Einige wissenschaftstheoretische Grundlagen der empirischen Sozialforschung/Positivismus

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Vorheriges Kapitel: 2.1 Methoden, Methodik und Methodologie

2.2 Der Positivismus

Der Positivismus ist ein Kind der Aufklärung und wendet sich gegen irrationale bzw. religiöse Erklärungen. Er lehnt jegliche Metaphysik als theoretisch unmöglich und praktisch nutzlos ab. Die Forschung hat sich auf das Positive, d.h. das Tatsächliche, Wirkliche und Zweifellose zu beschränken und sich allein auf konkrete Erfahrungen zu berufen.

Der Positivismus geht auf Auguste Comte zurück (1798- 1857), der argumentierte, dass wissenschaftliche Erkenntnisse nur auf Tatsachen, d.h auf wirklich Gegebenem, das objektiv erkannt werden kann, zu beruhen haben. Ziel der Wissenschaft, sowohl der Naturwissenschaft, wie der Sozial- bzw. Geisteswissenschaft. ist aus dieser Perspektive die Erkenntnis und Formulierung von allgemeinen Theorien und Gesetzmäßigkeiten. Der Positivismus war die Leitidee, das zentrale Paradigma des 19. Jahrhunderts. Als wissenschaftlich galt nur, was beobachtbar und durch wissenschaftliche Experimente konkret erfassbar ist.

Die vier zentralen Grundannahmen sind:

1) Es existiert eine einzige Art von Wirklichkeit.

2) Die einzige Erkenntnisquelle ist die sinnliche Erfahrung.

3) Das Postulat von der Einheit der Wissenschaft.

4) Die Ablehnung aller nicht-deskriptiven, d.h. metaphysischen Aussagen.

Innerhalb der Kultur- und Sozialanthropologie ist eine positivistische Grundüberzeugung und der damit in Verbindung stehende Methodenmonismus Grundlage der so genannten "Scientists", im Gegensatz zu den "Humanists". Ansätze wie der Evolutionismus, der (Kultur-)Materialismus und die Kulturökologie, beruhen auf positivistischen Grundaxiomen.

Der bekannteste Kulturmaterialist innerhalb der Kultur- und Sozialanthropologie, Marvin Harris, geht von einem radikalen ökologischen, technologischen und demographischen Determinismus von Kultur aus. Er hat in Bezug auf die Arbeit des Linguisten Kenneth Pike auch die Unterscheidung von „etisch“ und „emisch“ [1] in der Anthropologie verbreitet.

Aber auch Positionen, die von einem sozialen Determinismus (z.B. Durkheim) ausgingen sowie der Funktionalismus [2](Malinowski) und Strukturfunktionalismus (Radcliffe-Brown) haben die Formulierung und Entwicklung von Gesetzmäßigkeiten zum Ziel.


Verweise:
[1] Siehe Kapitel 2.4
[2] Siehe Kapitel 5.2.1.2 der Lernunterlage Qualitative Methoden der Kultur- und Sozialanthropologie


Inhalt



2.2.1 Neopositivismus und kritischer Rationalismus

Eine Weiterentwicklung des klassischen Positivismus ist der Neopositivismus, der auch als logischer Empirismus [1] bezeichnet wird. Dieser wurde insbesondere vom so genannten Wiener Kreis (Rudolf Carnap, Otto Neurath, Kurt Gödel, Moritz Schlick, u.a.) geprägt.

Der Neopositivismus fügt den Grundannahmen des klassischen Positivismus die mathematische Logik als Ordnungsprinzip und Instrument der Analyse, sowie - in Anlehnung an Ludwig Wittgenstein - die Sprachkritik, hinzu. Der logische Empirismus basierte u.a. auf dem so genannten Sinnkriterium, welches nur solche Aussagen als sinnvoll akzeptierte, die sich empirisch verifizieren lassen. Empirisch nicht verifizierbare Aussagen, z.B. über Gott, Engel oder Geister, waren demnach empirisch sinnlos, metaphysisch und nicht wissenschaftlich.

