Theoriegeschichte der Kultur- und Sozialanthropologie/Klassischer Evolutionismus
Vorheriges Kapitel: 2 Theoriengeschichte der Kultur- und Sozialanthropologie
Contents
2.1 Der klassische Evolutionismus
verfasst von Wolfgang Kraus und Matthias Reitter
Thomas Hylland Eriksen (2010: 12) spricht von der Entstehungszeit des Faches in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als "Victorian Anthropology". Der Begriff bezieht sich auf die Regierungszeit der britischen Königin Victoria[1] von 1837 bis 1901. Da die einflussreichen Theorien dieser Zeit nicht nur in Großbritannien, sondern auch anderswo in Europa und ganz entscheidend auch in den USA formuliert wurden, ist es aber vielleicht besser, mit Bezug auf das dominierende theoretische Paradigma von der Periode des klassischen Evolutionismus zu sprechen. Der vorherrschende soziale Evolutionismus[2] in der sich herausbildenden KSA entstand aus dem Denken der Aufklärung parallel zu Darwins[3] biologischem Evolutionismus.
Das wesentliche Charakteristikum des klassischen Evolutionismus ist die Annahme einer gleichförmigen sozialen Evolution, die die menschliche Gesellschaft insgesamt durchläuft. Diese Evolution wurde als aufsteigende Entwicklung von einfachen zu komplexen Formen gedacht, die stufenförmig verlief. Alle Gesellschaften machten aus evolutionistischer Sicht grundsätzlich die gleiche Entwicklung durch, die mit den Frühformen der Menschheit begonnen hatte. Verschiedene Gesellschaften wurden jedoch als in dieser Entwicklung mehr oder weniger weit fortgeschritten betrachtet. Im Einklang mit dem Fortschrittsdenken der Zeit wurde die europäisch-amerikanische Industriegesellschaft als die am weitesten vorangeschrittene Entwicklungsstufe gedeutet.
Unterschiedliche Formen der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Organisation, der materiellen Kultur, der Familienorganisation etc. repräsentierten für den klassischen Evolutionismus daher unterschiedliche Entwicklungsstufen. Die Annahme unterschiedlicher Entwicklungshöhe war ein simpler und schlüssiger Erklärungsansatz für kulturelle Diversität. Die sorgfältigste und wohl einflussreichste Formulierung eines solchen stufenförmigen Entwicklungsmodells findet sich bei Lewis Henry Morgan (1877), einem der zentralen Vertreter des klassischen Evolutionismus. Wie zuvor Edward B. Tylor (1871) nahm Morgan drei Hauptstufen an: "Wildheit" (savagery), "Barbarei" (barbarism) und "Zivilisation" (civilization). Wildheit und Barbarei untergliederte er weiter in jeweils drei Unterstufen.
Das evolutionistische Denken ermöglichte nicht nur Antworten auf die Frage nach den Ursprüngen gesellschaftlicher Formen und Institutionen (Antworten, die später zu Recht als überwiegend spekulativ kritisiert wurden); es erlaubte auch, die beobachtbaren Unterschiede zwischen Gesellschaften aus ihrem unterschiedlichen Entwicklungsgrad zu erklären. Rezente Gesellschaften, die ethnographisch dokumentiert wurden, konnten so den gleichen Entwicklungsstufen zugeordnet werden wie historische Gesellschaften zu bestimmten Zeitpunkten in der Vergangenheit. Die "primitiven", d.h. ursprünglichen Gesellschaften - der Begriff war damals gängig und hatte nicht den rein abwertenden Charakter, den wir ihm heute zuschreiben - boten aus dieser Perspektive wertvolle Einblicke in die Menschheitsentwicklung und damit auch in die eigene Vergangenheit der "fortschrittlichen" Gesellschaften Europas und der USA.
Inhalt
Verweise:
[1] http://de.wikipedia.org/wiki/Victoria_%28Vereinigtes_K%C3%B6nigreich%29
[2] http://de.wikipedia.org/wiki/Evolutionismus
[3] http://de.wikipedia.org/wiki/Charles_Darwin
2.1.1 Lewis Henry Morgan und Henry Maine
Zentrale Figuren des klassischen Evolutionismus waren der Amerikaner Lewis Henry Morgan[1] (1818-81) und der Brite Henry Sumner Maine[2] (1822-88). Sie repräsentieren beide das typische evolutionistische Interesse an der Frage nach den Ursprüngen der gesellschaftlichen Institutionen und der Gesellschaft an sich (Maine 1907 [1861]; Morgan 1877).
