Die Herausbildung der kultur- und sozialanthropologischen Forschungsmethoden/Anfangsphase

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Vorheriges Kapitel: 1.2 Nationale Traditionen und unterschiedliche Bezeichnungen der Disziplin

1.3 Methoden der Kultur- und Sozialanthropologie vor der systematischen Feldforschung

Verfasst von Ernst Halbmayer

Im Allgemeinen war die Kultur- und Sozialanthropologie in ihren Anfängen von einer grundlegenden personellen Arbeitsteilung zwischen Datensammlern und Theoretikern geprägt, zwischen jenen, die ins Feld gingen und eigenständig vor Ort Daten erhoben und den so genannten armchair anthropologists, die daheim aus dem gesammelten Material ihre theoretischen Schlüsse zogen.

Die Anthropologen stützten sich am Beginn vor allem auf Berichte und Beschreibungen von Missionaren, Händlern, Reisenden und Verwaltungsbeamten, die ihre Informationen über außereuropäische Kulturen zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert größtenteils unsystematisch sammelten. Aus dem Blickwinkel der Europäer wurden dabei insbesondere "sonderbare Bräuche" der angetroffenen Indigenen festgehalten. In diesen Beschreibungen, die meist auf Basis kurzer Begegnungen mit fremden Kulturen entstanden, wurde oftmals das Exotische und Sonderbare ausführlich dargestellt und die indigenen Kulturen häufig mit der eigenen Kultur der Forscher in einer hierarchisierenden und (ab)wertenden Weise verglichen.

Einen grundlegenden Schritt zur Entwicklung einer systematischen Feldforschung innerhalb der Kultur- und Sozialanthropologie bilden die Expeditionen der Aufklärung, bei denen systematisch wissenschaftliche Daten erhoben wurden (etwa im Zuge der 2. Cook-Reise, den Forschungsreisen von Alexander von Humboldt oder der österreichischen Brasilien-Expedition). Solche Expeditionen leisteten auch einen zentralen Beitrag zur Methodenentwicklung, wie etwa die britische Torres-Straits Expedition.

Inhalt

1.3.1 Fragebögen der Armchair Anthropologists

Eine wichtige Rolle in der systematischen ethnographischen Datenerhebung die sich im Laufe des 19. Jahrhunderts durchsetzt, spielten Fragebögen, die anthropologische Gesellschaften und Experten wissenschaftlichen Forschungsexpeditionen und auch Reisenden und Verwaltungsbeamten mitgaben, damit diese gezielter Daten erheben konnten. Die frühe Anthropologie sah es unter anderem als ihre Aufgabe Informationen über andere Kulturen zu sammeln, bevor diese aussterben. Eine grundlegende Strategie dabei war „ to send out comprehensive lists of queries in the form of questionnaires“ (Urry 1984: 38).

Die bekanntesten Anweisungen zur Erhebung ethnographischen Datenmaterials im 19. Jahrhundert waren die vom Royal Anthropological Institute herausgegebenen Notes and Queries on Anthropology, for the Use of Travellers and Residents in Uncivilized Lands (1. Ausgabe 1874), welche der Verbesserung der wissenschaftlichen Qualität der Berichte von Missionaren, Forschern und Beamten des britischen Königreichs dienen sollten (Barth et al. 2005: 10). In den USA basierte L. H. Morgans Werk Systems of Consanguinity and Affinity of the Human Family auf Erhebungen mit dem von ihm entworfenen Circular in reference to the degree of relationship among different nations (1862) zur Verwandtschaftsterminologie, der vom Smithsonian Institute in Washington herausgegeben wurde.

Durch diese Fragebogenerhebungen von Missionaren, Händlern, Reisenden, Expeditionsteilnehmern und Verwaltungsbeamten entstand reichhaltiges ethnographisches Material und damit auch die Erkenntnis, dass "primitive" Kulturen weit komplexer sind als bis dahin angenommen. Dies führte auch auf theoretischer Ebene dazu, dass man sich von generellen Theorien der Evolution entfernte und das Interesse nun zunehmend auf die spezielle Entwicklung einzelner Kulturen in bestimmten Weltregionen legte.

Zur selben Zeit begannen die Gelehrten zu realisieren, dass die Qualität vieler dieser ethnographischen Beschreibungen, die via Fragebogenerhebungen von Mittelsmännern vor Ort entstanden, unzureichend waren und sie eventuell selbst die Daten erheben sollten.

