmens formuliert und in Form eines Leitbildes[3] o.ä. installiert. Susan Wright (1994) unterscheidet zwei Ausprägungen dieser formalen Corporate Culture: In manchen Fällen standardisieren Unternehmen mit Verweis auf "ihre Corporate Culture" Arbeitsabläufe und Verhaltensweisen. In anderen Fällen propagiert die Unternehmensführung eine "flexible Unternehmenskultur", flache Hierarchien und die Delegation von Verantwortung "nach unten" (zu dieser Form der Politisierung von Kultur im Management vgl. auch Wright 1998).
... zur Weiterentwicklung der interdisziplinären Organisationskulturforschung (hier[4]) und zur anthropologischen Organisationskulturforschung (hier[5])
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 3.3
[2] Siehe Kapitel 3.1.1
[3] Siehe Kapitel 5.4.1
[4] Siehe Kapitel 3.1
[5] Siehe Kapitel 2.5.2
2.4.2 Clifford Geertz und die Organisationskulturforschung
Der Kulturanthropologe Clifford Geertz (1926-2006) gilt als wesentlicher Vertreter der symbolischen Anthropologie und als Begründer der interpretativen Anthropologie (Silverman 2005: 320f; Petermann 2004: 998ff). Sein wohl am meisten zitierte Aufsatz ist "Thick Description: Towards an Interpretative Theory of Culture", der 1973 in der Aufsatzsammlung "The Interpretation of Cultures" erschien.
In der Organisations- und Betriebsanthropologie wird Geertz selten aufgegriffen. Anders in der interdisziplinären Organisationskulturforschung. Dort finden sich häufig Verweise auf Geertz, inbesondere auf unten angeführtes Zitat. Sehr häufig wird Geertz in dieser Literatur jedoch stark vereinfacht rezipiert (Götz 2000: 59; Wright 1994: 23).
Ich meine mit Max Weber, daß der Mensch ein Wesen ist, das in selbstgesponnene Bedeutungsgewebe verstrickt ist, wobei ich Kultur als dieses Gewebe ansehe. Ihre Untersuchung ist daher keine experimentelle Wissenschaft, die nach Gesetzen sucht, sondern eine interpretierende, die nach Bedeutungen sucht. Mir geht es um Erläuterungen, um das Deuten gesellschaftlicher Ausdrucksformen, die zunächst rätselhaft scheinen. (Geertz 1987: 9)
Der Beitrag von Clifford Geertz zur Anthropologie geht über seinen semiotischen Kulturbegriff (mehr[1]) hinaus. Von Geertz gingen auch wesentliche Impulse zur Reflexion der ethnologischen Tätigkeit bzw. der Rolle des Forschers/der Forscherin im Forschungsprozess aus, die die Anthropologie im Kontext der Entkolonialisierung ab den 1960er Jahren beschäftigte (Ethikdebatte[2]). Im Zuge dieser Diskussion waren auch zunehmend Vorbehalte gegenüber den naturwissenschaftlich orientierten erkenntnistheoretischen Prämissen und den ethnographischen Forschungsmethoden laut geworden.
Dichte Beschreibung
Die Vorstellung, eine Ethnologin/ein Ethnologe könne die Realität abbilden, ist laut Geertz Illusion. Er oder sie kann nur Vermutungen über die Bedeutungszusammenhänge anstellen, nach denen die Menschen ihr Leben ordnen. Geertz hält Interpretationen dennoch keineswegs für beliebig. Er stellt hohe Ansprüche an die Ethnographie und plädiert für teilnehmende Beobachtung mit möglichst genauer Erfassung des Beobachteten, das dann mit seinen Bedeutungszusammenhängen in Beziehung gesetzt werden soll ("dichte Beschreibung").
Dies bedeutet jedoch nicht, dass man einzelne Verhaltensweisen direkt und kausal kulturellen Teilelementen zuordnen kann. Kultur muss vielmehr als ein Rahmen verstanden werden, als Kontext, der diesen Verhaltensweisen Sinn verleiht. Das Aufdecken dieser Kulturmuster oder Vorstellungsstrukturen habe im Gespräch mit den Beforschten zu erfolgen.
Um diese Vorstellungsstrukturen aufzudecken, bedarf es nach Geertz der Entwicklung eines analytischen Begriffsystems, das es ermöglicht, die typischen Eigenschaften einer Kultur im Vergleich zu einer anderen herauszuarbeiten. Bedeutungszusammenhänge zu erkennen erfolgt einerseits über Verstehen, andererseits über das “in- wissenschaftliche Begriffe-Fassen”.
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 2.4.2.1
[2] Siehe Kapitel 2.1.5
2.4.2.1 Zum Kulturbegriff von Clifford Geertz
“Kultur” ist für Clifford Geertz ein zentrales Konzept, für das er verschiedene Metaphern gefunden hat. Hier eine Auswahl dieser Metaphern:
- Kultur als Text, als Gebilde von Symbolen, aus denen Bedeutungszusammenhänge geschlossen werden können: Was der Ethnograph/die Ethnographin macht, ist der Versuch, diesen Text, der fremdartig, unvollständig und voller Widersprüche ist, zu lesen. Der Ethnologe ist also ein Interpret, dessen Ziel es ist, Sinnzusammenhänge aus Symbolen, d.h. Handlungs- und Verhaltensweisen deutend zu verstehen (Diel-Khalil/Götz 1999: 59).
