Eigenart der Sozialwissenschaften/Erklären und Verstehen

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Vorheriges Kapitel: 2 Die Eigenart der Sozialwissenschaften im Lichte des Dualismus von Natur- und Geisteswissenschaften

2.1 "Erklären" vs. "Verstehen"

Verfasst von Friedhelm Kröll und Nicole Pesendorfer

File:Denkensoz-10 1.jpg "Notizbuch"
Foto: Notizbuch. stock.xchng, [www.sxc.hu](http://www.sxc.hu), 2009

Hier soll dafür plädiert werden, die Sozialwissenschaften nicht auf den Gegensatz (quasi- naturwissenschaftlicher) Erkenntnismodus "Erklären" und (quasi- geisteswissenschaftlicher) Erkenntnismodus "Verstehen" festzunageln.

Im Kontext des tradierten Gegensatzes zwischen Erklären und Verstehen ist der Begriff "Hermeneutik" zu behandeln. Hermeneutik ist weniger eine Methode als eine Kunst des Interpretierens: ein Verfahren der sinnverstehenden Auf- und Erschließung von Sprechakten, Texten und Kunstwerken. Hermeneutik gilt als Königsverfahren der Geisteswissenschaften. Diesen geht es um die Auslegung der Bedeutungsschichten sinninnervierter Objektivationen des menschlichen Geistes. Heute stößt man im Kontext von "Content Analysis", Inhaltsanalyse, "interpretativen Sozialwissenschaften" oder "qualitativen Methoden" auf hermeneutische Verfahren.

Hermeneutische Verfahren sind gebunden an den artifiziellen Charakters menschlicher Vergesellschaftung, d.h. daran, dass soziale Interaktionen stets symbolisch vermittelt sind. Dinge, Formen, Verhalten, Interaktionen sind nicht nur einfach gegeben, sondern es kommt ihnen eine Bedeutung zu. Hermeneutische Verfahren sind zentriert im Verständnis von Sinngehalten. Favorisierter Erkenntnismodus: Verstehen.

Der Hermeneutik wohnen zwei ineinander verschränkte Vorgänge ein: Verstehen und Deuten in einem Zug. Indem wir etwas verstehen, deuten wir es (z.B. das religiöse Kreuz, einen Gruß, ein Schriftbild).

Hermeneutisch orientierte Sozialwissenschaften legen Wert auf den Unterschied zwischen reizgebundenem Verhalten[1] und sinnvermitteltem, an Symbolen und Bedeutungen orientiertem Handeln[2].

Natur ist schon konstituiert, ehe sie von menschlicher Praxis als Gegenstand behandelt wird. Die Ansicht von Natur als Objekt menschlicher Bearbeitung und Betrachtung ist vermittelt über die Zuweisung kultureller Bedeutungen an Erscheinungen und Vorgängen in der Natur, wodurch diese symbolischen Charakter annimmt. Insofern als sie mit Zeichen, Zahlen und Sprache operieren, haben auch die Naturwissenschaften teil an der symbolischen Bedeutungswelt. Die naturwissenschaftlichen Probleme und Fragen werden nicht vom Naturobjekt formuliert, sondern von Menschen gestellt.

Alle Wahrnehmung, sowohl die sozial- wie die naturwissenschaftliche, ist deutende Projektion: Wer etwas auslegt (so Nietzsche), legt etwas hinein, auch sich bzw. von sich selbst. Ob etwas, das wahrgenommen wird, auch wahr ist, können erst die systematisch-methodische Kontrolle und der wissenschaftliche Diskurs erweisen; etwa das Experiment. Erklären heißt, Zusammenhänge von Wahrnehmungen feststellen und unter bestimmten Gesichtspunkten prüfen, gegebenenfalls seine Wahrnehmung korrigieren.

Ist nun die naturwissenschaftliche Erklärung etwas ganz anderes als das sozialwissenschaftliche Verstehen:

Ja, weil sich die naturwissenschaftliche Erklärung auf sinnfremde bzw. sinnneutrale Gegenstandsbereiche bezieht.

Nein, weil es auch der sozialwissenschaftlichen Deutung von sprach-, sinn- und symbolvermittelten Gegenstandsbereichen um Erklärung geht.


Verweise:

[1] Siehe Kapitel 3.1.1
[2] Siehe Kapitel 3.1.2


Nächstes Kapitel: 2.2 Natur- vs. Geisteswissenschaften


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