Die Ethnologie bzw Kultur- und Sozialanthropologie und der Staat/Entstehung
Vorheriges Kapitel: 3.5 Vor- und Nicht-staatliche Gesellschaften
Contents
- 1 3.6 Die Entstehung staatlicher Strukturen
- 1.1 Inhalt
- 1.2 3.6.1 Diffusität politischer Gemeinwesen
- 1.3 3.6.2 Segmentäre Gesellschaften
- 1.4 3.6.3 Vom Einfacheren zum Komplexeren
- 1.5 3.6.4 Historische Theoriebildung zur Staatsentstehung
- 1.6 3.6.4.1 "Early State"
- 1.7 3.6.4.2 Materialistische Theorie
- 1.8 3.6.4.3 Hydraulische Theorie
- 1.9 3.6.4.4 Theorie der natürlichen Grenzen
- 1.10 3.6.4.5 Eroberungs- und Unterwerfungstheorie
- 1.11 3.6.4.6 Patriarchal-, Patrimonial- und Vertragstheorie
- 1.12 3.6.4.7 Definition des frühen Staates
- 1.13 3.6.4.8 Typen des frühen Staates
- 1.14 3.6.5 Moderner Staat und andere Formen politischer Organisation
- 1.15 3.6.5.1 Koloniales Erbe
- 1.16 3.6.5.2 Transnationalismus und Staat
3.6 Die Entstehung staatlicher Strukturen
verfasst von Hermann MücklerDie Entstehung staatlicher Strukturen bildet ein Kernthema innerhalb der Politik-Ethnologie bzw. Politischen Anthropologie, eines Teilgebietes der Ethnologie bzw. Kultur- und Sozialanthropologie. Dies folgt der Erkenntnis, dass verschiedene Faktoren wie demographisches Anwachsen, ökonomische Surplus (d.h. Mehrwert-) Produktion, günstige Lage, Ressourcenreichtum und zunehmende Arbeitsteiligkeit, um nur einige zu nennen, eine Vergrößerung und zunehmende Komplexität eines gesellschaftlichen Systems bedingen. Differenzierungen verursachen Hierarchisierungen und erfordern eine Verwaltung, welche wiederum den Aufbau einer Bürokratie und (zentral-)staatlicher Institutionen mit sich bringt. Welche Faktoren hier im Einzelnen wirksam werden und wie diese zueinander stehen, welche Entwicklungen zwangsläufig und welche optional sind - das sind die Inhalte, mit deren Beschäftigung eine Voraussetzung für die Definition, was Staat sein kann, geschaffen wird.
Inhalt
3.6.1 Diffusität politischer Gemeinwesen
Die Frage nach der Entstehung staatlicher Strukturen[1] setzt voraus, dass man sich mit nichtstaatlichen oder vorstaatlichen Strukturen beschäftigt. Dabei lag das Hauptaugenmerk der Ethnologie lange auf der Untersuchung von Kleingruppen, wie beispielsweise der Familie, der Horde, der Lineage, der Sippe oder des Klans. Hierbei konnte eine Hierarchisierung verschiedener Ebenen eines politischen Gemeinwesens beobachtet werden. Man kann auch von Politik auf verschiedenen Ebenen sprechen, wenn politische Gemeinwesen in mehrere, voneinander relativ unabhängige Ebenen politischen Handelns zerfallen.
Diese wurden von der Ethnologin Lucy Mair[2] (1962) als "diffus" bezeichnet. Diese Diffusität politischer Gemeinwesen ist durch mehrere Ebenen gekennzeichnet, die wiederum mehrere gleichartige Gebilde umfassen, die zumindest je eine der Funktionen der politischen Organisation erfüllen. Diese Gebilde, die auf den unteren Ebenen als funktional bedeutsam, auf den höheren Ebenen als sogenannte "Sekundärgruppen" erkannt wurden und so groß und verstreut sind, dass nicht mehr alle Angehörigen deren Handeln ständig koordinieren können, folgen drei organisatorischen Grundprinzipien:
- der Verwandtschaft (z. B. die Familien, Klane, Sippen),
- der Territorialität (Haushalte, Dörfer) und
- dem willentlichen Zusammenschluss oder der "Assoziation" (z. B. in Gefolgschaften einzelner Führer) (vgl. Stagl 1998).