Morgan und Maine stimmten in ihrer Grundannahme überein, dass die menschliche gesellschaftliche[3] Organisation in ihren Anfängen aus verwandtschaftlichen Beziehungen heraus erwachsen sei. Entgegengesetzte Standpunkte nahmen sie bezüglich der Frage ein, welche die erste Form der Familienorganisation gewesen sei. Während Morgan sie für matrilinear hielt (da den Menschen die physiologische Rolle der Vaterschaft zunächst unklar gewesen sei), nahm Maine an, die früheste strukturierte Form der Familie sei patrilinear gewesen. Er behauptete dies jedoch nur im Hinblick auf die indogermanischen Gesellschaften, deren Evolution er zu rekonstruieren suchte. Morgan vertrat den weiterreichenden Anspruch, ein einheitliches Modell der gesamten Menschheitsentwicklung vorzulegen.
Abgesehen von diesem Widerspruch waren sich Morgan und Maine aber einig, dass es im Verlauf der sozialen Evolution einen allmählichen Übergang von verwandtschaftsbasierten Organisationsformen zu anderen Formen gegeben habe, durch den der Staat[4] entstanden sei. Verwandtschaft und angeborener Status seien im Verlauf dieser Entwicklung als strukturierendes Prinzip durch Territorialität, Besitz und Vertragsbeziehungen abgelöst worden. Maine nannte diese große Entwicklung in einer berühmten Formulierung "a movement from Status to Contract" (Maine 1907 [1861]: 174).
Morgans (1877) evolutionistische Theorie übte mit ihrer materialistischen Grundhaltung großen Einfluss auf das Geschichtsverständnis von Karl Marx[5] und Friedrich Engels[6] aus und wurde in der marxistischen Theorie nahezu unverändert aufgegriffen. Diese Assoziation mit marxistischen Ideen wirkte sich umgekehrt auf die Rezeption von Morgan in der KSA aus.
Verweise:
[1] http://de.wikipedia.org/wiki/Lewis_Henry_Morgan
[2] http://de.wikipedia.org/wiki/Henry_Sumner_Maine
[3] Siehe Kapitel 1.1.3
[4] Siehe Kapitel 3 der Lernunterlage Sozialwissenschaften und gesellschaftlicher Wandel – aktuelle Debatten Staat, Migration, Globalisierung in der Kultur- und Sozialanthropologie
[5] http://de.wikipedia.org/wiki/Karl_Marx
[6] http://de.wikipedia.org/wiki/Friedrich_Engels
2.1.2 Edward B. Tylor
Der einflussreichste Vertreter der viktorianischen Anthropologie in Großbritannien war Edward Burnett Tylor[1] (1832-1917). Tylor entwickelte zwar kein so umfassendes Entwicklungsmodell wie Morgan und Maine[2]. Er ist aber vor allem aufgrund seiner frühen Definition des Begriffs Kultur[3], die das moderne anthropologische Verständnis von Kultur vorweg nimmt, bis heute von Bedeutung. Diese Definition lautet: "Culture or civilization, taken in its wide ethnographic sense, is that complex whole which includes knowledge, belief, art, morals, law, custom, and any other capabilities and habits acquired by man as a member of society" (Tylor 1871, Bd. I: 1). Das besondere Augenmerk auf Kultur unterschied Tylor von seinen Zeitgenossen wie Morgan oder Maine. Indem er aber auch die Gesellschaft in seine Definition einbezog, etablierte er zugleich die Auffassung, dass Kulturelles und Soziales untrennbar miteinander verbunden sind.
Wichtig für Tylors Spielart von Evolutionismus ist das von ihm entwickelte Konzept der "survivals" (Tylor 1871, Bd. I: 14-16), das er folgendermaßen erklärt: "These are processes, customs, opinions, and so forth, which have been carried on by force of habit into a new state of society different from that in which they had their original home, and they thus remain as proofs and examples of an older condition of culture out of which a newer has been evolved" (Tylor 1871, Bd. I: 15). Survivals (in der deutschen Übersetzung: "Überlebsel") bieten laut Tyler also Einblicke in einen früheren Zustand der Gesellschaft. Diese Idee eignet sich gut dazu, den Wandel der Perspektiven zu illustrieren, der sich vom Evolutionismus zum Funktionalismus[4] vollzog. Während der Evolutionismus diachron orientiert war, sich also für Veränderungen in der Zeit interessierte, verstand sich der Funktionalismus, der ab etwa 1920 das Fach dominierte, als strikt synchron: Ihm ging es um die Wechselbeziehungen zwischen gesellschaftlichen Prozessen und Institutionen zu einem gegebenen Zeitpunkt. Bronislaw Malinowski[5] verwarf daher das Konzept der Survivals, für das er nur Spott übrig hatte (Malinowski 1975: 68ff.).