Trotz der Aufteilung zwischen armchair anthropologists und "Laiensammlern" in den Anfängen der anthropologischen Disziplin, gab es auch Personen, die zu den anthropologischen Experten hinzugezählt werden und selbst Daten erhoben haben. Vor allem in der deutschsprachigen und der amerikanischen Forschungstradition wurden seit den Anfängen eigenständig ethnographische Daten erhoben. So zum Beispiel im deutschsprachigen Raum von Adolf Bastian während seiner Tätigkeit als Schiffsarzt auf Reisen nach Indien, Australien, Afrika, Peru, Mexiko und in die Karibik.

In den USA entwickelte sich die Anthropologie mit einem besonderen Interesse für den Ursprung, die Entwicklung und die Beziehungen der Indigenen Kulturen Amerikas. Die Forschung war schon seit den Anfängen durch den unmittelbaren Kontakt mit den Indigenen und durch eigenständige Datenerhebung geprägt (wie z.B. Lewis Henry Morgans Ethnographie "The League of the Ho-de- no-sau-nee or Iroquois" (1851)). Bei der Sammlung von ethnographischem Material wurden in der amerikanischen Tradition auch indigene Informanten eingesetzt und ein großes Augenmerk auf linguistische Daten (Wortlisten u. Grammatik, Sammlung von Texten) gelegt.

Diese Betonung von Sprache setze sich auch mit der Entstehung der professionellen Anthropologie fort und spiegelt sich in der Arbeit von Franz Boas wieder, der beeinflusst von der deutschsprachigen ethnographischen Tradition die breite Institutionalisierung der Anthropologie in den USA initiierte. Boas strebte nach intensiver Forschung in individuellen Kulturen mit dem Ziel ethnographisches Material zu produzieren, das den Geist der beforschten Völker widerspiegelt. Boas argumentiert „for accounts which showed what `the people ... speak about, what they think and what they do´ recorded by the ethnographer in `their own words´” (Urry 1984: 43). Dies ist nur durch das Sammeln von Artefakten und extensives Festhalten von Texten in der indigenen Sprache möglich. Seiner Meinung nach mussten, bevor große Theorien entwickelt werden können, Rohdaten gesammelt werden, wobei er die von ihm angewandten Methoden der Datenerhebung nie explizit machte. Unter "Methode" verstand Boas hauptsächlich Analyse- und nicht Erhebungs- bzw. Feldmethoden.


1.3.2 Ausgewählte Expeditionen deutschsprachiger Forscher

Für den deutschsprachigen Raum relevante Forschungsreisende sind Johann Reinhold Forster (1729- 1798) und sein Sohn Georg Forster (1754-1794), die an James Cooks 2. Expedition teilnahmen. Aus dieser Entdeckungsreise gingen klare, großteils vorurteilsfreie, reichhaltige Reiseberichte hervor, die Georg Forster als „A voyage around the world“ (1777) publizierte. Die von den Forsters gesammelten ethnographischen Objekte bildeten die Grundlage für verschiedene anthropologische Museen[1] in ganz Kontinentaleuropa (Göttingen, Wien, Florenz). Auch Alexander von Humboldt sammelte während seiner 5-jährigen Reise durch Süd- und Zentralamerika 1799-1804 reichhaltiges Material, das er in einem 30-bändigen Werk verarbeitete. Weitere Forschungsexpeditionen führten ihn auch nach Sibirien und Russland.

Aus österreichischer Sicht relevant ist die von Kaiser Franz I. initiierte Brasilien-Expedition (1817-1835). Auf Grund der Heirat seiner Tochter Leopoldine mit dem im brasilianischen Exil lebenden portugiesischen Prinzen Pedro, später Kaiser von Brasilien, veranlasste er diese Forschungsreise mit dem Ziel, die noch unerforschten Gebiete Brasiliens zu bereisen und Sammlungen für die kaiserlichen Museen und Botanische Gärten anzulegen. Das Forscherteam bestand u.a. aus dem Zoologen Johann Natterer, der während seines 18- jährigen Forschungsaufenthaltes (1817- 1835) unzählige naturkundliche Objekte, aber auch Ethnographica indigener Kulturen Brasiliens sammeln konnte. Ein Großteil der naturkundlichen Objekte befindet sich im Naturhistorischen Museum in Wien. Auch die 1800 Objekte umfassende ethnographische Sammlung Natterer des Völkerkundemuseums in Wien ging aus dieser Forschungsexpedition hervor. Sie ist die weltweit bedeutendste historische Sammlung von ethnographischen Objekten verschiedener indigener Ethnien Brasiliens. Der Großteil der Aufzeichnungen Natterers über die indigenen Kulturen Brasiliens verbrannte während der Revolution 1848. Spix und Martius, die als Vertreter des bayrischen Hofes an der Expedition teilnahmen und von 1817-1820 in Brasilien forschten, wurden zu Begründern der Brasilianischen Anthropologie.

