Das religiöse Ritual aus der Sicht Felicitas Goodmans/Die andere Wirklichkeit

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3.3 Die andere Wirklichkeit

verfasst von Susanne Jarausch

Foto: Eine etwa 3500 Jahre alte Terracottafigur aus Tlatilco/Mexiko (Anton 1986: Fig.5)

Aus allen Zeiten, von allen Orten gibt es zuverlässige Berichte über menschliche Gemeinschaften, deren Verhalten wir entnehmen können, dass für sie die Existenz einer anderen Wirklichkeit und die Dualität der Wirklichkeit an sich etwas Selbstverständliches war.

Man kann die doppelte Natur der Wirklichkeit am besten verstehen, indem man sich klarzumachen versucht, dass in dieser Weltsicht, beide Aspekte der Wirklichkeit nebeneinander existieren, zur gleichen Zeit und am gleichen Ort vorhanden sind. Es kommt auf den Bewusstseinszustand des Betrachters an, ob die gewöhnliche oder die andere Wirklichkeit wahrgenommen wird. Beim gewöhnlichen Sehen sieht man z.B. einen Baumstumpf im Wald, für den Schauenden, das heißt, den in der religiösen Trance Befindlichen, steht an der Stelle ein Zwerg.

Dass es um das Schauen geht, zeigt uns die kleine, etwa 3500 Jahre alte Terracottafigur aus Tlatilco/Mexiko. Es war wohl “künstlerische Absicht, eine in sich ruhende Persönlichkeit zu zeigen, deren Harmonie darin begründet ist, dass sie in beiden Dimensionen der Wirklichkeit zu Hause ist: Wenn sie sich zur einen Seite dreht, blickt sie in die gewöhnliche Wirklichkeit, wenn sie sich der anderen Seite zuwendet, erscheint ihr die andere, zweite Wirklichkeit. Und das ist es, worum es im menschlichen Leben geht.“ …schreibt Felicitas Goodman in ihrem Buch „Die andere Wirklichkeit“ (1994: 57).

In der Literatur gibt es zahlreiche Beispiele für das ekstatische Schauen. Buddha schaut das frühere Leben, das Sterben und die Wiedergeburt aller Wesen am Weg zu seiner Erleuchtung, Propheten des Alten Testaments kennen dieses Schauen, Jesus erschaute den Teufel nach seinem Fasten in der Wüste, Schamanenlehrlinge lernen diese Schau, sie lernen die Geistwesen zu sehen.

Wie diese andere Wirklichkeit gestaltet ist, welche Geistwesen sie bevölkern, steht in Zusammenhang mit der jeweiligen menschlichen Gesellschaftsform und spiegelt deren zentrale Kulturgedanken wieder.

Inhalt

3.3.1 Die andere Wirklichkeit im Wandel der Kulturen und Zeiten

Die andere Wirklichkeit, in welche die Seele oder ein Teil derselben entweder während einer Vision oder beim Tod eintritt, ist je nach Kultur- und Gesellschaftsform sehr verschieden.

• Wie aus dem ethnographischen Material aus dem zweiten Teil des Buches „Die Andere Wirklichkeit“ von F. Goodman hervorgeht, treffen die Sammlerinnen und Jäger an jenem anderen Ort den Geist oder Geistaspekt der ihnen aus der gewöhnlichen Wirklichkeit bekannten Tiere an. Sie jagen und lieben nach dem Tod genauso wie im Leben.

• Die Gartenbauern sehen nach ihrem Tod die ihnen aus ihrem Erdenleben vertrauten Siedlungen.

• Für die nomadischen Hirten der Wüste ist das Reich der Toten üppig und grün.

Ackerbauern, die im Leben gut waren, knien im Jenseits anbetend vor ihren Herrschern, wohingegen die Bösen auf immer und ewig in ihre verschiedenen Höllen verdammt sind.

• Die Städter schließlich sind mit einigen Verwandten und Freunden in einem Reich des Lichts vereint.

(Goodman 1994: 60)


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