Eigenart der Sozialwissenschaften/Eigenart des Sozialen

From Eksa
Jump to: navigation, search

Vorheriges Kapitel: 2.2 Natur- vs. Geisteswissenschaften

2.3 Eigenart des Sozialen

Verfasst von Friedhelm Kröll und Nicole Pesendorfer

Die Eigenart des Sozialen verlangt Sozialwissenschaften. Dabei können sozialwissenschaftliche Denkansätze näher an den Pol der Naturerklärung[1] oder näher an den Pol des Geistverstehens[2] heranrücken. Aber letztendlich sind Sozialwissenschaften weder Natur- noch Geisteswissenschaften[3].

Die Eigenart des Sozialenbezieht sich auf:

  • Die Eigenart des menschlichen Handelns als sozialem Handeln, d.h. in Interaktionen und Symbolische Strukturen eingelagert.
  • Die Eigenart der Verfestigung des Sozialen, der menschlichen Lebenswelt in Strukturen[4] und Prozessformen.
  • Die Besonderheit des Verhältnisses der Sozialwissenschaften zu ihrem Gegenstandsbereich (der menschlichen Vergesellschaftung), in den sie konstitutiv verflochten sind.
  • Sozialwissenschaften haben es nicht mit Naturgesetzen im engen Sinn zu tun, wenn mit Naturgesetz gemeint ist, dass die Prozessabläufe keine Alternativenzulassen, sich auch ohne praktisches Zutun der Menschen vollziehen.
  • Wenn Sozialwissenschaften es auch nicht mit Naturgesetzen zu tun haben, so sind sie doch mit Gleichförmigkeiten konfrontiert, mögen diese Gleichförmigkeiten in der Perspektive der Suche nach sozialen Gesetzmäßigkeiten, Strukturgesetzen oder Entwicklungstendenzen beleuchtet und entsprechend so benannt werden. Die Sozialwissenschaften haben es nicht nur mit regelmäßigem Verhalten zu tun, sondern mit einem von sozialen Regeln, Normen[5] geleiteten regelmäßigen Verhalten[6] und Handeln[7], häufig verdichtet in Symbolisierungen.
  • Verletzung einer naturwissenschaftlich-empirisch fundierten technischen Regelim Bereich des instrumentellen Handelns ist per se zum Scheitern, d.h. zum Misserfolg verurteilt. Demgegenüber wird die Verletzung einer sozialen Regel, d.h. die Abweichung von einer geltenden sozialen Norm durch Sanktionen geahndet, die nicht in Naturgesetzen verankert sind, sondern durch Konventionen (soziale Normen) geregelt werden.
  • Es kennzeichnet die Eigenart des Sozialen (die menschliche Vergesellschaftung), dass auch ihr Strukturen, Prozessverläufe und Zwänge einwohnen. Die Menschen sind nicht nur mit der Objektivität der Naturprozesse und deren Gesetzmäßigkeiten konfrontiert, sondern auch mit dem (stummen) Zwang gesellschaftlicher, normativ strukturierter Verhältnisse.
  • Allerdings sind die sozialen Prozess-strukturen im Unterschied zu denen der außermenschlichen Natur Resultat menschlichen Handelns - bzw. Unterlassens. Ihnen wohnt das Potential der Veränderung ein. Zu beachten ist das Potential der Abweichung, die Möglichkeit der Veränderung und Einleitung von sozialem Wandel[8].


Verweise:

[1] Siehe Kapitel 2.1
[2] Siehe Kapitel 2.1
[3] Siehe Kapitel 2.2
[4] Siehe Kapitel 3.3.1
[5] Siehe Kapitel 3.1.3
[6] Siehe Kapitel 3.1.1
[7] Siehe Kapitel 3.1.2
[8] Siehe Kapitel 3.5.2

Inhalt

2.3.1 Sozialwissenschaften vs. Naturwissenschaften

Foto: Atommodell (deutsches Museum München). Anika Möbus, [www.youthmedia.eu](http://www.youthmedia.eu), 2007
  • Naturwissenschaften haben es weitgehend mit symbolfreien Gegenstandsbereichen zu tun.
  • Naturwissenschaften als Theorie und organisierter Betrieb sind ein menschliches Artificium, d.h. sie gehören der Sozialwelt an. Ihr Gegenüber aber, die symbolfreie bereits konstituierte Natur, ist kein menschliches Artificium; wohl aber wird die Natur durch Praxis, Technik und Wissenschaft in die Sozialwelt hereingezogen.
  • Naturprozesse und Naturgesetze laufen auch dann ab, wenn sie nicht naturwissenschaftlich formuliert sind. Die Natur existiert unabhängig vom Menschen.
  • Die Physis und der nichtmenschliche Bios (inkl. Pflanzen und Tier) können nicht für sich selbst sprechen; vielmehr müssen die Naturwissenschaften Physis und den nichtsprechenden Bios (die Natur) mit Hilfe von Beschreibungen und Interpretationen, im Wege von Intervention und Manipulation erst zum Sprechen bringen.
  • Während die außermenschliche Natur sich nicht selbst interpretiert, treffen die Sozialwissenschaften auf einen anders georteten Gegenstandsbereich: die menschliche Vergesellschaftung, das soziale und kulturelle Leben. Dieses ist immer schon durchsetzt von Interpretationen. Gesellschaftliche Interpretationen von Natur und Welt verweisen die Sozialwissenschaften darauf, dass, wenn sie interpretieren, sie immer schon auf eine alltagsweltlich interpretierte Welt stoßen.

