Rituelle Körperhaltungen als Tore in die andere Wirklichkeit/Inhalte

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Vorheriges Kapitel: 2.3 Das Erleben in der Trance mit den rituellen Körperhaltungen

2.4 Haltungen und transpersonale Erlebnisinhalte

verfasst von Susanne Jarausch
Abbildung: Gipfelheiligtum aus Kreta (aus dem Katalog "Im Labyrinth des Minos" 2000: 253)

Die rituellen Körperhaltungen lassen sich nach ihren Erlebnisinhalten[1], den transpersonalen Erlebnisräumen, die sich in der Trance öffnen, thematisch in verschiedene Gruppen zusammenfassen.

Zu den wichtigsten Bereichen zählen:

  • Heilen, Reinigung und Kräftigung
  • Wahrsagen
  • Reisen in die obere, untere und über die mittlere Welt
  • Metamorphose
  • Geburt, Tod, Wiedergeburt und Initiation
  • Feiern und Rufen der Geister
  • Erleben von Mythen
  • Weibliche und männliche Kraft
  • Erneuerung

Dieses Gipfelheiligtum aus Kreta, 19. Jh.v.u.Z. ist ein Beispiel für eine weibliche Heilhaltung. Sie wird Haltung der Chiltangeister genannt nach jenen weiblichen Geistwesen, welche von Schamaninnen in den Tälern von Uzbekistan zum Heilen gerufen werden. Beim Ritual sitzen die Schamaninnen mit eben dieser Armhaltung im Schneidersitz (Goodman 1989: 144).

Ist man vertraut mit den Erlebnisinhalten der Haltungen, kann man für ein aktuelles Anliegen das Reiseziel definieren und diejenige Haltung auswählen, die in den passenden Erlebnisraum führt.

Stehen Entscheidungen an, fragt man den Wahrsager um Auskunft, bei Krankheit oder Unausgewogenheit kann man den Bärengeist mit seiner erdigen, großväterlichen Energie oder auch die Chiltangeister, jene 41 weiblichen Geistwesen um Hilfe bitten. Bei einem Todesfall weist der Ritt zum Totenreich dem Verstorbenen den Weg, will ein Kind auf die Welt kommen, bereitet die Geburtshaltung die werdende Mutter vor.

Natürlich können immer auch Haltungen einfach ausprobiert werden — Touristen sind drüben immer willkommen — vorausgesetzt die Reise wird in einer Haltung des Respekts und der Achtung (nach den Prinzipien der Angemessenheit und Gegenseitigkeit[2] unternommen.

Vier Beispiele geben einen Einblick in die unterschiedlichen Erlebnisinhalte des Heilens, des Wahrsagens, der Seelenreise und der Metamorphose.

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 2.3.1
[2] Siehe Kapitel 2.2

Inhalt

2.4.1 Eine Begegnung mit dem Bärengeist

Abbildung: Schamane mit dem Bärengeist, Holzschnitzerei vom Stamm der Kwakiutl, Nordwestamerika, spätes 19. Jahrhundert (aus Lommel 1980: 85)

Von allen rituellen Körperhaltungen ist die Bärenhaltung die bekannteste. Auf den Kykladen allein hat man 34 solcher Figuren gefunden. Darstellungen der Haltung gibt es auf der ganzen Welt (1.2.2.1) von 6000 v.u.Z. bis heute.

Will man diese Haltung einnehmen, stellt man sich mit leicht gebeugten Knien hin oder setzt sich, vorzugsweise in den Kniesitz, die Hände ruhen dabei in lockeren Fäusten am Bauch, wobei die Knöchel der Zeigefinger einander berühren. Der Kopf ist leicht nach hinten geneigt, Mund und Augen sind geschlossen.

Die Haltung mit dem Bärengeist zählt zu den Heilhaltungen', wobei Heilen bedeutet, das Gleichgewicht und die Ganzheit wieder zu gewinnen und zu erhalten. Dabei wird nicht zwischen körperlichen, seelischen, geistigen oder sozialen Problemen unterschieden. '

Die Haltung des Bärengeistes vermittelt die großväterliche, erdige Energie des Bärengeistes, eines mächtigen Heilesr in verschiedenen Traditionen, die von den TeilnehmerInnen auf ganz persönliche Weise als heilsam erfahren wird. Oft erscheint der Bärengeist selbst und überträgt seine Kraft, was von dem Erleben tiefer Geborgenheit und eines genährt Werdens bis zum zerstückelt und wieder neugeboren Werden, ähnlich einer schamanischen Initiation, reicht.

