Die Herausbildung der kultur- und sozialanthropologischen Forschungsmethoden/Malinowski

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Vorheriges Kapitel: 1.3 Methoden der Kultur- und Sozialanthropologie vor der systematischen Feldforschung

1.4 Bronislaw Malinowski: Das klassische Modell der Feldforschung

Bronislaw Malinowski[1] beschreibt in seinem Werk „Argonauten des westlichen Pazifik“ (1922), ausgehend von seinen Feldforschungen auf den Trobriand Islands nord-westlich von Papua- Neuginea, den Kula- Handel[2], der verschiedene Inseln der Region verbindet. In der Einführung dieses Werkes stellt er methodische Überlegungen an, welche die Grundlage der ethnographischen Feldforschung im Sinne einer lang andauernden, teilnehmenden Beobachtung geworden sind.

"Bevor ich zu dem Bericht über das Kula komme, möchte ich die Methoden beschreiben, die bei der Sammlung des ethnographischen Materials verwendet wurden. In jedem Zweig der Wissenschaft sollten die Forschungsresultate redlich und absolut unvoreingenommen dargelegt werden.

Niemandem würde es einfallen, einen Experimentalbeitrag auf den Gebieten der Physik oder Chemie zu schreiben, ohne detailliert über alle Anordnungen der Versuche zu berichten: ohne eine exakte Beschreibung zu geben aller benutzten Apparate, der Art und Weise, in der die Beobachtungen zustande kamen; ihrer Anzahl; der Zeit, die auf sie verwendet wurde; und des Grads der Näherung an den exakten Wert bei jeder Messung.

In weniger exakten Wissenschaften wie der Biologie oder der Geologie läßt sich diese Genauigkeit nicht erreichen, aber dennoch wird sich jeder Wissenschaftler große Mühe geben, dem Leser alle Bedingungen, unter denen das Experiment oder die Beobachtungen zustande kamen, mitzuteilen. In der Ethnographie, für welche die unvoreingenommene Mitteilung solcher Daten vielleicht noch bedeutsamer ist, wurde dies in der Vergangenheit bedauerlicherweise nicht immer mit genügender Sorgfalt betrieben, und viele Autoren benutzen nicht den Scheinwerfer methodischer Redlichkeit, weil sie sich zwar mit ihren Ergebnissen auskennen, uns aber diese aus völliger Finsternis heraus vorlegen.

Mit Leichtigkeit ließen sich hoch geachtete, wissenschaftlich ausgewiesene Arbeiten anführen, in denen uns pauschale Verallgemeinerungen vorgelegt werden, aus denen wir aber nicht im geringsten erfahren, aufgrund welcher tatsächlichen Beobachtungen die Verfasser ihre Schlüsse gezogen haben. Kein besonderes Kapitel, kein Abschnitt ist dem Versuch gewidmet, die Bedingungen zu beschreiben, unter denen Beobachtungen gemacht und Informationen gesammelt wurden. Ich bin der Meinung, daß nur solche ethnographischen Quellen von zweifelsfreiem wissenschaftlichen Wert sind, in denen klar die Grenze gezogen werden kann zwischen den Ergebnissen direkter Beobachtung, Berichten und Interpretationen der Eingeborenen auf der einen Seite und den Schlußfolgerungen des Autors, die sich auf dessen gesunden Menschenverstand und sein psychologisches Einfühlungsvermögen stützen, auf der anderen Seite." (Malinowski 1979: 24f)

Malinowski betont hier die Wichtigkeit der ethnographischen Methode, die Notwendigkeit diese explizit zu machen und wendet sich gegen damals übliche spekulative und pauschale Verallgemeinerungen aus denen nicht nachvollziehbar ist, wie die Daten auf denen sie beruhen, erhoben wurden und zustande gekommen sind. Gleichzeitig führt er eine Unterscheidung zwischen unterschiedlichen Arten von Daten ein: Beobachtungsdaten auf der einen Seite und lokale Interpretationen des Handelns und der Welt auf der anderen. Er betont die Notwendigkeit zwischen diesen Arten von Daten und den Schlussfolgerungen und Interpretationen des Autors, die auf Basis dieser Daten entwickelt werden, unterscheiden zu können.