Weiters wichtig vor allem für die Ethnologie Südamerikas waren die frühen Expeditionen von Karl von den Steinen und Theodor Koch-Grünberg.


Verweise in diesem Kapitel:
[1] Siehe Kapitel 1.1.1

1.3.3 Die Torres-Straits Expedition

Foto: Torres-Straits Expedition
1898 initiierte der Zoologe und Meeresbiologe Alfred Cort Haddon, eine Expedition in die Torres Strait, die sich als zentral für die Entwicklung ethnographischer Techniken herausstellte (Urry 1984: 45). Ziel der Expedition war: „to study the anthropology, psychology, and sociology of „savage“ peoples by making careful inquiries in situ“ (Barth et al. 2005: 11).

Bereits 1888 hatte Haddon erste Forschungen auf den Inseln der Torres Straits durchgeführt, bei denen er auch anthropologische Fragebögen[1] einsetzte, um indigene Bräuche zu dokumentieren (die Notes and Queries des Royal Anthropological Institutes und James Frazers Fragebogen „Questions on the Customs, Beliefs and Languages of Savages“ 1887). Die Publikation dieser Forschungsergebnisse machte ihn auch zu einer zentralen Figur innerhalb der Anthropologie. Er prägte dadurch eine naturwissenschaftliche Orientierung der anthropologischen Forschungsmethoden.

Für die Torres-Straits Expedition von 1898 rekrutierte Haddon eine Forschergruppe, deren Mitglieder wenig bis gar keine Erfahrung mit der Anthropologie hatten. Das Forscherteam bestand aus dem Linguisten Sidney Ray, den Psychologen W.H.R. Rivers und dessen Assistenten McDougall, dem Anthropologen Anthony Wilkin, dem Musikwissenschafter Charles Samuel Myers und dem Pathologen Charles Seligman, der später den Lehrstuhl für Ethnologie an der Universität von London inne hatte. Die Torres-Straits Expedition kann als Wendepunkt für die britische Anthropologie gesehen werden:

Erstens kam es zu einer Entwicklung hin zu einer eigenständigen Erhebung der Daten durch die Wissenschafter vor Ort, anstatt der bis dahin vorherrschenden Datenextraktion aus schriftlichen Quellen. Die Feldforschung als zentrales Mittel der Datenerhebung wurde aufbauend auf den Erfahrungen der Torres-Straits Expedition von Malinowski weiter entwickelt und mit ihm endgültig in der britischen anthropologischen Tradition verankert.

Zweitens wurde nicht mehr generell Kultur als Objekt der anthropologischen Forschung gesehen, sondern man fokussierte auf spezielle lokale Gemeinschaften.

Drittens kam es zur Entwicklung neuer Methoden, wobei insbesondere Rivers genealogische Methode der Verwandtschaftsethnologie zu nennen ist.

Mit W.H.R. Rivers und Charles G. Seligman gingen aus der Expedition zwei Schlüsselfiguren für die nächste Generation der Anthropologie in Großbritannien hervor. Sie selbst hatten jedoch noch keine akademische anthropologische Ausbildung genossen (Barth et al. 2005: 13).

Das Problem der Methode war für Rivers und seine Generation von Anthropologen zentral, nur durch eine klare wissenschaftliche Vorgangsweise und systematische Terminologie konnte die Anthropologie als eine eigenständige Wissenschaft etabliert werden.

Die Betonung von Wissenschaftlichkeit, Methodik und Terminologie resultierte in einer neuen Ausgabe der notes & queries (1912), zu welcher Rivers einen grundlegenden Beitrag lieferte. In dieser Ausgabe wurde auch ein professionelles methodisches Training für Leute, die anthropologische Forschung ausführen, gefordert.

Am Ende der 1. Dekade des 20. Jahrhunderts wurden in Großbritannien die ersten anthropologisch geschulten Ethnographen zur Durchführung intensiver Feldforschungen ausgesandt. Unter diesen Anthropologen befand sich auch Bronislaw Malinowski.


Verweise:
[1] Siehe Kapitel 1.3.1


Nächstes Kapitel: 1.4 Bronislaw Malinowski: Das klassische Modell der Feldforschung


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