„…Die Rassel war wunderschön, es ist eine Kindheitserinnerung aufgetaucht, wo ich in einem Waschbecken Murmeln herumgerollt habe. Ich habe gesehen, wie sie herumgerollt sind und war traurig, dass das Bild nur sehr kurz war. Ich krabble wie durch einen Tunnel, und alles ist weg, meine Trauer, mein Schmerz. Ich komme zu einer Bärenfamilie, es sind 13 kleine Bären und weit weg ist die Mutterbärin. Ich wollte nicht weg, aber die Rassel hat gesagt: „Rüben raspeln, Rüben raspeln!“ Dann habe ich gesagt: „Ich kann es!“ und bin weg von den Bären und fühle mich sehr stark. …Hinter mir war ein schwarzes Gefühl, und zwei schwere Pranken haben mich umarmt. Ich musste Vögel füttern, dafür bekam ich ein weißes Bärenfell geschenkt. Die 13 Bärchen sind auf mir herumgekrabbelt, und ich habe mich in einen Bären verwandelt.“

Dieser Erlebnisbericht aus einem Seminar mit Felicitas Goodman zeigt, wie sich ein durch eine schlimme Kindheit verursachter Schmerz zu lösen beginnt und Kraft und Stärke erfahren werden. Wie häufig berichtet wird, stellt sich der Bärengeist hinter die Teilnehmerin und umarmt sie. Als Gegenleistung für ihre Gabe an die Vögel bekommt sie die Bärenkraft in Form des weißen Fells geschenkt und verwandelt sich schließlich selbst in einen Bären, der manchmal die Welt völlig anders wahrnimmt, wie folgender Bericht verdeutlicht.

„….Ich habe mich in einen Bären verwandelt und mich völlig anders gefühlt. Meine Nase ist riesig geworden. Ich habe die Welt durch das Riechen wahrgenommen. Ich habe gerochen, wo es etwas zu fressen gibt, ja die Welt war ein Informationsnetz aus Gerüchen. Ich habe verstanden'', wo es lang geht, es war wunderbar, eine ganz andere Welt…“

Diese Teilnehmerin aus einem Seminar von S. Jarausch hat die gewonnene Klarheit für eine anstehende Entscheidung in den Alltag mitnehmen können.

Heilung bringt der Bär auf sanfte, manchmal auch auf heftige Art.

„…Der Bär ist von hinten gekommen und hat seine Arme um mich gelegt, und ich habe mich in mütterlicher Geborgenheit gefühlt. Dann hat er mich mit seinen T


2.4.1.1 Lied der Eskimo-Schamanen

Foto: Maske und Foto von Gabriele Wimmer-Weinzettl © 2002

Den Bären-Traum Tanzen

Wenn ein Mensch krank ist,

Verwandle ich mich in einen Bären -

Den Großen Bären der ersten Schöpfung.

Mein Pelz ist weiß -

Doch nicht, weil ich ein Eisbär wäre,

Ich bin der Bär der Ersten Schöpfung.

Ich lecke sorgsam meine Tatzen,

Umschließe den Menschen mit meinen Armen,

Drücke ihn an mich mit all seinen Schmerzen.

Dann blase ich über seinen Leib

Meinen heilenden Atem

Den Geist-Atem der ersten Schöpfung.

Bärenlied der Eskimo Schamanen Reindeer Chukchee

Waldemar Bogoras The Chukchee.

Dieses Lied war der Teilnehmerin eines Maskentanzes[1] nicht bekannt, als sich in ihrer Vision ein weißer Bär zeigte. Sie war vertraut mit dem Bärengeist, in vielen Trancereisen hatte sie sich mit seiner heilsamen Kraft schon verbunden. Aber diesmal war der Bärengeist von einer ganz anderen Kraft.

„… Ich habe einen weißen Bären gesehen, er war ungewöhnlich, von einer Kraft, die ich nicht beschreiben kann. Ich musste ganz tief atmen, so als wäre die Luft eine Substanz und meine Hände sind heiß geworden. Der Bär war weiß, aber eindeutig kein Eisbär.“

Beim Maskentanz selbst hatte dieser weiße Bär eine besondere Funktion. Er brachte Heilung für die anderen Tierwesen, indem er immer wieder mit seinen Tatzen über sie hinwegstrich und seinen Atem über sie blies.