- Kultur als ein von Menschen selbst gesponnenes Gewebe von Bedeutungen: Es geht um das Deuten und Verstehen, nicht um eine Suche nach universellen Regeln und Gesetzen. Das System von Bedeutungen ist nicht widerspruchsfrei und nicht harmonisch. Dominante Elemente einer Kultur und solche, die diesen entgegenwirken: beide sind Aspekte eines Systems. Die Bedeutungen stehen zueinander in Beziehung und sind Teil eines komplexen Gefüges.
- Kultur als öffentliches Dokument: Kultur ist extrinsisch, also außerhalb der einzelnen Individuen lokalisiert. Sie spielt sich im Handeln, im konkreten Ablauf des sozialen Diskurses zwischen Menschen ab (im Unterschied zur kognitiven Anthropologie, für die sich Kultur im Kopf abspielt). Kultur ist eine Informationsquelle wie ein Bauplan. Kulturmuster liefern Programme, die das Verhalten der Menschen steuern - aber nicht eindeutig, sondern wie ein grober Rahmen, der verschiedene Handlungsmöglichkeiten bietet.
- Es gibt für Geertz nichts “typisch Menschliches” unabhängig von Kultur, und zwar nicht von Kultur allgemein, sondern in ihrer ganz konkreten spezifischen Form. D.h., wenn eine Ethnographin forscht, dann tritt sie den Beforschten nicht als objektive Wissenschafterin gegenüber, sondern mit dem gesamten Gepäck ihrer Geschichte und Kulturmuster. Die Ethnographin kann nur versuchen, durch den Wust der eigenen Deutungsmuster hindurch andere deutend zu verstehen.
2.4.3 Verwendete und weiterführende Literatur
Bate, S. Paul
1997 Whatever Happened to Organizational Anthropology? A Review of the Field of Organizational Ethnography and Anthropological Studies. Human Relations 50: 1147- 1175.
Czarniawska-Joerges, Barbara
1992 Preface. Towards an Anthropology of Complex Organizations. International Studies of Management and Organization 19: 3-15.
Diel-Khalil, Helga, and Klaus Götz
1999 Ethnologie und Organisationsentwicklung. München: Rainer Hampp Verlag. [2. Auflage]
Gamst, Frederick C., and Sabine Helmers
1991 Die kulturelle Perspektive und die Arbeit. Ein forschungsgeschichtliches Panorama der nordamerikanischen Industrieethnologie. Zeitschrift für Ethnologie 116: 25-41.
Geertz, Clifford
1973 The Interpretation of Cultures. Basic Books
1987 Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt am Main: Suhrkamp
Götz, Irene
2000 Unternehmensethnographie. Bemerkungen zur Debatte um Kultur(alisierung) und zur kulturwissenschaftlichen Betrachtungsperspektive. In: Irene Götz and Andreas Wittel (eds.), Arbeitskulturen im Umbruch. Zur Ethnographie von Arbeit und Organisation; pp. 55- 74. Münster; New York; München; Berlin: Waxmann
Gregory, Kathleen
1983 Native-View Paradigms. Multiple Cultures and Culture Conflicts in Organizations. Administrative Science Quarterly 28: 359-376.
Helmers, Sabine
1993 Beiträge der Ethnologie zur Unternehmenskulturforschung. In: Meinolf Dierkes et al. (eds.), Unternehmenskultur in Theorie und Praxis. Konzepte aus Ökonomie, Psychologie und Ethnologie; pp. 147- 187. Frankfurt am Main: Campus
Kluckhohn, F. R., and F. L. Strodtbeck
1961 Variations in Value Orientation. New York
Martin, Joanne, Peter J. Frost, and Olivia A. O’Neill
2006 Organizational Culture. Beyond Struggles for Intellectual Dominance. In: Stewart L. Clegg and Christine Hardy (eds.), The Sage Handbook of Organization Studies. London [u.a.]: Sage
Petermann, Werner
2004 Die Geschichte der Ethnologie. Wuppertal: Peter Hammer Verlag
Pettigrew, Andrew M.
1979 On Studying Organizational Culture. Administrative Science Quarterly 24: 570-581.
Sachs, Patricia
1989 Anthropology Approaches to Organizational Culture. Anthropology of Work Review 10.
Sackmann, Sonja A. et al.
1997 Single and Multiple Cultures in International Cross-Cultural Management Research. In: Sonja A. Sackmann (ed.), Cultural Complexity in Organizations. Inherent Contrasts and Contradictions.; pp. 1-13: Sage
Schein, Edgar H.
1992 Organizational Culture and Leadership. San Francisco: Jossey-Bass Publishers. [2. Auflage]
Schwartzman, Helen B.
1993 Ethnography in Organizations. London: Sage
Silverman, Sydel
2005 The United States. In: Fredrik Barth, Andre Gingrich, Robert Parkin and Sydel Silverman (eds.), One Discipline, Four Ways: British, German, French, and American Anthropology; pp. 255- 347. Chicago, London: University of Chicago Press
Smircich, Linda
1983 Concepts of Culture and Organizational Analysis. Administrative Science Quarterly 28: 339- 358.
Van Maanen, John
1988 Tales of the Field. On Writing Ethnography. Chicago: University of Chicago Press
2001 Afterword: Natives ‚R’ Us. Some Notes on the Ethnography of Organizations. In: David N. Gellner and Eric Hirsch (eds.), Inside Organizations. Anthropologists at Work. Oxford; New York: Berg
Wright, Susan
1994 Culture in Anthropology and Organizational Studies. In: Susan Wright (ed.), Anthropology of Organizations; pp. 1-31. London and New York: Routledge
1998 The Politicization of Culture. Anthropology Today 14: 7- 15.
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