Weiters beschäftigt er sich mit den Problemen des Feldeinstiegs und er entwickelt methodische Grundlagen der klassischen Feldforschung[3].


Verweise:
[1] http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/qualitative/qualitative-57.html
[2] http://www.lai.at/web/oeku/cp/theogrundlagen/theogrundlagen-110.html
[3] [&&&] Siehe Kapitel 1.4.2.1


1.4.1 Probleme des Feldeinstiegs

In weiterer Folge geht Malinowski dazu über, seinen Feldeinstieg zu beschreiben und die Probleme zu benennen, die dabei auftauchen.

"Versetzen Sie sich in die Situation, allein an einem tropischen Strand, umgeben von allen Ausrüstungsgegenständen, nahe bei einem Eingeborenendorf abgesetzt zu sein, während die Barkasse oder das Beiboot, das Sie brachte, dem Blick entschwindet. Wenn Sie Ihre Wohnung in der Niederlassung eines benachbarten weißen Mannes genommen haben, eines Händlers oder Missionars, bleibt Ihnen nichts weiter zu tun, als unverzüglich mit Ihrer ethnographischen Arbeit zu beginnen. Stellen Sie sich des weiteren vor, daß Sie Anfänger sind ohne vorhergehende Erfahrung, ohne irgendeine Anleitung und jemanden, der Ihnen hilft; denn besagter Weißer ist zur Zeit abwesend oder sonst wie nicht in der Lage oder unwillig, seine Zeit an Sie zu vergeuden." (Malinowski 1979: 26)

Das Beginnen mit der ethnographischen Arbeit besteht bei Malinowski darin, Versuche zu unternehmen, eine Beziehung mit dem Feld aufzubauen. Das Ergebnis, das sich dabei einstellt, beschreibt er mit einem "Gefühl der Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung" und der Unmöglichkeit, in "eine wirkliche Berührung mit den Eingeborenen zu kommen oder mich mit irgendwelchem Material zu versorgen. Ich erlebte Perioden der Mutlosigkeit, während derer ich mich im Romanlesen vergrub, ähnlich einem Mann, der im Anfall tropischer Depression und Langeweile zu trinken beginnt." (Malinowski 1979: 26f)

Als zentrale Probleme beschreibt er, dass die Weißen vor Ort keine Hilfe für die Feldforschung darstellen, seine mangelnde Kenntnis der lokalen Sprache, die daraus resultierende Unmöglichkeit zu lokalen Interpretationen aus der Sicht der Eingeborenen zu kommen.


1.4.1.1 Feldforschung und die Rolle der nicht-indigenen Bevölkerung vor Ort

Malinowski charakterisiert die nicht-indigene Bevölkerung vor Ort als wenig hilfreich für die Forschung, denn diese werden "weder die Art verstehen, in der Sie als Ethnograph sich den Eingeborenen nähern müssen, noch (...) sich dafür interessieren." (Malinowski 1979: 26)

Darüber hinaus haben sie, obwohl sie Jahrelang in Interaktion mit den Eingeborenen leben, ein äußerst unvollkommenes Verständnis ihrer Kultur:

"Informationen, die ich von in der Gegend wohnenden Weißen erhielt, waren, so wertvoll sie für sich genommen sein mochten, in bezug auf meine Arbeit noch entmutigender als alles andere. Hier gab es Menschen, die jahrelang am Ort wohnten, denen es ständig möglich war, die Eingeborenen zu beobachten, sich mit ihnen zu unterhalten, und die dennoch kaum etwas von ihnen wirklich zuverlässig wußten. Wie konnte ich daher hoffen, sie in einigen Monaten oder in einem Jahr einzuholen, sie zu überholen? Zudem entsprach die Art und Weise, in der meine weißen Informanten über die Eingeborenen sprachen und ihre Meinungen äußerten, natürlich der von Laien; sie waren es nicht gewohnt, ihre Gedanken auch nur annähernd zusammenhängend und präzise zu äußern.