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 2.5.2


2.4.2 Die Antworten des Wahrsagers

Foto: Nupe mallam, ein Wahrsager der in Zentralnigeria lebenden Nupe (Mair 1969: 94)
Foto: Steinfigur aus Tennessee (Frank H. McClung Museum © University of Tennessee, Knoxville)

In allen Gesellschaften werden Wahrsagerituale durchgeführt, und meist stellen sie einen wesentlichen Bestandteil der jeweiligen religiösen Systeme dar. Die Jäger haben den Ritus vor allem gebraucht, um mit seiner Hilfe das Jagdwild leichter finden zu können. Als sich dann auch andere Gesellschaftstypen entwickelten, wurde das Wahrsagen den veränderten Umständen angepasst, hat aber immer wichtigen gesellschaftlichen Belangen gedient.

Wahrsagen bedeutet nicht notwendigerweise ein Voraussagen der Zukunft, sondern eher eine Deutung und Auslegung der bestehenden Verhältnisse. Wahrsagerituale dienen dem Ratsuchenden dazu, wahr-zu-sagen, heller und klarer zu sehen, was ist, ihm etwas Wichtiges über sich selbst oder sein gesellschaftliches Umfeld zu enthüllen.

Es gibt unterschiedliche Haltungen des Wahrsagens, in denen man über verschiedene Bereiche des Lebens Auskunft bekommen kann. Die Antworten spiegeln einerseits den Charakter der jeweiligen Wahrsagehaltung wieder und sind gleichzeitig sehr persönlicher Natur. Sie können sich in klaren Bildern und Sätzen, in intuitivem Wissen und Verstehen zeigen.

In der Haltung des Nupe mallams, bekommt man Auskünfte, die sich auf das soziale Umfeld beziehen. Wie aus den Erlebnisberichten hervorgeht, erfahren die Menschen zu Beginn der Trance oft eine V-förmige Aufspaltung des Kopfes, eine Verwandlung in einen Wirbelwind oder die Wahrnehmung einer Spirale, ein Zeichen dafür, dass sich die nötige Energie aufbaut, um die Informationen ganzheitlich verarbeiten zu können. „Du sollst nicht schauen, sondern verstehen!“ war die Anweisung des Wahrsagers an eine Teilnehmerin.

Der Wahrsager von Tennessee, eine etwa 800 Jahre alte Sandsteinstatue aus einem Grab im Bezirk Wilson im Staate Tennessee, weist zwei Besonderheiten auf: eine spezielle Kappe und einen schwarzen Strich, der von einem Ohrläppchen über die Nase zum anderen Ohrläppchen gezogen ist. Zusätzlich hält er die Zunge zwischen den Lippen, was an die Reihe von Traditionen aus der amerikanischen NW-Küste und auch aus Asien erinnert, wo man von den Geistern Kraft über die herausgestreckte Zunge erhält. Wenn man beim Einnehmen der Haltung diese Besonderheiten nachmacht, verstärkt sich das Tranceerleben.

Der Wahrsager von Tennessee gibt uns in recht knapper Form Auskunft über persönliche Angelegenheiten, wirklicher Sachverständiger ist er in rituellen Dingen. Wenn ihm Fragen auf diesem Gebiet, wie z.B. Inhalt und Ablauf eines Maskentanzes, vorgelegt werden, fallen die Antworten ausführlich und detailreich aus.

Abbildung: Tonfigur aus Cholula, Mexiko, präkolumbianisch (Goodman 1989: 109)

Die Dame von Cholula wiederum gibt in einer weiblichen, fast mütterlichen Note ausführlich und geduldig Auskunft über persönliche Belange. Von dieser Haltung gibt es zwei kleine Tonstatuetten aus den Jahren um 1350 n.u.Z. aus Cholula, einem der wichtigsten religiösen Zentren Mittelamerikas. Sie tragen spitze Mützen und weite Krägen mit Quasten, sitzen auf einem Schemel und haben die Zunge zwischen den Lippen.

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2.4.3 Eine Reise in die untere Welt

Die älteste Kosmologie ist die des Weltenbaumes oder einer Weltenachse, über die der religiöse Spezialist in die obere[1] und untere Welt und über die mittlere Welt reisen kann.

Die Unterwelt hat einen reichen Schatz an Erlebnissen zu bieten. Sie ist genauso reich bestückt wie das gesamte Menschenreich. Sie enthält unsere Landschaften und Städte, die Tiere und Pflanzen, unsere Geschichte und Erinnerungen, unsere Mythen und auch unsere Totengeister. Sie hat nichts mit den finsteren Höllenorten zu tun, zu welchen die einstmals fröhliche, bunte und kraftspendende Welt in späteren Kulturen gemacht wurde.