Diese Ebenen des politischen Gemeinwesens sind nicht statisch. Sie können sich vermischen, ineinander übergehen, sich in Subgebilde untergliedern oder in Supergebilden zusammenschließen. Eine derartige Strukturierung eines Gemeinwesens kann "segmentäres System" genannt werden, wobei jedes segmentäre System Teilgebilde verschiedener Größenordnung beherbergt, die auf mehreren Ebenen in- und miteinander verknüpft sind.
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 3.6
[2] http://en.wikipedia.org/wiki/Lucy_Mair
3.6.2 Segmentäre Gesellschaften
Segmentären Gesellschaften – ein Begriff, der von dem Franzosen Émile Durkheim[1] 1893 geprägt wurde – sind schon bei Meyer Fortes und Edward E. Evans-Pritchard angesprochen worden[2]. Der ethnologische Klassiker von Fortes und Evans- Pritchard über afrikanische politische Systeme, begründete durch die akribische vergleichende Untersuchung verschiedener politischer Systeme afrikanischer Gesellschaften das Fach der Politischen Anthropologie bzw. Politikethnologie mit (Fortes/ Evans-Pritchard 1940). In diesem standen Untersuchungen zu Ursprung, Dynamik und Ausprägung von sozialen Ungleichheiten sowie von gesellschaftlichen Machtverhältnissen im Vordergrund. Folgerichtig waren Untersuchungen zu Organisationsformen der Macht, deren Verteilung und Bindung an Individuen und Gruppen innerhalb einer Kultur, aber auch Machtverhältnisse zwischen Gruppen (und dazu zählen auch Kolonisierung, Krieg, Segmentation, Formen regulierter Anarchie, etc.) für die Inhalte dieses Zweigs ethnologischer Forschung bestimmend.
In der Ethnologie wurden eine zeitlang einer angenommenen Universalität von Herrschaft bzw. Herrschaftsverhältnissen durch die Fokussierung auf segmentäre, staatenlose, akzephale und vorstaatliche Gesellschaften relativierende Herrschaftssysteme gegenübergestellt. Segmentäre Gesellschaften bestehen aus einer Anzahl von gleichartigen und gleichrangigen Segmenten, die über Lineages organisiert sind und weiter in Subsegmente unterteilt sein können. Im Wesentlichen basieren diese Segmente auf Abstammung und Verwandtschaft, aber auch auf religiös-kultischer oder territorialer Basis, wobei diese Segmente bzw. Gruppen zwar unterschiedliche Größenordnungen haben können, mehrheitlich jedoch vergleichsweise klein sind. Die teilweise komplexe Verschachtelung der Segmente gewährleistet eine gewisse Selbstregulierung von Kooperations- und Konfliktbeziehungen[3] ohne die Notwendigkeit zur Ausbildung einer dauerhaften zentralen politischen Autorität.
Verweise:
[1] http://de.wikipedia.org/wiki/%C3%89mile_Durkheim
[2] Siehe Kapitel 3.5
[3] Siehe Kapitel 3.2
3.6.3 Vom Einfacheren zum Komplexeren
Die Beschäftigung mit der schrittweisen Entwicklung vor- oder nichtstaatlicher Strukturen ergibt im Wesentlichen eine Entwicklung vom Einfacheren zum Komplexeren, vom Überschaubaren zum Unüberschaubaren, von räumlich und zahlenmäßig kleinen zu größeren Gebilden ist. Wichtig ist dabei die Dichotomie von staatlichen und nichtstaatlichen Gesellschaften. Hier wurde von der Kultur- und Sozialanthropologie auf die mit zunehmender Größe der Gemeinwesen notwendige Arbeitsteilung, die erforderliche Spezialisierung bestimmter technischer, handwerklicher, ökonomischer und dienstleistungsbezogener Kenntnisse und Fähigkeiten fokussiert.