Der gebürtige Österreicher Sir Karl Popper (1902- 1994) hat den Kritischen Rationalismus begründet und insbesondere das Theorem der Verifikation von Aussagen kritisiert. Sein Hauptwerk ist die "Logik der Forschung" (1935). Als zentrales Prinzip der kritisch-rationalen Forschungsmethodologie gilt, dass "alle Aussagen einer empirischen Wissenschaft" - sofern sie unzutreffend sind - "prinzipiell an der Erfahrung scheitern können" (Popper 1971: 15). Das heißt, empirische wissenschaftliche Aussagen müssen, im Gegensatz zum Sinnkriterium, falsifizierbar sein, also durch neue empirische Erkenntnisse widerlegt werden können.

So ist der Satz "Morgen wird es regnen oder nicht regnen." zwar sicher wahr aber nicht falsifizierbar und deshalb wissenschaftlich unbrauchbar. Der Erkenntnistheorie Poppers zufolge muss jede Aussage bzw. jede Theorie die Bedingungen ihrer eigenen Falsifikation, d.h. Widerlegung beinhalten. Wissenschaft ist somit ein fortschreitender Prozess der Annäherung an die Wahrheit und Aussagen gelten so lange als wahr, solange sie nicht empirisch falsifiziert sind. In diesem Sinne ist Popper ein Vertreter der so genannten "Korrespondenztheorie der Wahrheit", welche davon ausgeht, dass eine Aussage dann wahr ist, wenn sie mit dem Sachverhalt, den sie beschreiben will, korrespondiert, d.h. übereinstimmt.

Eine andere Auffassung von Wahrheit kommt in der "Konsenstheorie" zum Ausdruck, die davon ausgeht, dass wahr sei, worüber in einem freien, offenen Diskurs ein Konsens gefunden werden kann. Einer der wichtigsten Vertreter dieser Auffassung ist der deutsche Sozialphilosoph und Vertreter der Kritischen Theorie Jürgen Habermas. Diese und andere Auffassungsunterschiede zwischen Vertretern des kritischen Rationalismus (Karl Popper, Hans Albert) und der kritischer Theorie (Theodor W. Adorno, Jürgen Habermas) wurden im so genannten Positivismusstreit in den 1960er Jahren ausgetragen.


Verweise:
[1] Siehe Kapitel 2.5



2.2.2 Thomas Samuel Kuhn und die wissenschaftlichen Revolutionen

Thomas Samuel Kuhn war ein US-amerikanischer Physiker und Wissenschaftstheoretiker, der ebenfalls vielfach dem kritischen Rationalismus zugerechnet wird. Im Gegensatz zu Karl Popper gibt es bei ihm allerdings keine strikte Verbindung zwischen den wissenschaftlichen Theorien und einer vom Subjekt unabhängigen Realität. Kuhn wandte sich in seinem Werk "Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen" gegen die übliche Vorstellung, dass Wissenschaft eine kontinuierliche Wissensanhäufung auf Basis genauerer Daten und umfangreicherer Theorien sei. Ihm zu folge ist Wissenschaft nicht nur ein stetiges Anwachsen von Erkenntnissen, sondern durch unterschiedliche Phasen und Brüche gekennzeichnet, die er als "wissenschaftliche Revolutionen" bezeichnet. In diesen Phasen kommt es zu einem Paradigmenwandel, wobei mit Paradigma das begrifflich-methodische System einer Wissenschaft gemeint ist, welches gleichzeitig den Rahmen setzt innerhalb dessen Probleme definiert und Problemlösungen gesucht werden. Als ein klassisches Beispiel für eine Paradigmenwandel gilt in der Physik der Übergang von der Newtonschen Physik zu der Relativitätstheorie Einsteins.

Kuhn geht weiters davon aus, dass eine Inkommensurabilität, d.h. eine Unverträglichkeit, zwischen den einzelnen Paradigmen besteht.

Innerhalb der Sozial- und Geisteswissenschaften kommt es allerdings selten zur vollständigen Ablösung eines alten Paradigmas durch ein neues, vielmehr bestehen gleichzeitig unterschiedliche Erklärungsansätze bzw. Paradigmen nebeneinander.


Nächstes Kapitel: 2.3 Nicht-positivistische wissenschaftstheoretische Ansätze in den Geistes- und Sozialwissenschaften


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