Vielerorts in der Welt, in Sibirien, Australien oder in Südamerika ist die Unterwelt der Ort, wo man das Heilen lernt oder wohin der Schamane hinabsteigt, um eine verlorene Seele wiederzufinden, was ebenfalls eine Heilung darstellt. Bei der Arbeit mit den Haltungen steht dies nicht im Vordergrund, Heilung kann in einer Reihe von verschiedenen Haltungen stattfinden und ist vor allem ein Geschenk des mächtigsten aller Heiler, des Großvater Bär.

Wir reisen in die Unterwelt, um unsere Verwandten, die sogenannten Krafttiere zu treffen, wir begegnen Lehrern, die uns aus ihrem empirischen Wissen heraus lehren, kommen in Kontakt mit Verstorbenen, erfahren das Wissen der Pflanzen und Steine oder genießen es einfach mit dem Adler über die weite Landschaft zu fliegen.

Abbildung: Schamanische Reise: Stich von Johannes Scheffer (aus „Lappland“, 1675) (aus Hoppal 2002: 116)

Die Reisehaltung ist liegend, entweder am Rücken, wie die Darstellung der südamerikanischen Reisehaltung[2] nach M. Harner (1973: 83) zeigt, oder am Bauch, wie aus dem Stich von Johannes Scheffer hervorgeht. Der Sami-Schamane (noaide) liegt auf dem Boden und hat die Trommel auf dem Rücken. (Hoppal 2002: 116)

Auch ohne den Erlebnisinhalt der Haltung zu kennen, erfahren die Teilnehmer, wenn sie einer dieser Haltungen in Trance gehen, eine Bewegung nach unten. Sie reisen durch einen Tunnel, durch einen See, oder das Meer, über einen Fluss hinunter oder schmelzen in die Erde, um in den Bereich der Unterwelt zu gelangen.

Nach der Reise in die untere Welt schwingt öfters eine Wehmut nach, so als wäre man gerade endlich zu Hause gewesen, in einer Heimat der Freude und Kraft, die aus der Sicht der Alltagsrealität wieder hinter einem Schleier verschwindet. „Du kannst ja wieder kommen“ trösten uns die Geistwesen. Bei den Hopis wird erzählt, dass die Menschen aus einer unteren Welt in die jetzige aufgestiegen sind. Die Reise hinunter ist demnach eine Reise zu unserer Quelle, zu unserem Ursprung.

Verweise:
[1] Siehe Kapitel 2.1.1
[2] Siehe Kapitel 2.3.1


2.4.4 Das uralte Thema der Verwandlung

Abbildung: Felszeichnung eines Buschmanntanzes aus Südafrika (Goodman 1989: 156).

Spuren weicher Grenzen zwischen Mensch und Tier finden wir überall. Ägyptische, indische und keltische Gottheiten tragen Tierköpfe oder haben sogar Tierkörper. In der ganzen Welt gibt es Mythen darüber, bei den australischen Eingeborenen ebenso wie in den Märchen der Gebrüder Grimm und natürlich auch bei den Indianern.

Eine Sage der Nordamerikanischen Indianer z.B. erzählt von einem Jäger, der einst Gelächter aus einer Höhle hörte. Als er zum Eingang schlich und hineinschaute, sah er Tiere, die sich einen Riesenspaß daraus machten, sich in Menschen zu verwandeln.

Es ist zu erwarten, dass die Menschen ebenfalls die Fähigkeit haben, die Grenzen ihrer Art zu überschreiten. In der Literatur finden wir sogar Berichte über außergewöhnliche Schamanen, die nicht nur im visionären Erleben, sondern tatsächlich ihre Gestalt wechseln können.

Bei den heute noch bestehenden Jägerstämmen gibt es heilige Tänze, in denen Menschen sich in jene Tiere verwandeln, zu denen sie eine besondere Beziehung haben. Die Bewegungen der Tiere werden so lange sachkundig nachgeahmt, bis sich die Tänzer in der religiösen Trance in die dargestellten Wesen verwandeln. Auf dieser alten Felszeichnung aus Südafrika wird dargestellt, wie die Buschmänner die Bewegung der Antilope nachahmen, während die Frauen dazu klatschen. Einer der Männer ist in der Metamorphose begriffen und hat sich bereits bis zur Hälfte in eine Antilope verwandelt.