Zum größten Teil hegten sie, was nicht verwundern kann, einseitige und vorurteilsvolle Meinungen, die beim durchschnittlichen Mann der Praxis unvermeidlich sind, sei er Verwalter, Missionar oder Händler, und die dennoch auf den, der sich um eine objektive, wissenschaftliche Sicht der Dinge bemüht, stark abstoßend wirken müssen. Die Angewohnheit, mit selbstzufriedener Frivolität zu behandeln, was dem Ethnographen wirklich ernst ist, die Mißachtung dessen, was ihm ein wissenschaftlicher Schatz ist, d. h. der Kultur der Eingeborenen, ihrer charakteristischen geistigen Eigenarten und ihrer Unabhängigkeit, dies alles, uns wohl bekannt aus den unbedeutenden Amateurarbeiten, fand ich in der Geisteshaltung der Mehrheit der weißen Bewohner." (Malinowski 1979: 27f)

Malinowski leitet daraus die methodische Notwendigkeit[1] ab, sich im Zuge der Feldforschung "aus dem Kontakt mit den Weißen heraus zu lösen".


Verweise:
[1] [&&&] Siehe Kapitel 1.4.2


1.4.1.2 Feldforschung und mangelnde Sprachkenntnisse

Ein weiteres Problem der Feldforschung waren Malinowskis mangelnde Sprachkenntnisse:

"Zur gegebenen Zeit kam ich wieder und versammelte schon bald einen Zuhörerkreis um mich. Einige Komplimente in Pidgin-Englisch auf beiden Seiten, etwas Tabak, der von Hand zu Hand ging, schufen eine Atmosphäre gegenseitiger Freundlichkeit. Sodann versuchte ich, an die Arbeit zu gehen. Um auf einem Gebiet zu beginnen, das kein Mißtrauen erweckt, fing ich an, zuerst Technologie zu »lernen«. Einige Eingeborene wurden ermuntert, den einen oder anderen Gegenstand herzustellen. Es war einfach, dem zuzuschauen und sich die Namen einiger Werkzeuge anzueignen, ja sogar einige technische Ausdrücke für die Verrichtungen zu erhalten, aber damit war die Sache zu Ende. Man bedenke, daß das Pidgin-Englisch ein sehr unvollkommenes Instrument ist, um die eigenen Vorstellungen auszudrücken; zudem beschleicht einen, fehlt noch die Übung, Fragen zu formulieren und Antworten zu verstehen, das ungute Gefühl, daß die freie Kommunikation mit den Eingeborenen nie zu erreichen sein wird. Ich war nicht in der Lage, mit ihnen eine detailliertere oder explizitere Unterhaltung zu führen als die zu Beginn." (Malinowski 1979: 27)

Daraus leitet sich die Notwendigkeit ab, Feldforschung in der üblichen lokalen Sprache durchzuführen.


1.4.1.3 Konkrete Beobachtungen als totes Material: Das Fehlen lokaler Interpretationen

Angesichts der mangelnden Sprachkenntnisse beginnt Malinowski konkrete, das heißt objektiv beobachtbare Daten zu sammeln. Er stellt aber selbst fest, dass diese Daten ohne die lokalen Interpretationen "totes Material" bleiben würden.

"Mir war klar, daß hiergegen am besten das Sammeln konkreter Daten helfen würde, und ich nahm deshalb eine Zählung der Dorfbevölkerung vor, erstellte Stammbäume, zeichnete Pläne und stellte Verwandtschaftsbezeichnungen zusammen. Aber all dies blieb totes Material, welches das Verständnis für die Mentalität und das Verhalten der Eingeborenen nicht weiter vertiefte, da ich weder eine gute Interpretation dieser Punkte durch die Eingeborenen erhalten konnte, noch hinter das kam, was man Stammesleben nennen könnte. Beim Versuch, ihre Vorstellungen über Religion, Magie, ihren Glauben an Zauberei und Geister in Erfahrung zu bringen, ergaben sich lediglich einige oberflächliche Kenntnisse der Folklore, verstümmelt durch den Zwang, sie im Pidgin- Englisch auszudrücken." (Malinowski 1979: 27)

Methodisch leitet sich daraus die Notwendigkeit ab, nicht nur zu beobachten, sondern teilnehmende Beobachtung[1] zu betreiben und mit den Personen vor Ort zu interagieren und in ihren Alltag einzutauchen. Darüber hinaus ist es notwendig systematisch Erklärungen und Erzählungen zu dokumentieren[2], welche die lokalen Interpretationen in Bezug auf Religion, Magie etc. zum Ausdruck bringen.


