Migrationsforschung in der Ethnologie bzw Kultur- und Sozialanthropologie/Rezentes

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Vorheriges Kapitel: 2.4 Aufgabenfelder

2.5 Rezente Zugänge

verfasst von Hermann Mückler
Erschöpftheit, K. Kollwitz ("Heimarbeit", 1925)

'Historiker[1]' sprechen von einer Universalgeschichte von Völkerwanderungen und Kriegen, Flucht und Vertreibung und verweisen dabei, bezogen auf die europäische Geschichte, auf jene Ereignisse, die zu den zentralen identitätsstiftenden literarischen Werken der abendländischen Kultur gehören. Bereits in den antiken Werken wird dem Thema Wanderung bzw. Migration breiter Raum gewidmet, so beispielsweise die Reise des Aeneas nach Sizilien als Spiegelbild des Bevölkerungsdrucks in Westgriechenland und die griechische Koloniebildung in Italien. Ebenso finden sich in der Bibel zahlreiche Geschichten von Flucht und Vertreibung. Das jüdische Volk bildet geradezu den Archetypus für Flucht und Vertreibung, angefangen vom babylonischen Zwangsexil, über die Zerstreuung im Römischen Reich, den Massenausweisungen in Spanien, bis hin zu Flucht und "Endlösung" im Dritten Reich.

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 2.3

Inhalt

2.5.1 Arbeitsmigration

Die mit Blickrichtung auf Zuwanderung[1] stimulierte und formulierte "Ausländerfrage" erweist sich häufig als ein Element des Vergessens der eigenen Geschichte. Zu der Fülle von Vorurteilen, die von aufnehmenden Gruppen bei Zuwanderung immer wieder aufgegriffen werden, gehören zwei, die meistens gleichzeitig formuliert werden, nämlich die Ansicht, dass das "Boot voll" sei und man daher niemanden aufnehmen könne, während andererseits ein Aussterben durch zu niedrige Geburtenraten, Vergreisung, Entvölkerung etc. in Aussicht gestellt wird.

Gerade die Interessensgruppen und Parteien am politisch rechten Rand neigen zur schizophrenen Sichtweise der Ausblendung des grundsätzlichen Zusammenhangs dieser beiden Faktoren. Die heutige Diskussion um Möglichkeiten und Grenzen beruflicher Mobilität in Europa (als der heute hierzulande häufigsten Form von Migration), also den Grenzen von Zuwanderung und einer möglichen Integration, wird durch die Tatsache, dass global alle Gesellschaften einen massiven und irreversiblen Trend zu ethnisch und kulturell heterogenen staatlichen Gebilden[2] durchmachen, bestimmt.

Das Faktum, dass sich alle Staaten der Erde von einem homogenen Nationalstaat wegbewegen und damit zu vielstimmigeren "multikulturellen"[3] Gebilden werden, hat unterschiedlichste Reaktionen der betroffenen politischen und gesellschaftlichen Entscheidungsträger ausgelöst, deren Bandbreite von einer bewussten Forcierung und Steuerung dieser Entwicklung bis zu rigider Abgrenzung und dem Betonen nationaler Eigenheiten reichen. Zugrunde liegen diesen beiden potentielle Reaktionen auf die möglichen Auswirkungen von Migration einerseits das Begreifen von Vielfalt und Vielstimmigkeit als Chance einer kulturellen Bereicherung, die letztlich allen zugute kommen kann, oder andererseits das Ausgehen von der fiktiven Prämisse, dass nationale, respektive politische Identifikationsfaktoren, mit ethnischen und kulturellen Elementen der Mehrheit der Bewohner eines Landes deckungsgleich sein könnten und sollten.

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 2.6 der Lernunterlage Sozialwissenschaften und gesellschaftlicher Wandel – aktuelle Debatten: Migration in der Publizistik- und Kommunikationswissenschaft
[2] Siehe Kapitel 3.6.5
[3] Siehe Kapitel 2.5.2


2.5.2 Multikulturalität

Der Begriff der "multikulturellen" Gesellschaft ist erst in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts entstanden und entstammt der kanadischen Diskussion um die Rechte derjenigen, die sich weder zur englischsprachigen Mehrheit noch zur frankokanadischen Minderheit rechneten. Das Schlagwort vom multikulturellen Kanada hatte 1964 der Senator Paul Yuzyk, ukrainischer Herkunft, in Umlauf gebracht.

In der Bundesrepublik Deutschland wurde das Konzept einer multikulturellen Gesellschaft zunächst von der politischen Linken und in pädagogischen Diskussionen propagiert. Ein im Jahr 1980 erschienener Band der Reihe "Kursbuch" hatte den damals provozierenden Titel "Vielvölkerstaat Bundesrepublik". Der Begriff "Multikulturalität" hat in der Folge eine fast inflationär erscheinende häufige Verwendung gefunden und steht für sowohl ernstgemeinte Bestrebungen von (Kommunal-)Politikern und Gesellschaftswissenschaftlern, das "Nebeneinander"-leben von Bevölkerungsgruppen unterschiedlicher Herkunft und kulturellen Backgrounds zu einem "Miteinander"-leben umzufunktionieren, als auch in seiner schlagwortartigen Verwendung für politische Entschlusslosigkeit in einzelnen Sachfragen und hat so zu einer nur scheinbaren Harmonisierung interethnischer Konflikte beigetragen. Vor allem aus diesem letztgenannten Grund hat sich ein Teil der Befürworter der multikulturellen Gesellschaft von diesem Konzept zwischenzeitlich distanziert und es als Modeerscheinung abqualifiziert.