2.3.2 Sozialwissenschaften vs. Geschichtswissenschaften

Foto: Nationalbibliothek Wien. Louisa Manz, [www.youthmedia.eu](http://www.youthmedia.eu), 2007
  • Sozialwissenschaften richten ihr Augenmerk auf Erwartungs- und Ereignisfahrpläne, d.h. Gleichförmigkeiten, Regelmäßigkeiten, Regelwerke und die erwarteten Ereignisfolgen. Orientierungspunkt sind Strukturen[1] des Handelns und der Lebenswelt.
  • Geschichtswissenschaften setzen historiographisch an, d.h. sie richten ihre Interesse auf die Chronik der Ereignisse. Orientierungspunkt sind Situationen und Personen des Handelns.
  • Innerhalb der Sozialwissenschaften gibt es Ansätze, die sich auf eine Kooperation mit geschichtswissenschaftlichen Disziplinen zubewegen. So hat sich in der Soziologie die ältere historiographische Biographik in eine soziobiographische Forschungsrichtung umgewandelt.
  • Umgekehrt gibt es in den Geschichtswissenschaften Forschungsschwerpunkte, die auf eine Verschränkung mit sozialwissenschaftlichen Forschungsperspektiven hin ausgelegt sind.Die Eigenart des Sozialen bewegt sich zwischen den Momenten Kultur[2] und Natur, Praxis und Struktur[3], Geschichte und sozialer Statik und verlangt differenzierte Konzeptualisierungen.
  • Es lässt sich eine Verwandtschaft konstatieren zwischen geisteswissenschaftlich orientierter Sinngeschichte innerhalb der Geschichtswissenschaften und den mit biologisch- informationstheoretischen Modellen operierenden, objektivistisch- evolutionsparadigmatischen Erkenntnisstrategien innerhalb der Sozialwissenschaften, einschließlich der neueren Systemtheorie. (Auch wenn beide Seiten diese Verwandtschaft in der Denkweise vielleicht mit Entrüstung von sich weisen würden.)
  • Sozialwissenschaften, die sich der Eigenart des Sozialen[4] - der menschlichen Vergesellschaftung - im Medium von geschichtlicher Praxis und Kommunikation, widmen, sind gut beraten, sich gegenüber jeder Teleologie, d.h. Lehre von der inneren Zielgerichtetheit und Zielstrebigkeit der Evolution, agnostisch zu verhalten.
  • Sozialwissenschaften haben es immer auch mit Selbstaufklärung über menschliche Vergesellschaftung zu tun.
  • Sozialwissenschaften haben es mit Feldern (um einen Ausdruck von Pierre Bourdieu[5] zu verwenden), mit Kräftefeldern zu tun: mit sozialem Handeln und mit gesellschaftlichen Konstellationen und Entwicklungstendenzen, worin dieses Handeln statthat.
  • Sozialwissenschaften haben es ebenso mit Gleichförmigkeiten und Regelmäßigkeiten, Strukturen[1] und Prozessverläufen zu tun wie mit Spannungsfeldern, erzeugt von sozialen Kräften. Handeln und Norm[6] erscheinen deshalb als geeignete Schlüssel- und Einstiegsbegriffe zur Konturierung der Grundlagen der Sozialwissenschaften.
  • Sozialwissenschaften haben es, wie alle Wissenschaften, mit Regelmäßigkeiten und Gleichförmigkeiten zu tun - aber von spezifischer Natur: diese gehen stets hervor aus der gesellschaftlichen Praxis der Menschen.
  • Der Eigenart des Sozialen inne zu werden, ist es ratsam, die Philosophische Anthropologie heranzuziehen, der Bereich der Humanwissenschaften, wo sich Natur-, Geschichts- und Sozialwissenschaften verschränken und wo der Mensch in seiner Verschränkung als geschichtliches Natur- und Kulturwesen thematisiert wird.


Verweise:

[1] Siehe Kapitel 3.3.1
[2] Siehe Kapitel 3.2.2
[3] Siehe Kapitel 3.3.1
[4] Siehe Kapitel 2.3
[5] http://agso.uni-graz.at/lexikon/klassiker/bourdieu/06bio.htm
[6] Siehe Kapitel 3.1


↵ Zurück zur Übersicht


↑ Nach oben