Verweise:
[1] [&&&] Siehe Kapitel 1.4.3.2
[2] [&&&] Siehe Kapitel 1.4.3.3


1.4.2 Das Geheimnis der Feldforschung: methodische Grundlagen

Erst im Zuge der Feldforschung entdeckt Malinowski "das Geheimnis effektiver Arbeit im Feld" (Malinowski 1979: 28). Er fasst die methodischen Prinzipien in drei Bereichen zusammen:

  • den wissenschaftlichen Zielen und Kriterien
  • den Arbeitsbedingungen vor Ort
  • und den Methoden des Sammelns, Aufbereitens und Sicherns der Daten[1]

"Zuerst muß der Forscher natürlich wirklich wissenschaftliche Ziele haben und die Kriterien und Wertmaßstäbe moderner Ethnographie kennen. Zweitens sollte er sich gute Arbeitsbedingungen schaffen, das heißt hauptsächlich, er sollte ohne andere Weiße direkt unter den Eingeborenen leben. Schließlich muß er eine Reihe besonderer Methoden des Sammelns, Aufbereitens und Sicherns seines Belegmaterials anwenden." (Malinowski 1979: 28)


Verweise:
[1] [&&&] Siehe Kapitel 1.4.3


1.4.2.1 Feldforschung als dauerhafte In-Beziehungsetzung zum Feld

Daraus leitet er dann methodische Grundlagen für optimale Arbeitsbedingungen vor Ort ab. Als wichtigstes Prinzip nennt er:

"daß man sich aus dem Umgang mit anderen Weißen herauslöst und in möglichst engem Kontakt mit den Eingeborenen bleibt. Dies ist nur dann wirklich zu erreichen, wenn man direkt in ihren Dörfern zeltet (Abb. 1 und 2). Es ist sehr schön, auf dem Grundstück eines Weißen einen Versorgungsstützpunkt für die Vorräte zu besitzen und zu wissen, daß es ein Refugium gibt für Zeiten der Krankheit und des Überdrusses an den Eingeborenen. Es muß jedoch weit genug entfernt liegen, damit sich kein ständiges Milieu entwickeln kann, in dem man lebt und aus dem man nur zu bestimmten Stunden auftaucht, »um sich mit dem Dorf zu beschäftigen«.

Es sollte nicht einmal so nahe liegen, daß man es jederzeit zur Erholung aufsuchen könnte. Da der Eingeborene nicht der natürliche Gesellschafter eines weißen Mannes ist, sehnt man sich selbstverständlich, nach dem man mehrere Stunden mit ihm gearbeitet hat, ihm bei der Gartenarbeit zusah oder sich von ihm Einzelheiten der Folklore erzählen ließ oder seine Bräuche besprach, nach Umgang mit der eigenen Art. Wenn man sichaber in einem weitab gelegenen Dorf alleine aufhält, macht man eben einen einsamen Spaziergang von vielleicht einer Stunde und sucht dann bei der Rückkehr ganz selbstverständlich die Gesellschaft des Eingeborenen, diesmal aber als Linderung der Einsamkeit, so wie man jede andere Gemeinschaft wünschte." (Malinowski 1979: 28f)


1.4.2.1.1 Die Konstruktion des Feldes

Malinowski betont die Notwendigkeit seinen Feldforschungsort weitab von westlichen Einflüssen und der Zivilisation zu positionieren um "wirklich" in die indigene Welt eintauchen zu können. Hier wird implizit eine bestimmte Form – wie man heute sagen würde – der „Konstruktion des Feldes“ vorgenommen. Es macht darauf aufmerksam, dass das zu untersuchende Feld nicht einfach gegeben ist. Vielmehr beruht es auf strategischen Entscheidungen, abhängig vom Forschungsinteressen, wo man die Grenzen des zu untersuchenden Feldes setzt. Das heißt, man muss entscheiden, welche Orte, Phänomene und Kontakte man in die eigene Untersuchung mit einschließt und welche man ausspart. Dies verweist oft auch auf implizite und oft unbewusste Annahmen des Forschers, welche Phänomene „relevant und authentisch“ sind.

