Theoriegeschichte der Kultur- und Sozialanthropologie/Diffusionismus und Kulturkreislehre

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Vorheriges Kapitel: 2.1 Der klassische Evolutionismus

2.2 Diffusionismus und Kulturkreislehre

verfasst von Wolfgang Kraus und Matthias Reitter

Foto: Pater Wilhelm Schmidt (1931), Quelle: [wikimedia.org](http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/6/64/Wilhelm_Schmidt_S.J._2.jpg)


Für den Evolutionismus[1] erklärten sich kulturelle Ähnlichkeiten daraus, dass verschiedene Gesellschaften eine gleichartige Entwicklung durchliefen: Ähnlich waren sie dann, wenn sie sich auf der gleichen Entwicklungsstufe befanden. Der Diffusionismus[2] vertrat einen anderen Erklärungsansatz: Kulturelle Übereinstimmungen waren auf historische Beziehungen zurückzuführen. Entweder es gab einen gemeinsamen historischen Ursprung, oder Gemeinsamkeiten waren das Ergebnis von Kulturkontakten. Der Diffusionismus interessierte sich im Wesentlichen für die räumliche Verteilung und Mobilität von Kulturelementen. Im Vordergrund standen hierbei oft materielle Objekte in Museen, aber auch soziale Formen oder Glaubensvorstellungen, deren räumliche Verteilung als Ergebnis historischer Prozesse gedeutet wurde. Dabei ging der Diffusionismus allerdings nicht weniger spekulativ vor als der Evolutionismus.

Ausgangspunkt war die Annahme der historischen Existenz kultureller Zentren, von denen aus Kulturelemente sich verbreiteten und vermischten. Solche Elemente (wie z.B. Dekorformen von Artefakten) konnten sich den diffusionistischen Theorien zufolge bis zu einem gewissen Grad unabhängig von ihren "Kulturträgern" (also den Menschen, die sie praktizierten) entwickeln und durch Kulturkontakte von einer Gruppe in die nächste diffundieren. Aus den Übereinstimmungen oder Ähnlichkeiten von Kulturelementen wollte der Diffusionismus die historische Ausbreitung dieser Elemente rekonstruieren. Zur Rekonstruktion dieser Prozesse diente das Konzept der "Kulturkreise"[3]: großer Areale, die durch bestimmte Kulturelemente mit gemeinsamem Ursprung gekennzeichnet waren.

Trotz einzelner Vertreter etwa in Großbritannien war das Interesse für diese Zusammenhänge im Wesentlichen eine Eigenheit des deutschen Sprachraums, wo der Diffusionismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts das dominierende Paradigma war. Die sogenannte "Wiener Schule" der kulturhistorischen Völkerkunde (manchmal auch "Kulturkreislehre" genannt) mit den Patres Wilhelm Schmidt[4] und Wilhelm Koppers[5] an der Spitze war eine extreme diffusionistische Richtung, die in der Zwischenkriegszeit sehr einflussreich war. Erst einige Zeit nach dem zweiten Weltkrieg wurde sie als unhaltbar zu Grabe getragen.

In der wissenschaftlichen Sprache ist der Begriff des Kulturkreises nur dann angemessen, wenn es um das genannte, heute längst überholte theoretisch- methodische Konzept des Diffusionismus geht. In der Alltagssprache dagegen hat der Begriff in den letzten Jahren wieder verstärkt Anwendung gefunden, am häufigsten in rechten politischen Diskursen über kulturelle Differenz und die unerwünschte Anwesenheit von MigrantInnen. Diese Zusammenhänge sollte man sich bewusst machen, bevor man das Wort "Kulturkreis" unkritisch verwendet.


Verweise:
[1] Siehe Kapitel 2.1
[2] http://de.wikipedia.org/wiki/Diffusionismus
[3] http://de.wikipedia.org/wiki/Kulturkreis
[4] http://de.wikipedia.org/wiki/Wilhelm_Schmidt_%28Ethnologe%29
[5] http://de.wikipedia.org/wiki/Wilhelm_Koppers



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