Hinzu kommt die Entstehung von Hierarchien, die sich nicht nur aus der Arbeitsteilung, sondern aus einer zunehmenden Gewaltentrennung ergeben, die auch beispielsweise in einer Trennung säkularer und sakraler Kompetenzen oder in der Entstehung klar abgegrenzter legislativer und exekutiver Kompetenzen ihren Niederschlag gefunden hat. Die Entstehung von Bildungsschichten, die Entwicklung und der Aufbau komplexer Verwaltungssysteme (dazu gehören u. a. Kontroll-, Finanz-, Infrastrukturerhalte- und Rekrutierungseinrichtungen), die Bildung von Besteuerungsmechanismen und schließlich die Massenorganisation von Arbeit zum Zweck der Errichtung kommunaler, sakraler, verteidigungsrelevanter und/oder prestigeträchtiger Großbauten: all dies war nur auf der Grundlage einer schrittweisen Zentralisierung der Gemeinwesen sowie deren relativer politischer Stabilität möglich.
3.6.4 Historische Theoriebildung zur Staatsentstehung
Bei der vergleichenden Beobachtung verschiedener Beispiele sogenannter "Früher Staaten"[1] fielen den EthnologInnen Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede auf, die eine Kategorisierung erschwerten. Mehrere skizzierte Theorieansätze verdeutlichen die unterschiedlichen Zugänge, die zur Analyse von Staaten gewählt wurden. Diese geben auch wissenschaftsgeschichtlich über die Entwicklung des Faches Ethnologie bzw. Kultur- und Sozialanthropologie Auskunft und spiegeln zeitgeistige Strömungen wider.
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 3.6.4.1
3.6.4.1 "Early State"
Der Staat ist ein politisches und soziales Phänomen, das erstmals vor einigen tausend Jahren auftauchte. Zur Erklärung seines Ursprungs existieren zahlreiche, einander teilweise widersprechende Theorien. Einen Überblick über die wichtigsten Ansätze bietet das einleitende Kapitel des 1978 erschienenen, umfangreichen Werks The Early State[1]] von Henri J. M. Claessen[2] und Peter Skalník. Die beiden Anthropologen beschäftigten sich in The Early State mit dem Charakter und vor allem mit der Entstehung und frühen Entwicklung des Staats.
Ziel ihrer Untersuchung war es, erstens die generellen Charakteristika, zweitens eine minimale Definition, drittens unterscheidbare Typen und viertens den wahrscheinlichsten Entstehungsprozess des frühen Staats zu beschreiben (Claessen/ Skalník 1978). Diesem Ziel näherten sich die Wissenschaftler, indem sie bestehende Theorien analysierten und daraus Hypothesen zu den genannten vier essenziellen Forschungsfragen ableiteten.
Verweise:
[1] https://www-degruyter-com.uaccess.univie.ac.at/view/title/5842
[2] http://en.wikipedia.org/wiki/Henri_J._M._Claessen
3.6.4.2 Materialistische Theorie
Die Staatsentstehung nahm vor allem bei den Evolutionisten einen besonderen Stellenwert ein (vgl. Lewellen 1992). Dem gegenüber stand die britische funktionalistische Schule mit Forschern wie Fortes und Evans-Pritchard (1940), die weniger daran interessiert waren, ob sich Gesellschaften in einer bestimmten (Ab-)Folge entwickelten, sondern die Organisationsweise einer Gesellschaft in den Vordergrund ihrer Aufmerksamkeit stellten.
In der marxistischen Theorie wurden Spekulationen über die Gründe, die zur Entwicklung von Staatsgebilden geführt haben in besonderer Weise erörtert. Man ging dabei von einer Kettenreaktion aus, die von neuen Technologien über einen Produktionsüberschuss zur Akkumulation von Privateigentum geführt hatte, welches schließlich durch eine permanente und stabile Herrschaft geschützt werden musste. Diese sogenannte materialistische Theorie wurde von Friedrich Engels[1] entscheidend mitentwickelt (Engels 1884).
