Eigenart der Sozialwissenschaften/Natur Geisteswissenschaften

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Vorheriges Kapitel: 2.1 "Erklären" vs. "Verstehen"

2.2 Natur- vs. Geisteswissenschaften

Verfasst von Friedhelm Kröll und Nicole Pesendorfer

Im Laufe des 19. Jahrhunderts hat sich in den Wissenschaftskulturen folgende Polarität herausgebildet:

Hier die triumphalischen, erfolgreichen, das Gesicht der Welt tief hinein prägenden Naturwissenschaften im Wirkungsdreieck von Industrie - Technik - Wirtschaft.

Dort die in wissenschaftliche Enklaven zurückgedrängten, ebenso gekränkten wie elitären Geisteswissenschaften.

Zwischen Natur- und Geisteswissenschaften hat sich seither ein tiefer Graben aufgetan.

Die Gegenüberstellung von Natur- und Geisteswissenschaften ist im deutschsprachigen Raum mit den Namen Wilhelm Windelband und Heinrich Rickert verbunden. Windelband zufolge handelt es sich im Falle der Geistes- und der Naturwissenschaften um grundsätzlich verschiedene Typen der Erkenntnisproduktion:

Naturwissenschaften werden dem nomothetischen Wissenschaftstyp zugeordnet; d.h. hier gehe es um die Gewinnung allgemeiner Gesetze, Gesetzmäßigkeiten - kurz: die Erforschung von Naturgesetzen. Erkenntisfigur: Erklären[1].

Geisteswissenschaften werden dem ideographischen Wissenschaftstyp zugeordnet; d.h. hier gehe es vor allem um die individualisierende Beschreibung von Ereignis- und Geistesgeschehen. Erkenntnisfigur: Verstehen[2].

Heinrich Rickert[3] hat um 1900 diesen Dualismus modifiziert, indem er den Begriff des Geistes zu dem der Kultur erweitert hat: "Die Worte Natur und Kultur sind nicht eindeutig."

Merklich ist die Verschiebung der Terminologie von Geistes- zu den umfassenderen Kulturwissenschaften.

Rickert: "es gibt für die Wissenschaft einerseits Objekte, die wie die Kultur eine Bedeutung oder einen Sinn haben, und die wir um dieser Bedeutung und dieses Sinnes willen verstehen, und es gibt andererseits Objekte, die wie die Natur uns als völlig sinn- und bedeutungsfrei gelten und von daher unverständlich bleiben."

vgl. dazu auch Max Weber[4]'s Verstehende Kulturwissenschaft bzw. Verstehende Soziologie (Weber 1988: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre[5]).

Entlang der Unterscheidung von Natur- und Kulturwissenschaften hat sich eine Reihe kulturwissenschaftlicher Paradigmen herausgebildet, die bis in die Gegenwart hinein virulent sind. Beispielsweise schreibt Ernst Cassirer[6] den Dualismus von Kulturwissenschaften und Naturwissenschaften fort, ohne sie allerdings zu Antipoden zu stilisieren; vielmehr ist er darum bemüht, für die Wissenschaften vom Menschen nach Vermittlungen zu suchen. "Kultur[7]" wird von Cassirer als die vom Menschen gestaltete Welt gefasst und definiert. Damit rücken Handlung und Formgebung ins Zentrum; Natur und Kultur werden nicht als absolutes Gegensatzpaar aufgefasst, sondern stehen in einem wechselseitigen Fundierungsverhältnis: "Alles ist Natur - alles ist Kultur."


Verweise:

[1] Siehe Kapitel 2.1
[2] Siehe Kapitel 2.1
[3] Siehe Kapitel 4.2
[4] http://agso.uni-graz.at/lexikon/klassiker/weber/49bio.htm
[5] Siehe Kapitel 4.2
[6] Siehe Kapitel 4.2
[7] Siehe Kapitel 3.2.2


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