Das Paradigma welches Malinowski hier mit seinen methodischen Anweisungen etabliert, ist die Untersuchung möglichst traditioneller und von westlichen Einflüssen unberührter indigener Lebenswelten. Diese waren lange Zeit Standard klassischer Ethnographien nicht nur im britischen Funktionalismus. Diese produzierten eine eigene Selektivität der Darstellung, da in vielen Ethnographien all jene Aspekte, die nicht diesem Ideal der schwer erreichbaren und von der Zivilisation unberührten "Wilden" entsprachen ausgeklammert und ignoriert wurden. Dies wurde zum Gegenstand berechtigter Kritik und führte z.B. zur Entwicklung der Extended Case Method[1]. Kulturen werden heute nicht mehr als abgeschlossene Einheiten konzipiert. Vor dem Hintergrund von translokalen Vernetzungen und Einflüssen im Zuge der Globalisierung wurde insbesondere das Verhältnis von Lokalem und Globalem zum Gegenstand ethnographischer Forschung und führte unter anderem zur Entwicklung der multi-sited ethnography[2].


Verweise:
[1] [&&&] Siehe Kapitel 5.1
[2] [&&&] Siehe Kapitel 5.5


1.4.2.2 Lernen vom Feld

Durch die teilnehmende Auseinandersetzung mit dem Feld erschließen sich dem Feldforscher auch die lokalen Normen, die Regeln und moralischen Prinzipien des Zusammenlebens.

"Ich verletzte auch immer wieder die guten Sitten, worauf mich die Eingeborenen, die mit mir vertraut waren, schnell hinwiesen. Ich mußte lernen, wie ich mich zu verhalten hatte, und erwarb mir bis zu einem gewissen Grad ein »Gefühl« für die guten und schlechten Sitten der Eingeborenen." (Malinowski 1979: 30)


1.4.2.3 Aktive Methoden

"Aber der Ethnograph muß nicht nur sein Netz am rechten Ort auswerfen und auf das warten, was sich darin fängt. Er muß aktiver Jäger sein, das Wild in sein Netz hineintreiben und ihm in seine unzugänglichen Verstecke folgen. Dies führt uns zu den aktiveren Methoden, ethnographische Zeugnisse zu erlangen." (Malinowski 1979: 30)

Feldforschung beschränkt sich nicht nur auf passive teilnehmende Beobachtung im Sinne eines "deep hanging round". Es kommen vielmehr, im Sinne einer Methodentriangulation[1], unterschiedliche methodische Verfahren, wie z.B. Interviews und gezielte Befragungen zum Einsatz. Ethnographie beruht somit auf dem flexiblen Einsatz verschiedener methodischer Strategien.


Verweise:
[1] http://www.univie.ac.at/ksa/elearning/cp/qualitative/qualitative-50.html


1.4.2.4 Induktion - Deduktion

Malinowski betont die Notwendigkeit einer theoretisch informierten und reflektierten Vorgangsweise, die aber Grundlage einer offenen und induktiven Strategie der Theoriegenerierung sein sollte. Deduktive Strategien, die darauf abzielen, vorgefasste Theorien zu beweisen, lehnt er als schädlich für die wissenschaftliche Erkenntnis ab.