Verweise:
[1] http://de.wikipedia.org/wiki/Friedrich_Engels
3.6.4.3 Hydraulische Theorie
Mit China hatte sich der deutsche Soziologe Karl August Wittfogel[1] auseinander gesetzt, der die Entwicklung und Organisation von Bewässerungssystemen in den Vordergrund seiner Erörterungen gestellt hatte und von "hydraulischen Staaten" sprach (Wittfogel 1977). Die Notwendigkeit der kommunalen Organisation zur Bewältigung der komplexen Aufgaben, welche die Anlage von Bewässerungssystemen bedingte, eine Theorie der hydraulischen Staaten, wurden schließlich von Oskar Weggel (1990) aufgegriffen, und am Beispiel Vietnams in abgewandelter Form zur Anwendung gebracht.
Verweise:
[1] http://de.wikipedia.org/wiki/Karl_August_Wittfogel
3.6.4.4 Theorie der natürlichen Grenzen
Der amerikanische Ethnologe Robert L. Carneiro[1] hat in seinem Aufsatz "A Theory of the Origin of the State" eine Theorie der natürlichen Grenzen ("Circumscription Theory") entwickelt, die auf der Annahme beruhte, dass im Falle einer Eroberung[2] die Unterlegenen im Regelfall an einen anderen Ort fliehen; als ein Beispiel nannte er die Amazonas-Indianer (Carneiro 1970). Nur wenn es natürliche Begrenzungen (Wüste, Berge, Meer) gebe, bleibe die unterlegene Gruppe am Ort der Niederlage. Unter diesen speziellen topographischen Bedingungen entstehe nach Carneiro der Staat auf die Weise, dass es bei wachsender Bevölkerung um Streit um das knappe Land komme und so ein Dorf das Nachbardorf zu erobern und unterwerfen versuche, wodurch es zur Entstehung staatlicher Herrschaft komme.
Er sah in den natürlichen Grenzen der frühen, an Flüssen gelegenen Staaten, einen entscheidenden Faktor. Wüsten und Berge verhinderten seiner Meinung nach eine Zersiedelung und das staatliche System habe sich so schneller entwicklen und gegenüber anderen durchsetzen können. Robert L. Carneiro unterschied zwischen den ursprünglich entstandenen Staaten ("primäre Staaten"), von denen er an sechs Orten des Globus solche lokalisieren zu können glaubte (Niltal, Peru, Mesoamerika, Gelber Fluss in China, Industal und Mesopotamien) und durch Kontakt mit diesen entstandene Staaten ("sekundäre Staaten").
Verweise:
[1] http://de.wikipedia.org/wiki/Robert_L._Carneiro
[2] Siehe Kapitel 3.6.4.5
3.6.4.5 Eroberungs- und Unterwerfungstheorie
Die Eroberungs- und Unterwerfungstheorie, auf die Carneiro[1] reagiert hatte, gab es spätestens seit dem Mittelalter und war von Franz Oppenheimer[2], der sich mit Herrschaftssoziologie beschäftigt hatte, favorisiert worden. Die Eroberungs- und Unterwerfungstheorie geht davon aus, dass der Staat in einem Prozess der Unterwerfung friedlicher Bauernvölker durch kriegerische Hirtenvölker entstanden ist.
Nach Oppenheimers Modell vollzog sich die Staatswerdung in sechs Phasen, die teilweise mehrere Jahrzehnte oder Jahrhunderte dauerten (Oppenheimer 1996 [1907]). Oppenheimer verstand seine Ausführungen als Fortführung der sozialdarwinistischen und heute überholten sogenannten "ethnischen Überlagerungstheorie" von Ludwig Gumplowicz. Die Eroberungs- und Unterwerfungstheorie, nach der staatliche Herrschaft im Zuge der der Eroberung friedlicher Bauernvölker durch kriegerische Hirtenstämme entstand, gilt als eine ethnologisch durchaus abgesicherte Sichtweise.
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 3.6.4.4
[2] http://de.wikipedia.org/wiki/Franz_Oppenheimer
3.6.4.6 Patriarchal-, Patrimonial- und Vertragstheorie
Manche Autoren betonten im Zusammenhang der Eroberungs- und Unterwerfungstheorie[1] die Art und Weise und Komplexität der Kriegsführung. Andere Theorien sahen in der wachsenden Bevölkerung den ausschlaggebenden Faktor, der zu neuen Technologien und folglich zu einer komplexer organisierten Gesellschaft führt, oder sie fokussierten auf soziale Abhängigkeiten.
