Ethnographische Feldforschung in Organisationen/Qualitätskriterien

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Vorheriges Kapitel: 6.3 Spezifika der Feldforschung in Organisationen

6.4 Qualitätskriterien für "gute" Ethnographie

Verfasst von Gerlinde Schein und Gertraud Seiser

Eric Hirsch und David Gellner präsentieren in ihrer Einleitung zu "Inside Organizations" (2001: 9) eine Liste von Kriterien, die ihrer Meinung nach erfüllt sein müssen, um eine gute Ethnographie zu erreichen. Diese Liste soll hier wiedergegeben und kurz kommentiert werden, weil sie zum Nachdenken anregen kann, welche Qualifikationen von EthnographInnen gefordert sind.

Eine gute Ethnographie nach Hirsch/Gellner leistet folgendes:

1. Vermittelt Gefühl von „being there“

Dieses Gefühl bekommt der/die LeserIn nur dann, wenn die Beschreibung entsprechend "dicht" (Geertz 1987) ist und der Text auch über eine gewisse literarische Qualität verfügt.

2. Liefert Details und unerwartete Ergebnisse

Unerwartete Ergebnisse und Details lassen sich nur durch Offenheit im Forschungsprozess erreichen, durch einen ethnographischen Blick, der auch das Unerwartete wahrnimmt und durch Interviewverfahren, die den InterviewpartnerInnen die Möglichkeit lassen, neue Themen einzubringen und auszuführen.

3. Widerspiegelt Polyphonie der wirklichen Welt

In komplexen sozialen Situationen gibt es nie nur eine Sicht der Dinge. Gute Ethnographien reduzieren die Komplexität nicht, sondern lassen Vielstimmigkeit zu. Beobachtungen, die nicht in vorgefasste Modelle passen, werden weder verschwiegen noch als Irrationalitäten o.ä. abgetan.

4. Bietet Modell oder Theorie an

Um dem wissenschaftlichen Anspruch zu genügen, bleibt eine Ethnographie nicht auf der Ebene der bloßen Beschreibung, sondern versucht, zu Modellen oder Theorien zu kommen, die das Vorgefundene auch erklären.

5. Kontextualisiert Ergebnisse

Der qualitative und offene Zugang der Feldforschung fokussiert auf kleine Einheiten oder Gruppen. Deren Einbindung in einen weiteren räumlichen, zeitlichen und sozialen Zusammenhang muss aber zumindest umrissen werden.

6. Ist aufmerksam gegenüber Fragen von Macht und Ungleichheit

Organisations- und betriebsanthropologische Forschung findet nicht in macht- und hierarchiefreien Räumen statt. Allein durch die Notwendigkeit einer offiziellen Forschungsgenehmigung und die Tendenz von Führungskräften aus Wirtschaft und Verwaltung, die Außenrepräsentation unter Kontrolle zu halten, entsteht potenziell ein Managementbias. Führungskräfte und ForscherInnen wurden oft in denselben oder ähnlichen Bildungseinrichtungen sozialisiert, sie sprechen daher eine ähnlich Sprache und verwenden ähnliche Rationalisierungen. ForscherInnen tendieren daher dazu, die Argumentationen des Managements zu übernehmen und als wissenschaftliche Modelle oder Erklärungen auszugeben. Ein Beispiel dafür sind viele Studien der Human Relations School.

7. Achtet auf Differenz zwischen Sprechen und Handeln

Die Methode der teilnehmenden Beobachtung bezieht die Dimension des Handelns ganz explizit mit ein. Beobachtungsdaten auszuwerten und zu präsentieren fällt aber vielen schwerer, als Interviewpassagen zu zitieren. Es bedarf daher oft einer gezielten Anstrengung, das Handeln und die Differenz zwischen Handeln und Sprechen nicht aus den Augen zu verlieren.

8. Bleibt nicht auf der Ebene von „front-stage perfomance“

In der Kultur- und Sozialanthropologie wird der lange Feldaufenthalt, idealerweise ein ganzes Jahr, gefordert. Ein wesentlicher Grund dafür liegt darin, dass es einfach Zeit benötigt, die Ebene der Außenrepräsentationen zu verlassen und Einblicke hinter die Kulissen zu erlangen. Ziel einer guten Ethnographie ist immer auch die Darstellung von hinter den Selbstdarstellungen liegenden Zusammenhängen.

9. Achtet auf die verwendete Sprache

Wie Sprache von den verschiedenen handelnden Personen in einem konkreten Organisationskontext verwendet wird, ist eine wichtige Informationsquelle z.B. über berufliche Subkulturen, Über- und Unterordnungsverhältnisse, soziale Herkunft, Außen- und Innenbezug etc.

10. Reflektiert die Position des Ethnographen mit

Der/die EthnographIn ist immer in einer ambivalenten Position: Er/sie versucht sich in die Situation von verschiedenen Personen hinein zu versetzen, empathisch deren Standpunkte nachzuvollziehen, ohne die wissenschaftliche Position des immer wieder Distanzfindens aufzugeben. Der notwendige Spagat zwischen Nähe und Distanz erfordert die ständige Reflexion des eigenen Tuns.

11. Sucht nicht nur Bestätigung des bereits Gewussten

Das ethnographische Material darf nicht nur eine eklektische Illustration der eigenen schon vorgefassten theoretischen Position sein. Es muss so genau und umfassend präsentiert werden, dass FachkollegInnen auch andere Schlüsse daraus ziehen können.

Es geht also darum, den "native’s point of view" darzustellen, aber dabei nicht stehenzubleiben, sondern sich zwischen den detaillierten Beobachtungsdaten, den Mustern der Alltagspraktiken und der Interaktionen, allen Daten aus anderen Quellen, wie z.B. harte Informationen über Gehälter, hin und herzubewegen. Die Aufbereitung muss so sein, dass der Leser/ die Leserin eingeladen wird, an der Feldforschung teilzunehmen, ein Leser "...who is invited - indeed, required - to participate in the research act, to check the conclusions against the evidence, to test out, on the basis of the evidence provided alternative interpretations. This is one of the marks of a good ethnography" (Emmett/Morgan 1982: 142).


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