"Verfügt man über eine gute theoretische Ausbildung und die Kenntnis der neuesten Resultate, so bedeutet das nicht, daß man sich mit »vorgefaßten Ideen« belasten würde. Wenn jemand eine Expedition durchführt und dabei entschlossen ist, seine Hypothesen zu beweisen, wenn er unfähig ist, beständig seine Ansichten zu ändern und sie großzügig fallen zu lassen unter dem Druck der Zeugnisse und Belege, dann ist seine Arbeit offenkundig wertlos. Aber je mehr Probleme er mit sich ins Feld nimmt, je mehr er sich bemüht, seine Theorien den Fakten entsprechend umzuformen und die Fakten in ihrer Auswirkung auf die Theorie zu sehen, desto besser ist er auf seine Arbeit vorbereitet. Vorgefaßte Ideen sind in jedem wissenschaftlichen Werk schädlich, während ein Gespür dafür, wo Probleme liegen, zur Grundausrüstung eines wissenschaftlichen Denkers gehört, und diese Probleme zeigen sich dem Beobachter zuerst durch seine theoretischen Studien" (Malinowski 1979: 31)


1.4.2.5 Trennung von Empirie und Theorie

Malinowski geht von einer strikten Trennung der objektiven Dokumentation empirischer Daten auf der einen Seite und deren theoretischer Verallgemeinerung auf der anderen aus. Er betont die Notwendigkeit, die empirischen Daten von den theoretischen Schlüssen sichtbar und nachvollziehbar zu trennen. Dies kommt auch im Zuge des Forschungsablaufs zum Ausdruck, der auf einer Trennung von Datenerhebung und analytischer Theorieentwicklung beruht.

"Der empirisch Forschende stützt sich völlig auf die Anregungen der Theorie. Natürlich kann auch er ein Theoretiker sein und aus sich selbst Anregungen empfangen. Dennoch sind diese beiden Funktionen voneinander getrennt und müssen während der eigentlichen Forschungsarbeit zeitlich und in bezug auf die Arbeitsbedingungen getrennt werden." (Malinowski 1979: 31)

Hier kommt einerseits ein positivistisches Verständnis[1] objektiver Daten und der Datenerhebung zum Ausdruck, andererseits auch eine lineare Konzeption des Forschungsablaufs, die im Gegensatz zu zirkulär iterativen Forschungsabläufen[2] steht, welche Datenerhebung und -analyse systematisch miteinander verbinden.


Verweise:
[1] [&&&] Siehe Kapitel 2.2
[2] [&&&] Siehe Kapitel 4.2


1.4.2.6 Die Suche nach Ordnung und Gesetzen

Das primäre Ziel der Feldforschung ist, nach Malinowski, allgemeine Gesetz- und Regelmäßigkeiten des sozialen Zusammenlebens und der kulturellen Phänomene zu identifizieren. Auch hier kommt eine positivistische Grundorientierung[1] zum Ausdruck, deren primäres Erkenntnisinteresse auf Erklärungen in Form allgemeiner Gesetzmäßigkeiten abstellt.

"Wie es immer geschieht, wenn wissenschaftliches Interesse sich einem Feld zuwendet, das bisher nur von der Neugierde der Amateure durchforscht wurde, und dort zu arbeiten beginnt, hat auch die Ethnologie Gesetz und Ordnung ins scheinbar Chaotische und Unberechenbare eingeführt. Sie hat uns die aufsehenerregende, ungezähmte, unerklärliche Welt der »Wilden« in eine Anzahl gut geordneter Gemeinschaften verwandelt, die von Gesetzen, Verhaltensweisen und einem Denken beherrscht werden, die alle zusammenhängenden Prinzipien folgen (...).

Von der berühmten Antwort eines repräsentativen Fachmanns auf die Frage, was Sitten und Gebräuche der Eingeborenen seien: »Sitten keine, Gebräuche tierisch« führt ein langer Weg bis zur Position des modernen Ethnographen! Letzterer belegt mit seinen Tabellen der Verwandtschaftsbezeichnungen, Genealogien, Landkarten, Plänen und Diagrammen die Existenz einer ausgedehnten und großen Organisation; er zeigt den Aufbau des Stammes, des Clans und der Familie und entwirft uns ein Bild der Eingeborenen, wie sie einem strikten Verhaltens- und Sittenkodex unterworfen sind, demgegenüber das Leben am Hofe von Versailles oder Escorial frei und leicht gewesen sein muß.