Felicitas Goodman hat diese ursprüngliche Technik der Metamorphose übernommen. Das Krafttier, dem man in einer Seelenreise begegnet oder der Tiergeist, der im Maskentanz zum Leben erwacht, kann in einem solchen Tiertanz zum Rhythmus der Trommel getanzt werden. Gibt man den Bewegungsimpulsen des Körpers Ausdruck, erfährt man in der Metamorphose die speziellen Fähigkeiten und Kräfte des Tiergeistes.

Die Tradition der Tiertänze hat sich in den Gartenbaugesellschaften (jene Völkerschaften, die neben der Jagd auch kleine Stücke Land bearbeiten) fortgesetzt. Reste davon gibt es noch in den Hirsch-, Büffel- und Schmetterlingstänzen der Pueblo- Indianer. Als Ausdruck eines neuen Kulturgedankens, in dem die Metamorphose im Vordergrund steht, finden wir nun eine Vielzahl an rituellen Körperhaltungen, die ebenfalls das Erleben der Verwandlung vermitteln.


2.4.4.1 Durch die Augen des Jaguars

Abbildung: „Der tätowierte Jaguar“, La Venta, olmekisch, 800 bis 600 v.u.Z. (Goodman 1989: 162).
Foto: Eine Bildurne aus Ton, 300 bis 600 n.u.Z. (Anton 1986: Fig.137)

Menschen, die neben der Jagd begannen, kleine Gärten anzulegen, erlebten, wie aus dem Samen die Pflanze wuchs, die wiederum Samen spendete. In jenen Gesellschaften wurde diese Beobachtung zum zentralen Kulturgedanken – dem des Wandels, der Metamorphose. Gleichermaßen erscheinen in der Geschichte eine Vielzahl von rituellen Körperhaltungen, die eigens dazu dienen, das Erleben der Metamorphose, des Übergangs von der menschlichen in eine nicht-menschliche Form zu ermöglichen.

Figuren aus der olmekischen Tradition, in welcher der Jaguar das wichtigste Krafttier war, zeigen meist deutliche Hinweise auf diesen Erlebnisinhalt. Z.B. weist der Kopf die Züge des Jaguars auf, die Hände liegen in Pfotenstellung oder es sind Krallen an den Füßen abgebildet wie bei folgender Darstellung:

Auch die beiden fast gleichen Figuren aus La Venta, eine mit einem Menschen-, die andere mit einem Jaguarkopf dargestellt, scheinen auszudrücken: „Wenn du in dieser Haltung eine Trance erlebst, verwandelst du dich in einen Jaguar und wirst auf diese Weise an seiner Kraft teilhaben.“

Da der Jaguargeist bei uns, anders als im olmekischen Ritual, nicht ohne weiteres präsent ist, verwandeln sich die TeilnehmerInnen eher selten in ihn. Die in der Metamorphose übernommenen Gestalten stammen hingegen aus dem gesamten Spektrum der Erscheinungsformen, angefangen von Vögeln, Säugetieren, Insekten, bis hin zu Wolken, Bergen und Sand.

Das Selbst, die erlebende Persönlichkeit bleibt trotz aller Verwandlungen unverändert. Es ist, wie einen Mantel zu wechseln, das beobachtende Ich bleibt dabei gleich.

Ein weiteres Beispiel einer sehr kräftigen Verwandlungshaltung ist der Olmekische Prinz :

Foto: „Principe de la Cruz del Milagro", Andesit, etwa 1200 bis 800 v.u.Z. (Anton 1986: Fig.36)

Haltungen aus anderen Kulturen, welche die Metamorphose nicht schon im Aussehen andeuten, lassen die Verwandlung genauso erleben, wie jene aus der olmekischen Kultur.


2.4.4.2 Magische Worte

In sehr früher Zeit

Als sowohl die Menschen wie auch die Tiere auf der Erde lebten,

konnte jemand ein Tier werden,

wenn er das wollte,

und ein Tier konnte ein Mensch werden.

Manchmal waren die Wesen Menschen,

dann wieder Tiere.

Es gab keinen Unterschied.

Alle sprachen sie dieselbe Sprache.

Das war die Zeit,

in der Worte wie Zauber waren.

Ein Wort, zufällig gesprochen,

konnte merkwürdige Folgen haben.

Es wurde plötzlich lebendig,

und was die Menschen wünschten,

das geschah –

alles, was man tun musste, war, es zu sagen.

Niemand kann das erklären:

So war es ganz einfach.

(Lied der Eskimo, Hetmann 1995: 196)


Nächstes Kapitel: 2.5 Die praktische Anwendung der rituellen Körperhaltungen


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