2.5.3 Interkulturalität

Im Laufe der 1990er Jahre setze sich zunehmend der Begriff der "Interkulturalität" durch, "...da dieses Konzept auf die gegenseitige Beziehung, auf das zu gestaltende Zusammenleben abhebt und die Vorstellung eines "Multikulturellen Nebeneinanders" für unzureichend hält" (vgl. Robertson-Wensauer 1993, zit.n. Treibel 1999, S. 66). Wenn man jedoch nach der Definition eines x- beliebigen Fremdwörterbuches geht, wonach "multikulturell"[1] auf vielfältige Lebensformen, Welt- und Menschenbilder ausgerichtete Gesellschaft interpretiert wird, die eine auf Toleranz und wechselseitige Anerkennung der verschiedenen kulturellen Erfahrungen gerichtete Sozialordnung zum Ziel hat, dann hätte man beim ursprünglichen Begriff bleiben und diesen als operables Instrument einsetzen können.

Da jedoch die Begrifflichkeit Moden und somit auf einer emotionalisierten Ebene bewussten und unbewussten Empfindungen unterworfen ist, favorisiert man heute den präziseren Begriff Interkulturalität. Dieser Begriff setzt explizit auf die Beziehung(en) zwischen zwei oder mehr Kulturen und damit weniger auf ein (friedliches) Nebeneinander, sondern auf das "Wie" des Interagierens, also des sozialen Miteinanders.

Anders ausgedrückt: die angenommenen Unterschiede zwischen Kulturen werden nicht zwangsläufig als etwas Trennendes, sondern als Chance zum Austausch zwischen den Kulturen gesehen. Interkulturalität bedeutet in diesem Sinn nicht nur, dass in einer Situation verschiedene Teilnehmer aus unterschiedlichen Kulturen agieren, sondern, dass sich dabei durch Dynamiken und Wechselbeziehungen (die es von EthnologInnen zu untersuchen gilt) etwas entwickelt, was über die Addition der Wesenszüge und Merkmale der beteiligten Kulturen hinausgeht: Es entsteht etwas produktiv Neues. Diese prozessualen Entwicklungen und deren zugrunde liegende Mechanismen und Strukturen zu dekodieren und damit transparent zu machen, ist eine der Aufgaben der Ethnologie[2].

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 2.5.2
[2] Siehe Kapitel 2.5.4

2.5.4 Aufgaben der Ethnologie

Entscheidend in diesem Zusammenhang ist für die Ethnologie die Verknüpfung und die wechselseitige Beeinflussung von Faktoren in dem Sinne, dass Migration zur (irreversiblen und potentiell konfliktschaffenden) Zunahme von multi- bzw. interkulturellen gesellschaftlichen Gebilden führt, deren Erscheinungsformen und Auswirkungen für die darin Agierenden, Partizipierenden und peripher Betroffenen gravierende Folgen haben können, welche die Ethnologie unter die Lupe zu nehmen hat.

Oftmals ist die Distanz für eine unvoreingenommene und alle Faktoren berücksichtigende Betrachtung ein entscheidendes Element. Aus diesem Grund haben Studien über Migrationsprozesse mit ihren jeweils spezifischen Dynamiken in außereuropäischen Ländern[1] auch Rückwirkung auf diejenigen Prozesse, die in unserer unmittelbareren Nähe ablaufen. Die Ethnologie trägt durch ihre große Bandbreite an Zugängen zu allen Kulturregionen des Globus dazu bei, komparative Studien zu ermöglichen und empirisches Material einer Einzelstudie vor Ort in den jeweils größeren Kontext überregionaler und globaler Dynamiken zu stellen. Sie ermöglicht damit entscheidend eine Vergleichsschau, die unter Umständen Rückschlüsse auf zu erwartende Prozesse im Kleinen geben können.

Wiederum anders formuliert: Die Beschäftigung mit Migrationsdynamiken und damit in Verbindung stehenden Prozessen im außereuropäischen Ausland kann auch für die Analyse und Interpretation von ähnlichen Entwicklungen im näheren Umfeld[2] eminente Bedeutung haben, da wir andere kontextuelle Zugänge finden, die aus einer reinen Eigensicht nur schwer zu finden wären. Voraussetzung für eine komparative, also vergleichende Betrachtungsweise von Fallbeispielen aus den großen Migrationsbereichen Flucht- und Arbeitsmigration ist aber die Festlegung von Parametern, als Eckpunkte für eine potentielle Vergleichbarkeit. Die Festlegung von Parametern ist wiederum eng mit der verwendeten Begrifflichkeit verbunden. Als eines der jüngsten Werke, die sich mit der Verknüpfung von Migrationsforschung und dem Fach der Ethnologie bzw. Kultur- und Sozialanthropologie auseinandersetzen, ist der von Six-Hohenbalken/ Tosic (2009)[3] herausgegebene Sammelband zu empfehlen, der neben theoretischen Grundlagen anhand ausgewählter Anwendungsfelder interdisziplinäre Aspekte vor dem Hintergrund der Verflechtung von Multikulturalität, Identität und Geschlecht abhandelt.

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 2.4.2.2
[2] Siehe Kapitel 2.4.2.1
[3] Siehe Kapitel 2.7


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