Daher ist es das erste und grundlegende Ideal der ethnographischen Arbeit im Feld, den sozialen Aufbau klar und fest zu umreißen und die Gesetze und Regelmäßigkeiten aller kulturellen Phänomene aus dem Irrelevanten auszusondern. Das starre Skelett des Stammeslebens muß zuerst ermittelt werden." (Malinowski 1979: 32f; eigene Hervorhebungen)


Verweise:
[1] [&&&] Siehe Kapitel 2.2


1.4.3 Drei zentrale methodische Verfahren

Zu den Methoden des Sammelns von Daten zählt Malinowski drei konkrete Verfahren:

  • die statistische Dokumentation
  • die Beschreibung der Imponderabilien des wirklichen Lebens auf Basis Teilnehmender Beobachtung
  • die Sammlung charakteristischer Erzählungen und typischer Äußerungen (Corpus Inscriptionum) als Dokument der Mentalität des Eingeborenen

"Neben dem festen Umriß des Stammesaufbaus und den sich herauskristallisierenden Einzelheiten der Kultur, die das Skelett bilden, neben den Daten des Alltagslebens und dem normalen Verhalten, die sozusagen sein Fleisch und Blut ausmachen, muß noch der Geist aufgezeichnet werden - die Anschauungen, Meinungen und Äußerungen des Eingeborenen." (Malinowski 1979: 46)

Als Endziel der ethnographischen Forschung sieht Malinowski die Darstellung des Standpunktes der Eingeborenen, ihren Bezug zum Leben zu verstehen und sich ihre Sicht der Welt vor Augen zu führen.


1.4.3.1 Das Skelett: die Dokumentation objektiver Daten

Malinowski geht davon aus, dass "das starre Skelett des Stammeslebens (...) zuerst ermittelt werden (muss). Dieses Ideal bringt an erster Stelle die Verpflichtung mit sich, eine vollständige Übersicht über die Phänomene zu geben und nicht das Sensationelle und Einzigartige, schon gar nicht das Lustige und Wunderliche herauszulesen." (Malinowski 1979: 33)

Es geht hierbei um eine systematische und umfassende Dokumentation einzelner Fälle (cases, siehe auch Extended Case Method[1]), die dazu dienen, Ordnungsprinzipien, Regeln und Regelmäßigkeiten die diesen Fällen zugrunde liegen, zu identifizieren. Es geht also um das Sammeln von konkreten Belegmaterialien aus dem generalisierende Schlüsse gezogen werden können.

Diese Materialien sollten in Form objektiver, tabellarischer und umfassender Zusammenfassungen konkreter Erscheinungen veranschaulichen. Malinowski nennt dies auch die „Methode statistischer Dokumentation durch konkrete Zeugnisse“ (Malinowski 1979: 41). Es ist dieser feste Umriss des Stammesaufbaus und die sich herauskristallisierenden Einzelheiten der Kultur, die das Skelett (der Untersuchung) bilden (Malinowski 1979: 46).


Verweise:
[1] [&&&] Siehe Kapitel 5.1


1.4.3.2 Das Fleisch: Teilnahme und Deskription des sozialen Lebens

Dem "vorzüglichen Skelett der Stammesorganisation", welches in Form der Dokumentation objektiver Daten vorliegt, fehlt allerdings "Fleisch und Blut", da diese Daten noch nicht die Wirklichkeit des menschlichen Lebens veranschaulichen. Malinowski stellt auch fest, dass die Regeln und Ordnungen, die es zu erkennen gilt, in ihrer "Exaktheit dem wirklichen Leben fremd (sind), das niemals starr irgendwelche Regeln befolgt". (Malinowski 1979: 41) Diese Regeln müssen durch teilnehmende Beobachtung ergänzt werden, welche veranschaulicht, wie etwas durchgeführt wird aber auch ermöglicht, immer auftretende Ausnahmen darzustellen.