Verweise:
[1] http://de.wikipedia.org/wiki/Edward_Tylor
[2] Siehe Kapitel 2.1.1
[3] Siehe Kapitel 1.1.4
[4] Siehe Kapitel 2.4
[5] Siehe Kapitel 2.4.2
2.1.3 Das Ende des klassischen Evolutionismus
Die evolutionistischen Modelle wurde vor allem von "armchair anthropologists" formuliert, die in der Studierstube mit Datenmaterial aus zweiter Hand arbeiteten. Später gingen AnthropologInnen zunehmend dazu über, ihre Daten selbst im Feld zu sammeln, indem sie sich intensiv mit lokalen Einzelfällen auseinandersetzten, anstatt aus dem Vergleich bruchstückhafter Informationen von da und dort ihre weltumspannenden Theoriegebäude zu errichten.
Auch in der Blütezeit des klassischen Evolutionismus gab es aber bereits andere Zugänge: Lewis Henry Morgan[1] etwa, der viel mit den reinen "armchair anthropologists" gemeinsam hatte, betrieb gründliche Feldforschungen bei der Stammeskonföderation der Iroquois[2] (Irokesen) in den nordöstlichen USA und veröffentlichte ein ethnographisches Werk über sie ( Morgan 1851[3]). Seine genaue Kenntnis der Iroquois war auch dafür verantwortlich, dass sie in seinen späteren Werken (so auch Morgan 1877) eine zentrale Rolle spielten.
Die Institution der Feldforschung[4] und der teilnehmenden Beobachtung[5] war also im klassischen Evolutionismus nicht unbekannt; sie hatte aber noch nicht den zentralen und verbindlichen Charakter, den sie dann vor allem ab dem Funktionalismus[6] einnahm. Überwiegend kamen die ethnographischen Daten damals noch von wenig spezialisierten Beobachtern wie Reisenden, Händlern oder Missionaren.
Das Interesse an einer genaueren Kenntnis der "primitiven" Gesellschaften, für das der klassische Evolutionismus ganz entscheidend mitverantwortlich war, trug paradoxerweise dann dazu bei, dass er seine Position als dominierendes Paradigma des entstehenden Faches verlor. Mit zunehmender Kenntnis ethnographischer Details und lokaler historischer Entwicklungen stellte sich bald heraus, dass die evolutionistischen Theoriekonstrukte mit dem zunehmenden empirischen Wissen im Widerspruch standen. Dementsprechend wurden um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert die Entwicklungsmodelle jener ersten Phase anthropologischer Theorienbildung einer scharfen Kritik unterzogen. Als "conjectural history", die auf Spekulation statt auf fundiertem empirischem Wissen beruhte, wurden diese Modelle zur Gänze verworfen.
Abgelöst wurde der klassische Evolutionismus von zwei großen Paradigmen, die auf andere Weise historisch orientiert waren:
- dem Diffusionismus[7], der im deutschen Sprachraum dominierte,
- und dem Historischen Partikularismus[8], der vor allem in den USA das Fach beherrschte.
"Unterschwellig" wurden evolutionistische Denkansätze jedoch weitergeführt. In den 1960er Jahren traten sie in den USA in Form des Neoevolutionismus[9] als eine von mehreren damals aktuellen theoretischen Positionen für einige Zeit wieder in den Vordergrund.
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 2.1.1
[2] http://en.wikipedia.org/wiki/Iroquois
[3] http://openlibrary.org/books/OL7147765M/League_of_the_Ho-de%CC%81-no-sau-nee_or_Iroquois
[4] Siehe Kapitel 1.3.1
[5] Siehe Kapitel 1.3.2
[6] Siehe Kapitel 2.4
[7] Siehe Kapitel 2.2
[8] Siehe Kapitel 2.3
[9] Siehe Kapitel 2.6
Nächstes Kapitel: 2.2 Diffusionismus und Kulturkreislehre