- So ist nach der Patriarchaltheorie staatliche Herrschaft eine Art Weiterentwicklung der männlichen Dominanz in der Familie: Die Macht der Männer über die Frauen greife auf andere Bereiche des Soziallebens über und führe so zu einer dauerhaften Etablierung von Machtstrukturen, die schließlich in ein Gewaltmonopol des Stärksten münden.
- Nach der sogenannten Patrimonialtheorie gründet staatliche Herrschaft in privatem Eigentum an Grund und Boden. Der Grundeigentümer habe sich dadurch das Gewaltmonopol über die auf seinem Land Ansässigen verschafft.
- Die Vertragstheorie wiederum geht davon aus, dass staatliche Herrschaft aufgrund eines freiwilligen Vertrages entstanden sei, um bestimmte gesellschaftliche Probleme (Ressourcenknappheit; Verwaltung öffentlicher Anlagen zur Wasserbewirtschaftung) zentral zu lösen.
Wie man sieht, versuchten schier unzählige Theorien auf die vielfältigen möglichen Faktoren, die bestimmenden Einfluss auf die Staatsentstehung haben konnten zu reagieren.
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 3.6.4.5
3.6.4.7 Definition des frühen Staates
Als minimale Definition des frühen Staats schlugen der holländische Ethnologe Henri Claessen und sein polnischer Kollege Peter Skalník folgendes vor: Der frühe Staat[1] ist die Organisation für die Regulierung sozialer Beziehungen in einer Gesellschaft, die in mindestens zwei auftauchende soziale Klassen gespalten ist, nämlich Herrscher und Beherrschte (Claessen/ Skalník 1978). Die generellen Charakteristika des frühen Staats fassen die beiden Autoren in sieben Punkte zusammen:
- Der frühe Staat verfügt über eine Anzahl an Menschen, die ausreicht, um soziale Kategorisierung und Spezialisierung zu ermöglichen.
- Die Staatsangehörigkeit wird bestimmt durch Wohnsitz oder Geburt auf einem bestimmten Gebiet.
- Es gibt eine zentrale Regierung, welche die Macht besitzt, Recht und Ordnung durch Autorität und (die Androhung von) Gewalt zu erhalten.
- Der Staat ist, zumindest de facto, unabhängig und verfügt über genügend Macht, um Separatismus vorzubeugen, und über die Kapazität zur Verteidigung seiner Integrität gegen Bedrohungen von außen.
- Die Produktivität ist so weit entwickelt, dass ein regelmäßiger Überschuss zur Erhaltung der Staatsorganisation erwirtschaftet werden kann.
- Die Bevölkerung ist so weit sozial differenziert, dass soziale Klassen (Herrscher und Untertanen) unterschieden werden können.
- Es existiert eine allgemeine Ideologie, auf der die Legitimität der herrschenden Schicht basiert.
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 3.6.4.1
3.6.4.8 Typen des frühen Staates
Claessen und Skalník (1978) unterschieden drei Typen, denen sie jeweils bestimmte typische Merkmalezuschrieben:
- den 'beginnenden/unvollkommenen frühen Staat[1]' (inchoate early state),
- den typischen frühen Staat (typical early state) und
- den frühen Staat in der Übergangsphase (transitional early state).
Das Hauptaugenmerk ihrer Arbeit richteten Claessen und Skalník auf den Prozess der Entstehung (bzw. der frühen Entwicklung) des Staats. Sämtliche unterschiedlichen Ansätze lassen sich, so Claessen/ Skalník in zwei Kategorien zusammenfassen, gemäß denen der Staat entweder
- auf sozialer Ungleichheit (social inequality) oder
- einer Art von "sozialem Vertrag" (social contract) beruht.