Dabei handelt es sich um Phänomene, die nicht immer durch Befragung oder Dokumentenanalyse in Erfahrung zu bringen sind, sondern "in ihrer vollen Wirklichkeit beobachtet werden müssen". (Malinowski 1979: 42f) Diese nennt Malinowski die Imponderabilien des wirklichen Lebens und typischen Verhaltens, welche dokumentiert und aufgezeichnet werden müssen. Dabei ist es notwendig "daß dies nicht in Form der Registrierung oberflächlicher Einzelheiten geschieht, wie ungeübte Beobachter dies gewöhnlich anstellen, sondern in dem Bemühen, in die Geisteshaltung einzudringen, die in ihnen ihren Ausdruck findet." (Malinowski 1979: 43)

Malinowski betont die Notwendigkeit, dauerhaft und für lange Zeit in das zu untersuchende Feld einzutauchen und in diesem natürlichen Umfeld zu leben, ohne es zu verlassen. Dieses dauerhafte in Beziehung setzen mit dem Feld erlaubt das alltägliche Leben der Untersuchten in all seinen Aspekten direkt zu beobachten und macht den Feldforscher im Laufe der Zeit zu einem Teil des Feldes. Dies hat den Vorteil, dass er dort nicht mehr als fremd wahrgenommen wird und der Forscher „nicht länger ein Störfaktor im Stammesleben“ ist (Malinowski 1979: 29). Das heißt, im Gegensatz zu anderen Methoden zeichnet sich die Feldforschung dadurch aus, dass man nach Möglichkeit versucht soziales Verhalten und kulturelle Phänomene im natürlichen Umfeld direkt zu beobachten ohne künstliche Situationen zu kreieren, wie dies etwa bei Interviews oder Experimenten der Fall ist. Man etabliert eine alltägliche Beziehungsebene zu den Beforschten und nimmt an deren Leben teil.

Ziel ist es, diese Beobachtungen festzuhalten, wobei man die Tatsachen für sich selbst sprechen lassen sollte und diese in Form eines ethnographischen Tagebuches, während des ganzen Verlaufs der Feldforschung dokumentieren sollte. Dabei sollten z.B. bei der Beobachtung von Zeremonien oder Stammesereignissen, nicht nur Vorkommnisse und Einzelheiten dokumentiert werden, die nach Tradition und Brauch den wesentlichen Ablauf der Handlung bilden, sondern auch die Handlungen der Akteure und Zuschauer sorgfältig und präzise festgehalten werden.


1.4.3.3 Der Geist: die Sammlung charakteristischer Erzählungen

Neben dem Skelett in Form objektiver Daten und dem Fleisch, der Beobachtung konkreten Verhaltens, sollte auch noch der Geist, d.h. "die Anschauungen, Meinungen und Äußerungen der Eingeborenen" (Malinowski 1979: 46) festgehalten werden. Malinowski geht es dabei um die stereotypen, das heißt kollektiven Formen des Denkens und Fühlens und nicht um die individuellen Emotionen. Seiner Auffassung nach steht "die Prägung des Geisteszustandes durch die gesellschaftlichen Institutionen" im Zentrum des Interesses.

So kann ein Mann, der in einer polyandrischen Gesellschaft, lebt, nicht dieselben Gefühle der Eifersucht empfinden, wie ein strenger Monogynist, obwohl er über die Grundlage zu diesen Gefühlen vielleicht verfügt.“ (Malinowski 1979: 47)

„Das dritte Gebot der Feldarbeit lautet also: Ermittle die typischen Formen des Denkens und Fühlens, die den Institutionen und der Kultur einer bestimmten Gemeinschaft zugehören und formulieren die Ergebnisse in der überzeugendsten Weise.“ (Malinowski 1979: 47)

Um die Anschauungen, Meinungen und Äußerungen der Untersuchten überzeugend zu dokumentieren, ist es notwendig, deren Aussagen wortwörtlich zu zitieren sowie Begriffe aus der Klassifikation der Eingeborenen zu verwenden. Hier stellen sich wieder die Notwendigkeit der Sprachkenntnisse und Probleme der Übersetzung. Malinowski bezeichnet dieses linguistische Material auch als Corpus Inscriptionum, welcher die Grundlage für unterschiedliche Interpretationen ist.


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