Ethnographisches Fallbeispiel - Das Spektrum religiöser Kultur in St Lucia - Karibik/Blumengesellschaften

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1.2 Die Blumengesellschaften La Rose und La Marguerite

verfasst von Manfred Kremser und Veronica Futterknecht
Foto: La Rose Prozession nach der Festmesse (Manfred Kremser © 1985)
Foto: La Rose Blumenfrauen in Festtagskleidung (Manfred Kremser © 1985)

Eine wichtige Rolle im Prozeß der Herausbildung neuer sozio-religiöser Gruppierungen seit den Zeiten der Sklaverei spielte die katholische Kirche. Unter ihrer Obhut entsprangen eine Reihe von religiösen Bruderschaften, die auch den Charakter von Selbsthilfeorganisationen aufwiesen. Vielleicht am bekanntesten wurden die brasilianischen „Confrarias" mit ihren üppigen Festlichkeiten, den sogenannten „Congadas". Unter französischem Kolonialeinfluß und im Umfeld der katholischen Kirche entwickelten sich auf mehreren karibischen Inseln sogenannte „Schutzpatron-Gesellschaften". Sie stellten für die Sklaven die einzige legale Form der Selbstorganisation dar.

Heute finden sich die derartige „Gesellschaften" nur noch auf der kleinen karibischen Insel St. Lucia. Unter dem Namen „La Rose" und „La Marguerite" bilden diese „Flower Societies" mit ihren Blumenfestivals ein Symbol kreolischer Kultur und gelten als Ausdruck nationaler Identität dieses erst seit 1979 unabhängig gewordenen Kleinstaates. Vor allem die „La Rose Festivals" zeugen von der Vitalität der kreolischen Kultur, die eine vielfältige Mischung aus afrikanischen, französischen und britischen Traditionen darstellt.

Erste Berichte dieser Blumenfestivals stammen bereits aus der Mitte des 18. Jahrhunderts — also aus einer Zeit, in der die Insel St. Lucia heftigst von Franzosen und Engländern umkämpft war und allein in diesem Jahrhundert 14 Mal den Besitz zwischen ihnen wechselte. Erst am Wiener Kongress 1814/1815 wurde St. Lucia der britischen Krone endgültig übertragen bzw. zuerkannt. So war es auch nicht verwunderlich, daß diese politische Rivalität in der expressiven Kultur der Blumengesellschaften ihren Ausdruck fand.

Bei ihren Seancen und großen Festlichkeiten imitierten sie zunächst ihre weißen Herren und deren monarchische Hofstaaten, was schließlich zur Persiflage der kolonialen Machtstrukturen führte. Die Blumengesellschaften, die wichtige Segmente in der Sozialstruktur der Insel bildeten, waren hierarchisch strukturiert:

An ihrer Spitze standen ein König und eine Königin, gefolgt von anderen Würdenträgern nach dem Muster der sozio-ökonomischen Struktur der kolonialen Gesellschaft — meist nach englischem Vorbild.

Nach der Königinmutter, den Prinzen und Prinzessinnen, Präsident oder Generalgouverneur kam eine große Anzahl von pseudo-legalem, militärischem und professionellem Personal. Darunter waren z. B. Magistrat, Sekretär, Rechtsanwälte, Richter, Polizisten, Soldaten, Doktor, Krankenschwestern, Matronen, Blumenfrauen und -mädchen verschiedenster Rangordnungen, Vorsänger, und nicht zuletzt die Musiker mit ihren Instrumenten: Trommeln, Geigen, Gitarren, Banjos, Quartros, Rasseln und Horn.

Beeindrucken heutzutage die prunkvollen Kostüme der Blumengesellschaften vor allem an ihrem großen Festtag — für „La Rose" am 30. August, dem Tag der heiligen Rosa von Lima; für „La Marguerite" am 17. Oktober, dem Tag der heiligen Maria Marguerita von Alacoque — so zeichnet die Erinnerung an die Anfänge dieser Schicksalsgemeinschaften ein anderes Bild:

Die aus Afrika gewaltsam verschleppten und versklavten Menschen wurden nicht nur ihrer materiellen Existenz beraubt. Sogar das Trommeln und Tanzen auf afrikanische Art wurde ihnen verboten, denn die Sklavenherren sahen darin eine ernsthafte Gefahr von Revolten. Um diesen Verboten zu entgehen, mußten die Sklaven in die äußere Hülle des weißen Mannes schlüpfen. Durch Imitation versuchten sie ihren Herren zu gefallen; den Schritt von der Parodie zur Persiflage gönnten sie sich selbst.