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 3.6.4.1
3.6.5 Moderner Staat und andere Formen politischer Organisation
Interessante Forschungsthemen ergeben sich dort, wo es zu einer Berührung, Überlappung und meistens konfrontativen Situation zwischen Staaten und in diesen befindlichen kleineren Einheiten politischer Gemeinwesen kommt. Forschungen zu Rechtspluralismus lassen sich folgerichtig als Untersuchungsthema ableiten. Es geht um Wechselwirkungen zwischen dem modernen Staat und anderen, einfacheren Formen politischer Organisation. Der moderne Staat wird oft als organische Zusammenfassung einer einigermaßen homogenen Gesellschaft durch ein einziges Führungssystem, einer sogenannten Zentralinstanz, gesehen, welche innerhalb eines bestimmten Territoriums jederzeit das Monopol physischer Gewaltanwendung als letztes Mittel zur Herstellung von (erzwungener) Gemeinsamkeit beansprucht. Solche Staaten, die klare Grenzen haben, kennen Recht und Krieg als Mittel zur Durchsetzung ihrer Ordnung nach innen und außen. Aus dieser Konstellation ergeben sich zwangsläufig zahlreiche Konfliktfelder.
3.6.5.1 Koloniales Erbe
In fast allen entkolonisierten ehemaligen Kolonialgebieten haben wir heute moderne nach westlichem Vorbild strukturierte (National-)Staaten mit teilweise unter äußerst fragwürdigen Bedingungen festgelegten Grenzziehungen, und gleichzeitig eine unter Umständen extrem ethnisch heterogene Situation, die sich in der Existenz zahlreicher Subgruppen manifestiert, die eine nur rudimentäre Anbindung an die Zentralmacht wollen und haben. In den Themenbereichen und Schlagworten wie Tribalismus, Sezessionskriege, Abspaltung, Autonomie- und Unabhängigkeitsbestrebungen, Befreiungsbewegungen, Aufstände, Cargo-Kulte, Erweckungsbewegungen, usw. stecken die aus solchen Gemengelagen resultierenden Konflikt- und Problemfelder. Gerade die Erforschung der Kolonialzeit, der Dekolonisierung und der heutigen postkolonialen Entwicklungen, aber auch die Entwicklungspolitik und Entwicklungshilfe birgt ein riesiges Potential an Inhalten, bei denen das konflikthafte Miteinander-in- Wechselwirkung-treten[1] von modernen und einfacheren gesellschaftlichen und politischen Organisationsformen beobachtet werden kann. Die Kolonialismuskritik[2] steht damit in Verbindung.
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 3.2
[2] Siehe Kapitel 1.3.3
3.6.5.2 Transnationalismus und Staat
Studien zu der Verbindung zwischen transnationalen Dynamiken haben innerhalb der Kultur- und Sozialanthropologie insbesondere zu einer sozialanthropologischen Erforschung von unterschiedlichen Formen von Staatlichkeit sowie der globalen Zirkulation von Personen, Ideen und Objekten[1] geführt. Untersucht wird dabei beispielsweise, wie ökonomische, soziale, politische oder religiöse Ideen und Wissenskomplexe in unterschiedlichen Lokalitäten handlungswirksam werden können; wie z. B. Modelle einer staatlichen Ordnung zirkulieren, angeeignet und durchgesetzt werden, oder wie in Behörden, Schulen, Gerichten, aber auch im Alltagshandeln der Bürgerinnen und Bürger staatlich sanktionierte Rechte und Pflichten ausgehandelt werden. Thema ist dabei auch, wie Vergemeinschaftungsprozesse oder strategisches Handeln sozialer Gruppen über Staatsgrenzen hinweg neue Formen sozialer Organisation hervorbringen. In der globalisierten Welt[2] ist Staatlichkeit wesentlich durch transnationale Prozesse beeinflusst, seien dies Migrationsbewegungen[3], Rechtsexport oder wirtschaftliche Verkoppelungen. Insofern bilden die Elemente Transnationalismus und Staatlichkeit in ihrer wechselseitigen Verschränktheit einen zentralen Fokus bei der Betrachtung von Staat in seinen Wirkungen.
Verweise:
[1] Siehe Kapitel 1.1
[2] Siehe Kapitel 1.2
[3] Siehe Kapitel 2.5
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