Zwischen den „La-Rose"- und den „La-Marguerite"- Gesellschaften entwickelte sich alsbald diese charakteristische Rivalität, die bis zum heutigen Tage das Verhältnis zwischen ihnen bestimmt und in fast allen ihren Liedern besungen wird.

Leitet sich diese Rivalität ursprünglich aus den feindlichen Positionen zwischen Engländern und Franzosen, später zwischen Bonapartisten und Republikanern sowie deren jeweiligen Sympathisanten und Gegnern unter den Sklaven ab, so entwickelte sie sich schließlich zu einer sozialen und kulturellen Rivalität. Diese kennzeichnet sich nun durch die jeweilige Herkunft aus unterschiedlichen sozialen Schichten innerhalb der kreolischen Gesellschaft, an deren Basis auch jeweils unterschiedliche Geschmäcker bezüglich der Produktion expressiver Kultur standen. Während „La Rose" das heiße Element in der Kultur verkörpert und daher die Farbe „Rot" und „Rosa" für ihre Kostüme, Dekoration, Fahnen, Transparente usw. auserkoren hat, so repräsentiert „La Marguerite" das kalte Element der Kultur; dementsprechend ist ihre Farbe „blau".

Foto: Ehrentanz des Präsidenten beim La Rose Festival in Babonneau (Manfred Kremser © 1982)

Die Mitglieder der „La-Rose"- Blumengesellschaft lieben nichts mehr als Bewegung und sinnliche Stimulation. Sie bauen ihre ganze Reputation auf ihre spektakuläre Performance auf: reden, musizieren, tanzen, singen und trinken. Wenige von ihnen besitzen viel Geld. Als Arbeiter verdienen sie nur niedrige Löhne. Viele sprechen nur Kreolisch, und die meisten können weder lesen noch schreiben.

„La Marguerite" hingegen zieht solche Leute an, die sozial reserviert sind — etwa praktizierende Katholiken und „ernsthafte" Eltern, die ihren Kindern eine solide und konventionelle Erziehung zu geben versuchen. Viele von ihnen besitzen kleine Unternehmen oder sind ganzzeitig beschäftigte Angestellte. Sie sprechen sowohl Kreolisch als auch Englisch und können immer lesen und schreiben. Man kann sagen, daß die Mitglieder der „La-Marguerite"- Gesellschaften der Mittelklasse von St. Lucia angehören.

„La-Rose"- und „La-Marguerite"- Organisationen polarisieren ihre Gesellschaft in zwei repräsentative Hälften . Egal, ob man Mitglied der einen oder der anderen Vereinigung ist, wird man in St. Lucia auf Grund von Verhalten, Glauben und Sittenkodex entweder als „La Rose" oder als „La Marguerite" identifiziert. Dieser Gegensatz läßt sich auf die Formel „Oralkultur versus Schriftkultur" reduzieren — sowohl im Hinblick auf deren jeweils spezifischen Modus kultureller Produktion als auch bezüglich ihrer sozialen Konnotationen .

Historisch gesehen waren diejenigen, die nach dem schriftkulturlichen Modus funktionieren, die weißen Herren, also die dominante Klasse in St. Lucia. Folglich wird dieser Modus immer mit dem Begriff der Macht und des hohen Ansehens assoziiert.

Der orale Modus hingegen, wie auch die Einstellungen und Konventionen, die er verkörpert, wurde abgewertet und mit der Unterschicht assoziiert. Aus diesen Gründen ist es nicht überraschend, daß diese beiden Organisationen in der Geschichte immer antagonistisch waren.

Während die „Marguerites" den Primat ihres Kodex durchsetzten, war die Reaktion der „Roses" darauf bedacht, den Wert ihrer eigenen Tradition mit Nachdruck zu behaupten.


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